Es war einmal ein kleines Mädchen, das sehr gerne sang. Sein Gesang war nicht besonders schön, nicht so wie bei den Leuten, die es oft auf CD oder im Radio hörte, aber das störte es nicht. Es war ja noch klein und die Leute im Radio waren schon ganz groß. Bis es so alt war wie die, konnte es noch ganz viel lernen!
Einmal fragte die Mutter des Mädchens es, ob es gerne ein Instrument lernen würde. Neben der Schule, auf die es ging, hatte eine Musikschule aufgemacht und seine Mutter würde ihm gerne ermöglichen, Musik zu machen, falls das sein Wunsch war.
Freudestrahlend antwortete das Mädchen: "Ich würde gerne singen lernen!"
Die Mutter aber sagte: "Deine Stimme ist nicht gut genug, um Singen zu lernen. Singen lernt man nicht wie ein Instrument - es gibt Menschen, die werden mit einer schönen Stimme geboren und die können ihre Stimme dann durch Unterricht noch schöner machen. Aber du wurdest leider mit einer schlechten Stimme geboren, deshalb kannst du nie singen lernen."
Was die Mutter dem Mädchen nicht sagte, und vielleicht war das der eigentliche Grund, war, dass sie nicht viel Geld hatte und Gesangsunterricht viel teurer war als der Unterricht für die meisten Instrumente.
Das Mädchen war sehr traurig über diese Absage.
Aber im Radio hörte sie jemanden, dessen Stimme auch nicht besonders schön war. Seine Texte waren aber sehr schön, auch wenn das kleine Mädchen sie noch nicht ganz verstand. Mit der Erlaubnis ihrer Mutter besuchte sie sogar ein Konzert von diesem Sänger und er füllte ein ganzes Stadion! So viele Menschen waren gekommen, um diesem Mann zuzuhören, dessen Stimme nicht besonders schön war, weil seine Texte so schön waren.
Also dachte sich das Mädchen, obwohl seine Mutter ihm jeden Tag sagte, dass es doch endlich aufhören sollte zu singen, weil es nervig war, seine grauenvolle Stimme zu hören: wenn ich schon nie schön singen können werde, werde ich einfach wunderschöne Texte schreiben! Dann werden mir alle wegen meiner Worte zuhören, schöne Stimme oder nicht.
Und so begann das Mädchen zu schreiben. Anfangs waren seine Texte nicht sehr schön, aber schon bald begann es, sehr stolz auf die geschriebenen Texte zu werden. Auch wenn sie längst nicht so toll waren wie von dem Menschen von dem Konzert. Aber der ist ja auch schon alt, dachte sich das Mädchen. Ich bin erst 12. Ich habe noch sehr viele Jahre Zeit, um sehr viel zu lernen!
Das Mädchen hatte eine sehr gemeine Schwester. Einmal fand seine Schwester einen der Texte und fragte es, was das für ein Text war.
"Das ist ein Liedtext", antwortete das Mädchen voller Stolz. "Den habe ich geschrieben! Es geht darin um ein Mädchen aus einem Buch, das ich neulich gelesen habe, die von ihrem besten Freund betrogen wird."
Die Schwester sah es skeptisch an. "Aber du weißt schon, dass du gar nicht singen kannst, oder?", fragte sie das Mädchen.
"Ja", antwortete das Mädchen. "Aber ich werde so tolle Texte schreiben, dass das niemanden interessieren wird, genau wie bei dem Sänger aus dem Radio!"
Die Schwester blickte spöttisch. "Sing mir doch das Lied mal vor", bat sie.
So sang das Mädchen und als es geendet hatte, sagte die Schwester: "Die Stimme von dem Sänger aus dem Radio ist einfach nur nicht gut. Von deiner bekommt man Ohrenkrebs."
Fortan sagte die Schwester des Mädchens jedes mal, wenn sie es singen hörte, ähnliche Worte: "Von deiner Stimme bekommt man Ohrenkrebs. Es ist einfach nur nervig, wenn du singst, hör auf damit."
Das Mädchen nahm all seinen Mut zusammen und fragte seine Mutter nochmal nach Gesangsunterricht. "Ich möchte gerne singen und ich schreibe auch echt tolle Texte", sagte es. "Aber meine Stimme klingt ganz schrecklich. Ich möchte machen, dass meine Stimme nicht mehr so schrecklich klingt."
Die Mutter aber sagte: "Deine Stimme ist so nervig und grauenvoll, dass niemand dir jemals freiwillig zuhören wird. Mit dem Talent zu Singen wird man geboren, also gibt es dort nichts für dich zu lernen. Du kannst lernen, Noten zu treffen, aber davon wird deine Stimme nicht weniger grauenvoll."
Und fortan sagte auch die Mutter dem Mädchen jedes mal, wenn sie es singen hörte - was oft war, denn das Mädchen sang gerne - dass es nervig war und es damit aufhören sollte.
Und so hörte das Mädchen, das eins so gerne gesungen hatte, auf zu singen. Es schrieb weiter seine Texte und manchmal, ganz selten, wenn alle Hausbewohner bis auf es außer Haus waren, sang es noch.
Einmal war doch die Schwester Zuhause, aber das Mädchen hatte es nicht gemerkt.
"Ich hab dich gerade singen gehört", sagte die Schwester. "Und ich glaube, das klang gar nicht mehr so schlimm wie früher. Magst du mir nochmal etwas vorsingen?"
Das Mädchen verneinte, doch die Schwester redete immer weiter, dass es ja dieses mal eigentlich ganz gut geklungen hätte und so sang das Mädchen ihr doch etwas vor.
Als es geendet hatte, grinste die Schwester hämisch. Sie sagte: "Es klingt immer noch genauso grauenvoll. Aber jetzt habe ich es mit meinem Handy aufgenommen und kann mich jederzeit darüber lustig machen."
Natürlich klaute das Mädchen ihr Handy, um das Video zu löschen. Aber Singen tat es danach nie wieder.
Einige Monate später lernte das Mädchen ein anderes Mädchen kennen, das schon bald seine beste Freundin wurde. Einmal sah diese Freundin es einen seiner Texte schreiben und fragte, was das war.
"Das ist ein Liedtext", sagte das Mädchen. "Ich kann leider nicht singen, aber ich schreibe sehr gerne Texte."
Die Freundin war begeistert über den Text. Sie sagte: "Du solltest mir das mal vorsingen, dann könnte ich ein Instrumental dazu machen. Ich spiele nämlich Klavier."
Das Mädchen fand diese Idee ganz wundervoll. Wenn es ein Instrumental hatte, würde sich vielleicht jemand anders finden, der sein Lied singen wollen würde. Jemand mit einer schöneren Stimme. Es hatte sogar eine Freundin im Kopf, die sehr gerne sang.
Doch dann stellte das Mädchen fest, dass es sich nicht dazu überwinden konnte, vor seiner besten Freundin zu singen. "Man hört keine Melodie bei dir", hatte seine Schwester mal gesagt, und wenn man keine Melodie hörte, dann konnte man ja auch kein Instrumental schreiben, davon abgesehen, dass es seiner besten Freundin seine grauenvolle, ohrenkrebserregende Stimme ersparen wollte. Also sang es nicht.
Seine beste Freundin war sehr enttäuscht und es selbst fast noch mehr. Was nützten denn die tollsten Texte, wenn niemand sie je hören würde, weil es selbst dazu zu unfähig war, jemandem die Melodie zu zeigen?
Und so hörte das mittlerweile nicht mehr ganz so kleine Mädchen, das einst so gerne gesungen hatte, auf, seine Liedtexte zu schreiben.
Vergessen wanderten sie erst für mehrere Jahre in seine Schreibtischschublade und schließlich, als sie es wiederfand, auf den Müll. Es hatte keine Verwendung mehr dafür. Und gut hatten sie auch nur für sein 14jähriges Ich geklungen.
Eines Tages, als es schön längst komplett alleine wohnte, lernte das Mädchen eine Sängerin kennen, die eine sehr interessante Ansicht hatte: jeder Mensch konnte singen lernen.
Das Mädchen erklärte ihr, dass es definitiv nicht singen lernen konnte. Dass seine Stimme komplett grauenvoll war und es auch gar keine Melodien singen konnte. Aber die Sängerin gab nicht auf, es vom Gegenteil zu überzeugen und schaffte es schließlich, das Mädchen zu überreden, aufzunehmen, wie es etwas sang und ihr zu schicken, damit sie ihm Feedback dazu geben konnte.
Entgegen aller Erwartungen des Mädchens sagte die Sängerin ihm nicht, dass es komplett grauenvoll, nervig und ohrenkrebserregend klang. Stattdessen erklärte sie dem Mädchen, was es beim Singen besser machen konnte, um schöner zu klingen. Und auch wenn das Mädchen nicht ganz verstand, was sie meinte, stimmten ihre Worte das Mädchen sehr glücklich. Und es beschloss: eines Tages werde ich Gesangsunterricht nehmen, wenn ich genug Geld dafür habe. Zudem fing es wieder an, Texte zu schreiben.
Das ist mittlerweile drei Jahre her und das überhaupt nicht mehr kleine Mädchen ist fast 25. Seit über einem halben Jahr kann es sich inzwischen Gesangsunterricht leisten, aber noch immer kann es nicht vor anderen Menschen singen.
"Es gibt bestimmt auch Gesangsunterricht auf Youtube", sagte der Freund dem Mädchen, nachdem es ihm endlich von diesem Problem erzählt hatte, das es so sehr quälte. "Dann kannst du das alleine in deiner Wohnung machen."
Aber die Wohnung hat zentimeterdünne Wände. Es kann jedes Gespräch seiner Nachbarn hören und sie jeden Ton, den es singt.
Und es kann doch nicht sein,
dass irgendjemand auf der Welt
seine ganz grauenvolle Stimme ertragen muss.
Sie renn' weiter und ich zerfall,
falle tief, tief, tief, tief.
Von allem, was ich wollte, gibt es nichts,
das mir noch erhalten blieb.
Alle gehen
und ich bleibe hier und sing allein für
diese Welt, in der mich niemand hört
und ich weiß genau, das wird genug für mich sein.
...
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