Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Donnerstag, 20. August 2020

#14: Diagnosefindung: kein Trauma, aber DIS?

Als wir die Vermutung aufgestellt haben, dass wir eine (partielle) DIS haben könnten, wussten wir kaum von Kindheitstraumata. Ein paar Erinnerungen waren vorhanden, aber definitiv nichts, von dem ein Kind eine DIS entwickeln würde. Da es vielen Systemen ähnlich geht oder sie sich vor der Diagnose erst gar nicht an irgendwelche Kindheitstraumata erinnerten, dachte ich, ich schreibe einmal eine Art "Anleitung" für Menschen, die denken, sie könnten möglicherweise eine DIS haben, die aber keine Erinnerungen an (Kindheits)Traumata haben.
Das Beste, was man tun kann, ist tatsächlich, es bei einem Therapeuten anzusprechen.
Allerdings sollte man möglichst auf die Einstellung des Psychologen achten. Es gibt nämlich viele Psychologen, die behaupten, Systeme existieren gar nicht und wären ein soziales Konstrukt. Eine gute Anlaufstelle wäre wohl ein Traumatherapeut. Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie hat auf ihrer Seite eine umfassende Liste von Traumatherapeuten. Ebenfalls haben Hilfsstellen für Betroffene von Gewalt häufig solche Listen, ebenso wie die kassenärztliche Vereinigung des jeweiligen Bundeslandes. Der Verein 'Vielfalt e.V.' führt zudem eine (nicht vollständige) Liste über Therapeuten, die sich mit der dissoziativen Identitätsstörung speziell auskennen.
Ein System kann man nämlich, nach jetzigem Forschungsstand, ohne Trauma gar nicht sein. (Es gibt Systeme, die sagen, dass sie kein Trauma haben. Über diese sogenannten 'endogenen Systeme' haben wir hier schon einmal geschrieben.)
Man kann aber definitiv ein System sein ohne sich an Trauma zu erinnern. Es wird eine oder mehrere Personen geben, die diese Traumaerinnerungen haben, aber durch die Amnesie kann die Existenz dieser Personen nicht bekannt sein.

Es gibt allerdings auch viele ähnliche Störungen! Es gibt die partielle DIS, bei welchen ebenfalls andere Identitätszustände existieren. (Ein Post, der die pDIS behandelt, findet sich hier.) Dies sind allerdings ebenfalls dissoziative Störungen, welche durch Trauma ausgelöst werden.

Es gibt die emotional instabile Persönlichkeitsstörung (oft Borderline genannt), die starke Identitätsunsicherheiten mit sich bringt. Diese kann ebenfalls ähnlich wie eine DIS aussehen. Deshalb werden Systeme auch häufig damit fehldiagnostiziert.
Soweit ich weiß ist Trauma für Boderline keine definitive Voraussetzung, allerdings ist Trauma bei Menschen, die Borderline haben, wohl sehr stark verbreitet.

Es gibt aber beispielsweise auch Schizophrenie! Wir haben einen Freund, der Schizophrenie hat und haben in Gesprächen mit ihm schon mehrfach festgestellt, dass die Symptome sehr ähnlich klingen wie die der DIS. Die Ursache und somit das Gefühl sind allerdings sehr, sehr anders - es kann aber trotzdem verwechselt werden. Wir haben sogar schon mal mit einer Person geredet, die Schizophrenie hatte, aber erst mit einer DIS fehldiagnostiziert wurde.
Soweit wir wissen, wird Schizophrenie zwar durch Traumata begünstigt, allerdings sind Traumata keine Notwendigkeit dafür.
(Wir haben übrigens auch schon mal mit einer Person geredet, die eine PTBS und zusätzlich Autismus hatte, was als DIS fehldiagnostiziert wurde, da die Symptome in dem Fall einer dissoziativen Störung wohl oft sehr ähnlich sind. Wobei ich nicht genau weiß, wie daraus eine komplette DIS-Diagnose entstanden ist; aber es sei erwähnt.)

Weiterhin gibt es die 'maladaptiv Daydreaming Disorder' (zu Deutsch maladaptive Tagträumstörung - einen offiziellen deutschen Begriff scheint es nicht zu geben oder wir finden ihn einfach nicht), welche durch sehr intensive Tagträume gekennzeichnet ist, die teilweise auch nicht mehr von der Realität zu unterscheiden sind. Hier kann es durchaus sein, dass es so etwas wie eine „innere Welt“ mit verschiedenen Personen darin gibt, allerdings basiert diese auf Tagträumen und nicht auf einer Bewusstseinsspaltung.

Vermutlich gibt es noch mehr ähnliche psychische Erkrankungen, die wir nicht kennen.

An letzter Stelle möchten wir erwähnen, dass verschiedene Situationen im Leben starke Identitätsunsicherheiten oder -schwankungen mit sich bringen können.
Ein Beispiel wäre die Pubertät. Teilweise weiß man in dieser Lebensphase überhaupt nicht genau, wer man ist, man probiert oft verschiedene Sachen aus, und das kann sich durchaus so anfühlen, als wäre man zwei (oder mehr) verschiedene Personen.
Auch können verschiedene Lebensereignisse zu plötzlichen, starken Wesensveränderungen führen. Das kann sich ebenfalls wie ein Persönlichkeitswechsel anfühlen, ist aber eine normale Reaktion auf extreme Ereignisse. Wenn es einen belastet, wäre an dieser Stelle aber auf jeden Fall der Besuch bei einem Psychologen ebenfalls sinnvoll, um das Ereignis zu verarbeiten und die Wesensveränderung zu akzeptieren.

Ebenfalls erwähnenswert ist, dass man, wenn man tatsächlich traumatisiert ist, in der Regel auch Traumasymptome haben wird - selbst wenn man sich nicht an Traumata erinnert. Diese können allerdings sehr konfus sein. Bei uns waren es depressive Episoden, Selbsthass, Stimmungsschwankungen, Selbstverletzung und später kamen dann sehr spezifische Albträume dazu (Traumflashbacks), wegen denen letztendlich auch die PTBS diagnostiziert wurde. (Obwohl weiterhin keine Traumaerinnerungen vorhanden waren!)
Die Symptome können aber auch sehr anders aussehen. Häufig sind beispielsweise Bindungsstörungen (entweder, dass man erst gar keine Bindungen aufbauen kann oder dass man sie viel zu schnell aufbaut), chronische Schmerzen (oft von Verspannungen), Immunschwächen mit häufigen Erkrankungen, ein sehr geringes Selbstwertgefühl, ...
Wir persönlich achten immer sehr stark darauf, wie oft sich jemand entschuldigt. Es gibt viele Menschen, die sich ständig entschuldigen - nicht als Reaktion auf Fehler sondern schon im Voraus. ("Tut mir leid, wenn ich störe, aber darf ich dich was fragen?" und ähnliche Sachen.) Diese Personen sind natürlich nicht alle traumatisiert, aber es scheint sehr häufig zu sein.
Es gibt zudem bestimmt auch viele Traumasymptome, die wir nicht kennen, da sie sehr spezifisch auf das eigene Leben angepasst sind.

Zum Schluss sei gesagt: Wenn man etwas über sich nicht versteht, ist es generell immer in Ordnung zu einem Psychologen zu gehen! Dafür braucht man kein Trauma oder massive Probleme. Genauso wie man manchmal auch mit einer sehr leichten Erkältung zum Arzt gehen würde, weil sie einfach nicht weggeht, darf man natürlich auch zum Psychologen gehen, wenn es einem psychisch nicht so gut geht, ohne dass direkt eine komplette Lebenskrise vorliegen muss.

Es sei aber ebenfalls erwähnt, dass die DIS und auch andere schwerwiegende Störungen in der Regel nicht innerhalb einer Sitzung diagnostizierbar sind. Wir wurden beispielsweise von einem Therapeuten diagnostiziert, den wir seit 1.5 Jahren kannten - und das, obwohl er den Verdacht schon relativ früh hatte, auch erst, nachdem wir selbst zusätzlich den Verdacht aufgestellt hatten.
Die meisten Systeme werden erst in Kliniken diagnostiziert und ich vermute, dass es bei anderen genannten Störungen teilweise ähnlich ist. Wenn man die Möglichkeit dazu hat, könnte also auch ein Besuch in einer Psychiatrie/Akutklinik oder in einer psychiatrischen Institutsambulanz sinnvoll sein.

Montag, 10. August 2020

#12: Vier Seiten einer Aussage

Da ich ständig und ich meine wirklich ständig das 4-Ohren-Modell von Schulz van Thun benutze, um Dinge zu erklären, habe ich an dieser Stelle eine Zusammenfassung darüber geschrieben. Ich hoffe, ich erkläre es einigermaßen gut.
Die letzten drei Absätze sind eher so darüber, wie wir persönlich kommunizieren.

Jeder Satz, den man sagt, hat (zu unterschiedlichen Anteilen) verschiedene Aussagen: Sachinformation, Selbstoffenbarung, Beziehung zum Gesprächspartner und Aufforderung.
Nehmen wir einen Klassiker: eine Person sagt zum Koch: "Da ist ein Haar im Essen."
Die Sachinformation ist eben einfach, dass ein Haar im Essen ist.
Die Selbstoffenbarung ist alles, was man mit der Aussage über sich selbst aussagt. Zum Beispiel, dass es einem sehr wichtig ist, dass keine Haare im Essen sind (sonst würde man es vielleicht gar nicht erst ansprechen, sondern es einfach rausnehmen); in dem Kontext vielleicht, dass einem Hygenie sehr wichtig ist. (Wobei das nur Sachen sind, die ich da gerade reinlese. Es kann natürlich auch was vollkommen anderes sein.) Man sagt aber auch so Sachen über sich aus wie, dass man die deutsche Sprache beherrscht oder dass man sehen kann (sonst hätte man das Haar ja nicht gesehen).
Die Beziehungsebene beschreibt, was man von seinem Gesprächspartner hält. Dies könnte zum Beispiel sein: "Du bist ein schlechter Koch, richtig unhygienisch, etc." (Ihr kennt bestimmt Menschen, die absolut alles persönlich nehmen - sie hören vermehrt auf der Beziehungsebene.)
Es kann natürlich auch sein, dass die Beziehung positiv ist. Das kann ich am besten an einem anderen Beispiel erklären. Manchmal sage ich zu Menschen: 'du bist immer voll nett zu mir'. Auf der Beziehungsebene sage ich eigentlich: "Danke."

Die Aufforderung heißt eigentlich Appellebene, weil Appell ein tolles Fremdwort für Aufforderung ist. Ich mag allerdings keine Fremdwörter, wenn es gleichzeitig ein deutsches Wort gibt, das genau dasselbe beschreibt.
In unserem Beispiel könnte die Aufforderung sein: "Mach das weg" oder aber auch "Hol mir eine Serviette, da ich gleich dreckige Finger haben werde, wenn ich das da rausnehme" oder "kauf dir eine Kochmütze". Es gibt noch mehr Möglichkeiten, definitiv. Manchmal ist die Aufforderung klar; im Zweifelsfall fragt man eben nach. (Oder es ist gar nicht wirklich eine Aufforderung da und man muss sich eingestehen, dass kein Kommunikationsmodell perfekt ist.)

So. Die allermeisten Menschen "bevorzugen" eine Ebene. Das heißt, wenn sie etwas sagen, haben sie bei ihrer Aussage eine Ebene im Blick und gehen erstmal davon aus, dass der Gesprächspartner ihren Satz auch auf dieser Ebene versteht. Gleichzeitig nehmen sie Botschaften auch zumeist auf dieser Ebene wahr.
Auf welcher Ebene man spricht und versteht, liegt übrigens an der Sozialisierung und teilweise auch an der Genetik.

Wir selbst sind Sachebenenmenschen. Manche mehr, manche weniger, aber größtenteils eben. Skye vermutlich am meisten. Deshalb wird Skye ständig falsch verstanden. Sie sagt nämlich nicht, dass ihr kalt ist, sondern: "Warum ist das Fenster eigentlich offen? Mir ist kalt."
Eigentlich ist das nur eine Sachinformation (als Frage, um zu überprüfen, ob andere Menschen auch wollen, dass das Fenster zu ist); ein Beziehungsebenenmensch hört jetzt aber in vielen Fällen, dass sie das voll blöd findet, dass er das Fenster nicht zugemacht hat. (Das klingt in diesem Kontext sehr negativ - aber die allermeisten Menschen sind Beziehungsebenenmenschen und würden diesen Satz dadurch niemals so formulieren, weil sie ein inhärentes Verständnis davon haben, wie das bei anderen Menschen ankommt. Dadurch funktioniert Kommunikation im Allgemeinen einigermaßen gut.)

Früher haben wir nicht wirklich verstanden, warum Menschen uns ständig falsch verstehen, aber dann hatten wir zwei Jahre lang Kommunikationspsychologie-Unterricht, wo wir diese ganzen hübschen Kommunikationsmodelle gelernt haben und dann wieder und wieder Aussagen anhand ihrer einzelnen Ebenen interpretieren mussten. In der Zeit war ich ziemlich viel draußen. Am Anfang konnte ich die Beziehungsebene absolut nicht, aber irgendwann lernt man auch so was. Dadurch kann ich das inzwischen ziemlich gut, da ich in meinem Kopf laufend Kommunikationsebenen scanne; teilweise haben Innenpersonen dieses Wissen dann auch bekommen, andere können das weiterhin nicht.

Ich nehme inzwischen also laufend alles an, was mein Gesprächspartner meinen könnte und versuche auf jede einzelne Ebene zu reagieren. Dadurch sage ich meistens ziemlich viel, aber es entstehen wenigstens bedeutend weniger Missverständnisse.

Samstag, 8. August 2020

#11: Systeme außerhalb der DIS: endogene Systeme

Es gibt Menschen, die sagen, dass man ein System sein kann ohne Trauma erlebt zu haben.
Keine Psychologen, keine Wissenschaftler, einfach nur selbsternannte Systeme, die keine Erinnerungen an Trauma oder Symptome, die auf Trauma hindeuten würden, haben.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass es sich hier ebenfalls nur um unsere ganz persönliche Meinung zu dem Thema handelt. Sie hat keinerlei wissenschaftliche Basis! (Ich weiß auch nicht, ob irgendein Wissenschaftler sich überhaupt jemals mit diesen Systemen beschäftigt hat.)

Unsere Ansicht hier ist (teilweise) sehr zwiegespalten. (Mit teilweise meine ich, es kommt darauf an, wen man fragt.)
Wir haben aber (fast) alle einen Grundsatz: Man spricht Menschen ihr Erleben nicht ab.
Also erzählen wir.

Endogene Systeme sind Systeme, die in ihrem Leben kein Trauma erlebt haben. Da sie kein Trauma haben, haben sie ebenfalls keine Amnesie - zumindest habe ich bisher kein endogenes System mit Amnesie getroffen.
Meiner Erfahrung nach sind diese Systeme meistens relativ groß. Nicht polyfragmentiert (über 100 Innenpersonen), aber deutlich größer als ein durchschnittliches DIS-System (15 Innenpersonen).
Meine Erfahrungen basieren auf einem Discordserver, auf dem wir (halbwegs) aktiv sind, der sowohl endogene als auch traumagene (also solche, die Trauma erlebt haben) Systeme akzeptiert.

Im Allgemeinen sind endogene Systeme in der Systemcommunity extrem ausgeschlossen und es scheint eine weitverbreitete und -akzeptierte Meinung zu sein, dass sie nicht existieren. Dass sie also entweder traumatisiert sind ohne es zu wissen, irgendwelche Symptome falsch deuten (und in echt kein System sind, sondern irgendeine andere psychische Erkrankung haben) oder dass sie ganz einfach lügen.
Es gibt endogene Systeme, die der Meinung sind, bei ihnen hat die Persönlichkeitsintegration als Kind einfach so nicht geklappt und solche, die ihr Vielesein auf eine andere psychische Erkrankung schieben. Zudem gibt es endogene Systeme, die ihr Vielesein durch Spiritualität erklären - Beispiele hierfür wären die Ansicht, dass das Vielesein durch ein Erinnern vergangener Leben entsteht (alle Lebenswege sind in einem Körper vereint) oder Systeme, die behaupten, ihre Anteile wären aus anderen Galaxien (oder Ähnlichem) gekommen und hätten sich an ihre Seele gebunden (sogenannte seelengebundene Systeme).
Zudem gibt es eine Praxis im Buddhismus namens Tulpamancie (ich hoffe, das heißt auf Deutsch so) bei der „Anteile“, sogenannte Tulpas, willentlich erschaffen werden. Diese Tulpas unterstehen allerdings der Kontrolle des Erschaffenden.

Letzteres werden wir hier nicht behandeln, weil es in unseren Augen etwas fundamental anderes ist.
Endogene und traumagene Systeme haben eins gemeinsam: sie haben mehrere Innenpersonen, die unabhängig von einander existieren und keinen kontrollierenden Einfluss übereinander haben (mit der Ausnahme von Wächtern!).
Tulpas existieren nicht unabhängig von einander. Der 'Host' erschafft alle Tulpas selbst und vor allem kontrolliert er sie auch. Das heißt, er kann willentlich ein Tulpa erschaffen, wenn er eins haben möchte und es auch willentlich wieder löschen, wenn er es nicht mehr haben möchte. Er kann außerdem bestimmen, wann welches Tulpa draußen ist und wann nicht. Da sehe ich persönlich den Unterschied zu Rollenspiel nicht und demnach ist es für mich auch kein System. Wenn ich trainiere, dass ich mich in Situation X auf eine bestimmte Weise verhalten möchte, die nicht meiner eigenen Persönlichkeit entspricht, dann kann ich das lernen. Vielleicht fühlt es sich an wie eine andere Person - aber ich habe mich willentlich entschieden und mir Gedanken darüber gemacht, wie diese Person funktioniert. Man kann dem ganzen einen hübschen Namen geben, aber es ist und bleibt Rollenspiel im Namen des Buddhismus. (Und damit ist absolut nichts falsch. Wenn einem das hilft, dann bitte. Aber es ist eben etwas anderes als ein System.)

Aber wie können Systeme ohne Trauma überhaupt existieren, wenn der wissenschaftliche Konsens ist, dass Systeme aus Trauma entstehen?
(Und nochmal an dieser Stelle: das ist unsere persönliche Meinung, die rein gar keine wissenschaftliche Basis hat!)

Nun, mehrere Sachen: Forschungen im Bereich der DIS (etc.) lohnen sich (finanziell!) nicht, wodurch die meisten von ihnen vermutlich durch Spendengelder finanziert werden.
Aber wer zur Hölle sollte dann Forschungen im Bereich 'Systeme ohne DIS' machen wollen? Es lohnt sich finanziell nicht und man hilft nicht mal jemandem, weil es den Personen nicht schlecht geht. Oder eben zumindest nicht „aufgrund“ ihres Vieleseins/irgendeines ursächlichen Traumas.
Aber das ist mehr so eine 'warum guckt man sich die nicht mal wissenschaftlich an'-Antwort.

Ansonsten ist es natürlich so, dass das Gehirn in der Lage ist diesen Zustand von Gespaltenheit in einer Person aufrecht zu erhalten - ansonsten könnte die DIS überhaupt nicht existieren.
Natürlich muss es einen Grund geben, warum eine Person nicht - wie biologisch vermutlich sehr geplant - zu einer Einzelidentität integriert. Nichts passiert 'einfach so'. Ich finde es aber persönlich sehr schwierig zu glauben, dass es einen einzigen Grund für Resultat X geben soll und ohne diesen Grund kann Resultat X auf keinem einzigen Weg erreicht werden.
Ja: die Integration der Persönlichkeitszustände ist etwas neuronales. Aber warum, wenn das Gehirn im Angesicht von Trauma in der Lage ist, seine neuronale Entwicklung dahingehend zu verändern, dass verschiedene Identitäten entstehen, warum sollte es dazu nicht auch zum Beispiel durch eine Genmutation, die verändert, wie sich das Gehirn in einem bestimmten Aspekt entwickelt, dazu in der Lage sein?
Die Forschung™️ ist nichts Heiliges, das sich nie irren kann. Wissenschaftler übersehen Dinge. Jeder übersieht Dinge. Das ist etwas ganz normales. Es gibt viele 'aktuelle Forschungsstände', von denen sich Jahre oder Jahrzehnte später herausstellt, dass sie falsch waren oder zumindest unvollständig.
Und wenn Menschen sagen, sie erleben etwas - wer sind wir dann, es ihnen abzusprechen?

Aber, und an dieser Stelle folgt ein großes Aber:
Das heißt noch lange nicht, dass jedes selbsternannte endogene System, das sich nicht an Trauma erinnert, kein Trauma hat oder ein System ist.

Zuallererst ist der Sinn einer DIS, das Trauma vor dem Host und sämtlichen Alltagspersonen zu verbergen. Man erinnert sich also unter Umständen gar nicht dran!
Zwar ist es in der Regel so, dass man trotzdem Traumasymptomatik aufweist, aber erstens weiß ich nicht, ob dies immer der Fall ist und zweitens ist Traumasymptomatik sehr individuell und wird unter Umständen gar nicht als solche erkannt. Ich kenne so einige Menschen, die von ihren Eltern/einem Elternteil wie Dreck behandelt wurden und starke psychische Einschränkungen haben, aber - ohne jemals überhaupt mit einem Psychologen darüber geredet zu haben - die Möglichkeit einer Traumafolgestörung vehement ablehnen. Und gerade wenn man nicht mal Erinnerungen an ein potentielles traumatisches Ereignis hat, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass man dieser Vorstellung nur noch abgeneigter wäre.

Zweitens: es besorgt mich extrem, dass die Mehrheit der endogenen Systeme, mit denen ich rede, sich altersmäßig mitten in der Pubertät befinden. Einer Phase, in die Persönlichkeit ohnehin stark schwankt und man gar nicht so genau weiß, wer man eigentlich ist und sich mal so fühlt und mal so. Ich glaube, da ist es durchaus möglich, mal etwas falsch zu interpretieren; gerade dann, wenn man in seinem Umfeld vielleicht eher ausgegrenzt ist und auf der anderen Seite eine Systemcommunity hat, die (fast) jeden ziemlich flauschig behandelt. (Man möchte gerne dazugehören und überinterpretiert dadurch seine pubertätsbedingten Identitätsunsicherheiten.)

Drittens: es ist immer möglich, Dinge, die man erlebt, falsch zu interpretieren. Das ist nichts schlimmes und passiert jedem mal. Auch wenn es verdammt schwierig ist und ich mich heuchlerisch fühle, das zu sagen, weil es mir selbst so unglaublich schwerfällt: man muss offen dafür sein, Fehler gemacht zu haben. Niemand ist perfekt und niemand muss sich selbst immer genaustens verstehen.

Was die spirituellen Systeme angeht, glaube ich nicht daran, dass es möglich ist, mehrere Seelen in einem Körper zu vereinen. Ich glaube noch nicht mal an die Existenz von Seelen.
Ich glaube aber, dass man sich das einreden kann, weil es eine schönere Erklärung ist als die Realität einer potentiellen DIS. (Und bei einer DIS kann es immerhin Innenpersonen geben, die sich als Götter oder generell außerweltliche Wesen identifizieren!)
Stört mich das deswegen? Nein. Ich glaube auch nicht an irgendeinen Gott oder irgendeine Göttin, aber ich sehe, dass der Glaube Menschen Hoffnung gibt.

Andere Menschen haben nichts mit mir zu tun.
Wenn ihnen etwas hilft, ist es ihr gutes Recht, es zu nutzen, solange es niemand anderem schadet.
Und ich werde mich nicht dazu herablassen, zu sagen, die Existenz solches Gedankenguts würde die DIS für Nicht-Betroffene unglaubwürdig machen.
Ich traue Menschen Denkvermögen zu und wenn sie ihres nicht nutzen wollen, ist das nicht die Schuld einer Religion oder irgendeines spirituellen Gedankengangs.
Wenn mir jemand nicht glaubt, dann ist das ganz alleine seine Entscheidung.

Ich würde trotzdem jedem selbsternannten endogenen System nahelegen, mal in Therapie zu gehen und sicherzustellen, dass da wirklich kein vorhandenes Trauma (oder eine gänzlich andere Störung) vorliegt.
Man kann sich noch so schöne Dinge einreden. Wenn da Trauma ist, dann wird es eines Tages zum Vorschein kommen und sich lautstark bemerkbar machen. Es wird einschlagen wie ein Blitz und alles, alles auf den Kopf stellen und durcheinander wirbeln.
Vielleicht möchte man so etwas lieber in einer Phase feststellen, in der man noch relativ stabil ist, als gerade dann, wenn alles unter und vor und hinter und neben und über einem zusammenbricht. 

Mittwoch, 5. August 2020

#10: Tell me about your dreams. We can make them memories.


make sure nobody sees you leave,
hood over your head, keep your eyes down.
tell your friends you're out for a run -
you'll be flushed when you return.
take the road less traveled by,
tell yourself you can always stop.
what started in beautiful rooms,
ends with meetings in parking lots.

Heute ist ein trauriger Tag.
Dabei war er gar nicht so schlecht. Ich durfte einen Menschen kuscheln, den ich mag. Und gerade darf ich in meinem eigenen Bett einschlafen.
Und trotzdem ist heute ein großes Loch in meinem Herzen.

Menschen denken oft, Täter sind Monster. Wenn man sie ansieht, sieht man direkt, dass sie böse sind. Allerspätestens, wenn man sie besser kennenlernt.
Bei manchen Menschen mag das sogar stimmen. Aber viel öfter sind Täter ganz nette Menschen, von denen man es nie erwartet hat.

Und deshalb ist heute ein trauriger Tag.
Weil ich den Menschen vermisse, der mir gezeigt hat, wie schön das Leben sein kann.
Um es dann vor meinen Augen zu zerreißen.

and that's the thing about illicit affairs
and clandestine meetings
and longing stares:
they're born from just one single glance,
but it dies and it dies and it dies,
a million little times.

Wir hatten mal sehr große Probleme. Traumasymptome, ohne Traumaerinnerungen. Dissoziationssymptome, ohne Worte dafür.
Kein Psychologe hat verstanden, was genau falsch bei uns ist.
Und dann haben wir einen Psychologen bekommen, der sehr überzeugt war: das ist eine PTBS. Selbst wenn wir uns nicht erinnern. Es ist eine PTBS mit Albträumen statt Flashbacks.

Also haben wir Trauma-Stabilisationstherapie gemacht. Richtige Traumatherapie geht natürlich schlecht, so ganz ohne Erinnerungen.
Und Skye hat aufgehört, sich aufzuschneiden. Und ich habe gelernt, mit Menschen zu reden. Und wir haben schließlich auch gelernt, dass man uns besser als Müll behandeln kann und sollte und haben uns dann von Skyes Freund getrennt und im Endeffekt sogar den Kontakt beendet.
Wir haben gelernt, dass Berührungen grenzunüberschreitend sein können. Und dann schön.
Ein ganzer perfekter Monat.
Voller Wunder.
Nach einem ganzen Jahr Therapie.

take the words for what they are:
a dwindling, mercurial high,
a drug that only worked
the first few hundred times.

Jetzt sitze ich vor einem Scherbenhaufen.
Denn in meinen Gedanken sind dieser Therapeut und die Person, die uns vergewaltigt, gefoltert und belogen hat, zwei verschiedene Menschen.
Aber manchmal trifft mich die Erkenntnis: dass all das bloß ein Mensch in sich vereinen kann. Und dann weine ich um vier Uhr morgens schlaflos in den Armen meines Freundes, der mich viel zu sehr liebt, um mir jemals wehzutun und weiß nicht mehr, ob er mich nicht auch einfach missbrauchen wird.
Und in die Stille frage ich, ob Blyth mich jemals lieb hatte. Aber das kann mir niemand beantworten.
Aber wie sollte jemand Liebe für jemanden empfinden, den er missbraucht, nur um ihn wegzuwerfen und abzustreiten, dass es jemals mehr als eine einfache Freundschaft gab?
Nur wie kann es denn sein. Dass mir jemand so sehr geholfen hat, so viel Zeit aufgewandt hat, nur damit es mir besser geht, wenn er mich nicht zumindest ein bisschen lieb hatte.
Egal wie ich es drehe und wende, ich verstehe es einfach nicht.

and that's the thing about illicit affairs
and clandestine meetings
and stolen stares:
they show their truth one single time,
but they lie and they lie and they lie,
a million little times.

Also vermisse ich den Blyth, den ich kannte, bevor er anders geworden ist. Der mein Lieblingslied gelernt hat auf Gitarre zu spielen und mir ein ganzes, eigenes Konzert gegeben hat.
Und ja. Ich weiß, auch das ist kein Therapeutenverhältnis.
Aber die richtige Geschichte wäre viel zu lang für diesen Text.
Sagen wir einfach, das Verhältnis war etwas zwischen Therapie und Freundschaft - vor dem Missbrauch.

and you wanna scream:
don't call me kid,
don't call me baby.
look at this godforsaken mess that you made me.
you showed me colours you know i can't see
with anyone else.

Viel zu oft will ich ihn anschreiben.
Am Anfang dachte ich wirklich, der Missbrauch war ein Versehen. Ich dachte wirklich, er wusste einfach nur nicht, dass ich das nicht wollte und wenn ich ihm jetzt erzähle, dass ich davon traumatisiert bin, bricht seine Welt zusammen.
Aber seitdem hat er abgestritten, dass jemals etwas zwischen uns war. Dass ich mir das einbilde, weil ich wollte, da wäre etwas gewesen; das hat er gesagt.

you taught me a secret language i can't speak
with anyone else.

Also bin ich traurig.
Weil ich einen Menschen verloren und einen Albtraum bekommen habe.
Und ich immer noch zurück will.

and you know damn well
for you i would ruin myself,
a million little times.

Montag, 3. August 2020

#9: Systeme außerhalb der DIS

Wir reden oft über DIS und Systeme als wäre das ein Synonym, aber die Wahrheit ist, dass es mehr Systeme gibt als nur DIS-Systeme.
Wir reden über die DIS, weil das ist, was wir haben, aber ganz am Anfang unserer Diagnose war uns nicht bewusst, dass wir Amnesie erleben, also haben wir diese DIS-Videos gesehen und dachten: das ist genau, was wir haben! Nur ohne Amnesie.
Gibt es das denn ohne Amnesie?

Ich weiß nicht mehr wie lange wir googlen mussten, um darauf eine Antwort zu erhalten, aber definitiv zu lange. Aber ja: sie existiert. Sie läuft momentan noch unter dem großen Katalog der 'dissoziativen Störungen, nicht näher spezifiziert' und ist dort Teil der DSNNS1, welche allerdings noch ein weiteres Störungsbild umfasst; was uns zum ICD-11 führt.
Das ICD-11 ist eine überarbeitete Version des gerade geltenden Diagnosekatalogs (ICD-10) und wird 2022 eingeführt. Im ICD-11 ist Amnesie kein notwendiges Merkmal für die DIS mehr. Stattdessen lauter der Wortlaut nun: Typischerweise gibt es Episoden von Amnesien, die schwergradig sein können.
Das lese ich als: meistens gibt es Amnesien, aber nicht immer.

Zusätzlich wird die 'partielle dissoziative Identitätsstörung' eingeführt, welche momentan ebenfalls in der DSNNS1 enthalten ist. Der Begriff der DSNN1 ist somit hinfällig und wird abgeschafft.
Bei der partiellen DIS ist die Spaltung zwischen den Identitätszuständen weniger ausgeprägt als bei der DIS. Während es bei der DIS mehrere Anteile/Innenpersonen gibt, die abwechselnd die Kontrolle über den Körper übernehmen, gibt es bei der partiellen DIS einen "Hauptanteil", der von anderen, abgespaltenen, Anteilen beeinflusst wird - diese übernehmen jedoch nicht die Kontrolle über den Körper.
Leider wissen wir nicht viel darüber, da wir kaum Betroffene kennen, allerdings empfinden wir es trotzdem als wichtig, darüber zu sprechen, um zu verdeutlichen, dass Systemsein nicht automatisch bedeutet, eine DIS zu haben.

Von diesen Störungen abgesehen, gibt es Menschen, die sagen, man könne ein System sein ohne Trauma erlebt zu haben (sogenannte endogene Systeme). Ich finde jedoch, diese Thematik verdient ihren eigenen Post, deshalb belassen wir es vorerst bei der Erwähnung.