Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Freitag, 9. Oktober 2020

#20: Platzeinnahme

Ich hasse mich ein wenig dafür, diesen Post zu schreiben, weil ich die Gedanken hasse, die ich habe, aber gleichzeitig empfinde ich es als wichtig, darüber zu sprechen, weil ich vermute, dass es vielen in anderen Situationen ähnlich geht und es auch eigentlich gar keinen Grund gibt, sich dafür zu hassen.

Neulich haben wir dem Teil unserer Familie, mit dem wir noch Kontakt haben, davon erzählt, was unser Vater gemacht hat (unser Vater war Haupttäter bei unserem Ursprungstrauma). Sie haben uns sofort alle geglaubt, womit wir überhaupt nicht gerechnet hatten.

Nachdem wir unserer Schwester einen Katalog an Fragen beantwortet hatten, fing sie an, darüber zu reden, dass sie sich an Dinge erinnerte.
Zuerst waren das sehr harmlose Sachen, die auch sehr viel Sinn machten. Zum Beispiel, dass man ein fremder Mann abends in unsere Wohnung gekommen war, um irgendetwas mit unserem Vater zu besprechen. Oder dass sie uns mal mit unserem Vater zusammen von irgendwo abgeholt hatte, wo sie noch so dachte, dass dort ja aber gar keine Freunde von uns wohnen und sie es dann damit abgetan hatte, dass wir vielleicht eine neue Freundin haben oder jemand umgezogen ist.

Für den nächsten Teil muss ich dazu sagen, dass unsere Schwester ihre halbe Kindheit im Krankenhaus verbracht hat und zahlreiche Operationen und andere Eingriffe hatte, dementsprechend also ebenfalls traumatisiert ist. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass sie vor ein paar Jahren eine Traumatherapie angefangen hat, die mittlerweile seit einiger Zeit abgeschlossen ist und dass sie nahezu keine traumabedingten Probleme mehr im Alltag hat.

Plötzlich erzählte sie uns, dass sie sich auch an andere Sachen erinnerte. Wir hatten ihr erzählt, dass ein Großteil des Missbrauchs in einem großen weißen Haus mit schwarzen/dunkelgrauen Ziegeln und einem großen Garten, durch den ein Steinweg zur Eingangstür des Hauses führte, stattgefunden hatte. Man könnte es wohl fast schon Anwesen nennen - die Familie, die dort gewohnt hatte, war sehr reich gewesen. Sie hatten außerdem eine Tochter gehabt.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie sie mit unserem Vater vor dem Haus gestanden hatte, wo sie uns hingebracht hatten, und dass er angefangen hatte zu weinen, als sie weggingen.
Dieses Bild macht hier kollektiv alle wütend und wir wird schlecht dabei. Es passt nämlich nur allzu gut in ihr Narrativ, dass es ihm leidtun muss. Sie hat es uns selbst gesagt: sie wollte ihn damit, was er getan hat, konfrontieren und wir hatten sie gefragt, was sie sich denn davon erhofft. Sie meinte: "Dass er dann anfängt zu weinen und es ihm voll leidtut."
Zudem erinnerte sie sich daran, ein Gespräch zwischen unserem Vater und seinem Vater mitbekommen zu haben, das angedeutet hätte, dass unser Opa unseren Vater sozusagen dazu 'gezwungen' hatte, uns zu verkaufen. Um genau zu sein, hatte er wohl gesagt "ich kann das jetzt nicht länger aufschieben", worauf unser Vater geantwortet hatte "aber nicht [unsere Schwester], sie wurde gerade operiert."

Plötzlich waren angeblich Sachen passiert, während wir noch in einer bestimmten Wohnung gewohnt hatten - als wir dort ausgezogen sind, waren wir 2. Natürlich ist das nicht unmöglich. Aber soweit wir mittlerweile aufdröseln konnten, hat der eigentliche Missbrauch angefangen, als wir 5 waren. In den Jahren davor sind, soweit wir wissen, ausschließlich medizinische Eingriffe passiert, die natürlich ebenfalls sehr traumatisch waren, aber eben kein Missbrauch.
Es kam uns komisch vor, dass sie sich auf einmal an so viele Sachen erinnerte, aber natürlich ergab es auch Sinn - es waren ja alles einfach Erinnerungen, die in dem Moment vermutlich total unwichtig erschienen waren und so etwas vergisst man dann eben einfach und erinnert sich erst wieder daran, wenn es irgendeinen Sinn ergibt.

Dann fand sie das Haus, das wir beschrieben hatten und meinte, sie würde sich erinnern, dass erwähnte erinnerte Szene vor diesem Haus stattgefunden hatte. Nur dass sie uns ein Foto schickte und das Haus passte absolut 0 zu unserer Beschreibung - es war nicht nur ein bisschen anders, sodass man vielleicht hätte sagen können, dass in den letzten 15 Jahren eben Dinge verändert worden waren. Es war schlichtweg ein komplett anderes Haus.
Trotzdem meinte sie sich plötzlich daran zu erinnern, wie wir dort im Garten mit dem Kind der Hausbesitzer gespielt hatten. "Vermutlich war das diese [Name], von der du erzählt hast."

Seitdem sind wir misstrauisch, teilweise wütend, dass sie es einfach so wagt, ganz nebenbei, ihren Namen in den Mund zu nehmen.. Denn wir haben nie mit ihr gespielt. Wir hatten zwar Kontakt zu ihr, aber ausschließlich in Missbrauchskontexten. Sie durfte nämlich nicht mit anderen Kindern spielen. Sie durfte überhaupt nichts. Und dann hat sie sich umgebracht.
Und es tut so weh, das zu lesen. Diese angenommene Wahrheit, die unsere Realität begräbt. Dass unser Trauma plötzlich unserer Schwester gehört - sie ist der Mittelpunkt. Denn sie war eindeutig, ganz ganz eindeutig, auch irgendwie dabei.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie unser Vater sie auch zu einem fremden Mann gebracht hatte, allerdings an nichts mehr, was dort geschehen war. Sie war aber mit einem mal sehr überzeugt davon, dass sie dort ebenfalls sexuell missbraucht worden war.
Man kennt das ja auch. (ironie) Wenn man sich plötzlich an Trauma erinnert, das bisher 0 Einfluss auf das eigene Leben hatte, nach einer abgeschlossenen Traumatherapie, seit der man kaum noch Symptome hat, bei der nie nur ein Funken Amnesie festgestellt wurde, nicht mal für das eigentliche Krankenhaustrauma (außer natürlich für die Situationen, in denen Betäubungsmittel verabreicht worden waren). Obwohl man mittlerweile seit Jahren in funktionierenden Beziehungen ist, in denen man auch ganz normal und problemlos Sex hat. (Man mag sich erstmal fragen, woher wir das so genau wissen können, aber sie erzählt uns tatsächlich gefühlt jedes kleinste Detail ihres Lebens, schickt uns regelmäßig ihre Tagebucheinträge und Sonstiges.)

Vor ein paar Tagen fing sie dann plötzlich an mit: "Du hattest ja erzählt, dass da so religiöse Rituale stattgefunden haben. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass wir bei [Nonne aus unserer Familie] in diesem Kloster waren und sie bei diesem Ritualskram dabei war und so Sachen vorgemacht hat, die wir nachmachen sollten." Natürlich handelte es sich dabei um ganz normale Kirchenrituale. Weil eben niemand an Tieropferungen und Exorzismusrituale denkt, wenn man "komische religiöse Rituale" sagt. Sondern an Brot essen und Traubensaft trinken und lauter solche Dinge, die wir früher in tatsächlichen Kirchen gemacht haben.

Der Höhepunkt ist, dass ihre Psychologin eine ganz neue Idee hatte: die DIS, das ist doch diese Störung, die aus ritueller Gewalt entsteht. Und so etwas gibt es ja meistens familiendurchlaufend. Und außerdem hatten wir ja erwähnt, dass wir glauben, dass unser Vater Amnesie hat. Also hat er bestimmt auch eine DIS. Also ist die Realität bestimmt folgende: dieser Klosterorden ist in echt Teil eines rituellen Gewaltnetzwerks. Unsere gesamte Familie (väterlicherseits) ist tief in diese Strukturen verwickelt. Vermutlich wurden schon unser Vater und seine Schwester in ihrer Kindheit massiv missbraucht. Und so erstreckt es sich nun durch unsere Familie.
Falls irgendjemand uns hier schon lange folgt, wird derjenige wissen, was für eine große Ironie diese Theorie ist. Für alle anderen eine Zusammenfassung: die Theorie hatten wir selber schon, vor über einem halben Jahr. Weil wir extrem uninformiert waren und dachten, viele der Sachen, die wir erlebt haben, finden ausschließlich im Kontext von ritueller Gewalt statt. Wir waren dann sogar eine Zeit lang inaktiv, weil wir durch viele unserer Aussagen darüber andere Menschen verletzt hatten und uns erstmal ausführlicher damit beschäftigen mussten. Im Endeffekt sind dann zu dem Schluss gekommen, dass wir definitiv nicht im Kontext ritueller Gewalt missbraucht wurden, sondern eben nur innerhalb eines "ganz normalen" Kinderpornografierings.
Gleichzeitig möchte unsere Mutter, die sich nie mit der DIS beschäftigt hat, obwohl sie seit März weiß, dass wir sie haben, nun ein Buch über die DIS im Kontext ritueller Gewalt lesen, weil sie der Meinung ist, unseren Vater besser verstehen zu müssen. Ich denke, wir müssen nicht erklären, warum das auf unglaublich vielen Ebenen total falsch ist.

Das Schlimmste für uns ist aber, wie unsere Schwester den Namen von dem Kind der Besitzer des Hauses in den Mund nimmt. So beiläufig. Als wäre sie irgendjemand, einfach irgendein Kind, das zufälligerweise zur selben Zeit am selben Ort war. Als wäre sie nicht genau dort und genau deswegen gestorben.
Wir wissen nicht mehr, was man darauf entgegnet.
Wir wissen nur, dass es sich schrecklich anfühlt, wie unser Trauma plötzlich zur Geschichte des Lebens aller anderen Menschen gemacht wird außer uns - wir sitzen wieder nur am Rand und sind kaum existent, dürfen maximal Fragen beantworten.

Mittlerweile hat unsere Schwester uns das 21. Foto 'des Hauses' geschickt. Natürlich ist es nicht das Haus. Es wird vermutlich nie das Haus sein, weil man nach so vielen Fehlversuchen schlichtweg nicht mehr glauben kann, dass sie tatsächlich jemals dort war (vor allem, da es unglaublich starke Unterschiede zwischen allen Häusern, die sie uns schickt, gibt - und überhaupt nur eins davon annährend unserer Beschreibung entspricht).
Natürlich will aber niemand sagen: "Du lügst."
Weil das die grauenvollste Aussage ist, die man treffen kann.

Im Endeffekt glauben wir auch nicht mal wirklich, dass sie lügt. Wir glauben, dass sie das wirklich glaubt; dass diese Erinnerungen (wie die Gespräche) teils bestimmt auch stimmen und sie teils Erinnerungen hat, die sie dann vollkommen aus dem Kontext reißt und in einen anderen einfügt. Sie 'muss' immer der Mittelpunkt sein, das wissen wir, kann es gar nicht ertragen, wenn es mal länger als ein paar Minuten um jemanden anderen geht, aber gleichzeitig glauben wir auch, dass sie das unbewusst macht und es ihr selbst gar nicht so klar ist. Zudem besteht natürlich die Möglichkeit, dass all diese Erinnerungen eben doch echt sind.

Ich will aber eigentlich etwas sagen: man hat keinen Einfluss darauf, ob man Menschen irgendetwas glaubt. Das haben wir inzwischen gelernt. Man hat nur einen Einfluss darauf, ob man das nach Außen trägt, wogegen wir uns entschieden haben, weil es wenig Schlimmeres gibt, als einer Person ihre tatsächlichen Erfahrungen abzusprechen - und man kann eben nie zu 100% wissen, ob es nicht doch stimmt, was diese Person sagt.
Aber weil wir eben selber einige Zeit lang öfter zu hören bekommen haben, dass wir lügen (inzwischen hat das tatsächlich seit Monaten, glaube ich, niemand mehr gesagt), war meine erste Reaktion auf diese Gedanken, mich zu hassen. Weil es ja nicht sein kann, dass mich das selbst so belastet hat, dass Menschen das gesagt haben und jetzt denke ich einfach selber etwas ähnliches.
Ich glaube, dass es vermutlich vielen Betroffenen so geht, wenn sie selbst zum ersten mal jemandem nicht glauben. Man hat das Gefühl, man würde der Person irgendetwas antun. Dabei macht man eigentlich gar nichts. Man hat nur ein Gefühl. Und auf Gefühle hat man eben wenig Einfluss. Also darf man das auch denken und fühlen - und man darf es auch an anderen Stellen ansprechen, insofern man der Person eben nicht schadet. Das macht einen nicht zu einem schlechten Menschen. Es geht jedem manchmal so.

Wir haben uns persönlich entschlossen, unserer Schwester einfach nichts mehr über unser Trauma zu erzählen. Damit können wir dann selbst einen Beweis haben, falls sie sich jemals an Dinge erinnert, die wir nicht erzählt haben, während wir ihr gleichzeitig nicht mehr Material geben, aus dem sie sich weitere Erinnerungen basteln kann (falls so etwas überhaupt funktioniert - das wissen wir nicht).
Vermutlich ist es auch gut, dass sie jetzt wieder in Therapie ist und diese Dinge mit ihrer Psychologin bespricht (abgesehen von deren Theorien).

Ich möchte nur mir und euch sagen, dass es okay ist, solche Gedanken zu haben.
Niemand ist ein schlechter Mensch deswegen.

2 Kommentare:

  1. "weitere Erinnerungen basteln kann" - genau das war mein Gedanke. Ich glaube, diese Handlung kommt bei vielen Menschen vor. Mit jeder deiner Aussage über dein Trauma bildest du eine neue Basis für deine Schwester. Ein Fundament auf dem sie ihre Erinnerungen verknüpft. Vielleicht nicht so wie sie waren, aber vielleicht auch doch.

    Sprich mit ihr über deine Gedanken, lass sie über ihre Gedanken sprechen. Und vergiss nicht, vielleicht stimmen ihre Erinnerungen nicht, aber vielleicht stimmen deine Erinnerungen auch nicht. Mir ist bewusst, dass euer Verhältnis schwierig ist, aber ihr habt so viel erlebt, so viel geteilt, nehmt euch gegenseitig die Last. Es spielt keine Rolle, wer der Mittelpunkt ist.

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    1. Du hast natürlich Recht. Das Gefühl, nur am Rand zu stehen und zuzugucken, ist eigentlich nichts schlimmes, weil ja niemand etwas macht, was uns schadet. Das Schlimme daran ist eigentlich nur wieder Trauma, weil wir früher vernachlässigt wurden "wegen ihr" (also, weil sie halt so krank war).
      Und ja. Auch unsere Erinnerungen sind teils vermutlich falsch oder zumindest nicht ganz richtig. Zumindest gab es auch schon öfter die Situation, dass eine Innenperson aufgetaucht ist, die meinte, sie erinnert sich an etwas aus 2015, aber an anderer Stelle kam dann raus, dass es vermutlich doch eher 2005 passiert ist, in einem ganz anderen Setting und im Endeffekt gab es vermutlich nur zwei Erinnerungen, die irgendwie vermixt wurden oder so ähnlich. (Genau weiß man das natürlich nie, aber es klingt wie eine schlüssige Theorie.) Man nimmt es vermutlich einfach anders wahr, wenn man von außen draufguckt.
      Es fällt natürlich auf, dass ihre Erinnerungen absolut 0 mit unseren übereinstimmen, aber natürlich wäre es eine wahrscheinliche Erklärung, dass sie sich an eine Szene mit einem anderen Kind erinnert und dann automatisch davon ausgeht, dass dieses andere Kind wir waren, obwohl es in echt gar nicht so war und wir somit auch die Erinnerung nicht haben.

      Im Endeffekt können wir ja auch ansprechen, was wir als verletzend wahrnehmen (zB, dass sie so vehement unseren Vater verteidigt), ohne ihr zu sagen, dass wir ihr nicht glauben. (Ich glaube immer noch, dass das eine Aussage ist, die man nie sagen sollte.) Man kann ja sagen: selbst wenn er sich so verhalten hat, finden wir das verletzend, da so drauf zu beharren, weil es ja eigentlich wirklich kaum eine Situation geben kann, in der man zu so etwas gezwungen ist.
      Lasten können wir vermutlich nicht nehmen. Dazu bräuchte man ein annehmbares Verhältnis und sie ist einfach kein Mensch, mit dem wir gerne mehr zu tun hätten, also, einfach so vom Charakter her. Aber zumindest für das Gespräch, was man haben kann, ist das ja nicht wichtig.

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