Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
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Montag, 29. März 2021

#45: Gesund werden

"Wenn du entscheiden könntest, morgen plötzlich gesund zu sein, würdest du das machen?", ist eine Frage, die chronisch kranken Menschen relativ häufig gestellt wird. Viele antworten mit Ja, andere auch mit Nein, weil sie gar nicht wissen, wie das aussehen soll: gesund sein.
Wenn du ab morgen ein Medikament nehmen könntest, dass dich gesund macht, würdest du das tun?

Vor über sieben Jahren gab es eine Studie über ein Medikament, das unseren Gendefekt aushebeln sollte. Dafür muss man wissen: unsere Erkrankung entsteht dadurch, dass ein bestimmtes Protein bei uns nicht richtig gebildet wird und somit nicht funktionsfähig ist. Die Idee war, dass das Medikament den Zellen sozusagen zeigen könnte, wie sie dieses Protein richtig herstellen.
Die Realität war, dass es nur bei einem Bruchteil der Zellen funktionierte. Trotzdem blieb die Wirkung unübersehbar: einen ganzen Monat lang hatten wir Lungenschmerzen und Husten, Husten, Husten. Unsere Lunge machte Frühjahrsputz. Sie hatte endlich zumindest einen halben Besen.
Dieses Medikament nehmen wir seitdem. Seit einer Weile gibt es ein neues, verbessertes, das tatsächlich bei einem Großteil der Zellen wirkt. Das nehmen wir seit Mitte Februar.

Natürlich macht uns das Medikament nicht gesund. Es funktioniert immer noch nicht bei jeder einzelnen Zelle. Unsere Lunge hat von all dem Kranksein Vernarbungen, die nie weggehen werden und auch unsere Bauchspeicheldrüse ist teils unwiderruflich kaputt. Unsere Leber sieht aus, als würden wir zu viel Alkohol trinken und mehr Medikamente machen es garantiert nicht besser. Ganz zu schweigen davon, dass wir das Medikament für den Effekt natürlich für immer nehmen müssten.
Aber gesunde Zellen klingen trotzdem extrem toll. Also nehmen wir es eben bis es unsere Leber genug zerstört hat, dass wir es absetzen müssen. Aber man kann ja die Hoffnung haben, dass das nicht passiert.

Mitte Februar fingen wir also an, es zu nehmen. Ab jetzt wird es ein wenig eklig (biologisch vollkommen normal). Nach sechs Stunden fing es an: unsere Lunge fing an zu putzen. Innerhalb von einem Tag wurden wir mehr Schleim los als sonst in einem Monat. Wir fühlten uns schrecklich. Die ganze Zeit Husten. Unsere Nase lief ununterbrochen. Unsere Nasennebenhöhlen fingen an wehzutun. Nach zwei Tagen bekamen wir Lungenschmerzen. Daraufhin beschlossen wir, die Dosis erstmal zu verringern und es somit einzuschleichen. Dadurch umgingen wir das schlimmste und fühlten uns nicht mehr, als hätten wir Corona höchstpersönlich.

Von unserer Schwester, die das Medikament seit Sommer nimmt, hatten wir folgende Tipps bekommen: viel Trinken und alles mögliche supplementieren, weil die Verdauung so hinüber geht, dass man sonst sämtliche Mängel bekommt.
Unsere Ärztin hatte uns befohlen, Sport zu machen und uns eine riesige Kiste Abführmittel mitgegeben, denn die schlimmste Nebenwirkung ist ein Darmverschluss (das heißt, so starke Verstopfungen, dass man daran sterben kann).
Seitdem haben wir gemerkt: wenn wir weniger als 3 Liter pro Tag trinken, bekommen wir Bauchschmerzen des Todes. Wenn wir weniger als 20 Minuten Sport an einem Tag machen, auch. Wenn wir beides verfehlen -
Mit des Todes meine ich des Todes. Neulich wachten wir nachts auf, weil wir Bauchschmerzen hatten. Das ist erstmal nichts ungewöhnliches. Ziemlich normal. Seit Mitte Februar passierte das fast jeden Tag und nicht, wie sonst, alle zwei Wochen. Man steht auf, macht sich eine Wärmeflasche und schläft weiter.
Wir wachten also auf. Alles wie gehabt. Wärmeflasche? Check. Eine halbe Stunde später schrien wir das Stockwerk zusammen. Wir versuchten, durch die Gegend zu laufen (hilft manchmal), aber konnte nicht aufstehen. Nach einer Stunde fingen wir an, uns zu übergeben. Danach war es besser. Jedenfalls für die nächste Stunde. Da ging es dann von vorne los. Das hielt ein paar Stunden so an.
Seitdem trinken wir nicht mehr zu wenig und machen brav jeden Tag Sport.

Wir fingen außerdem an, starke Gelenkschmerzen zu haben. Auch das wurde uns gesagt. Es muss erst schlimmer werden, damit es besser werden kann. Wir fühlten uns scheiße. Jeden Tag. Aus irgendeinem Grund (vermutlich deswegen) fing unser Gehirn an, ganz viel Adrenalin auszuschütten. Vielleicht dachte es, wir sterben oder so. Uns war außerdem durchgehend schlecht. Und schwindelig.

Mittlerweile nehmen wir das Medikament seit sieben Wochen, seit drei Wochen die volle Dosis. Es geht uns nicht mehr jeden Tag beschissen und unser Gehirn hat aufgehört so zu tun, als würden wir sterben. Wir haben keine Lungenschmerzen mehr, keine Dauererkältung und nicht mehr absolut jeden Tag Bauchschmerzen. Nur noch jeden zweiten. Insgesamt dauert es wohl so 2-3 Monate bis der Körper sich an das Medikament gewöhnt hat und somit die "Nebenwirkungen" aufhören.

Der Begriff "Nebenwirkungen" an dieser Stelle ist übrigens sehr irreführend. Denn es sind keine Nebenwirkungen des Medikaments - sondern des Gesünder-werdens. Deshalb gehen sie auch alle nach ein paar Monate weg.
Wir haben wochenlang geplant, wann wir dieses Medikament genau anfangen zu nehmen, weil wir das wussten. Haben uns eingedeckt mit sämtlichem Zeug, das man eventuell brauchen könnte (Halsschmerztabletten, Nasenspray, ...). Habe jegliche Behördensachen erledigt und unsere Zeit komplett frei von Terminen gehalten, weil wir wussten, dass wir krank werden würden.

Das ist, was Gesundwerden ist. Selbst wenn es diesen magischen Knopf gäbe, der einen über Nacht gesund macht. Der Körper ist so wahnsinnig gut darin, sich auf Dinge einzustellen, dass er optimiert hat, trotz kaputter Zellen zu funktionieren. Jeder biologische Prozess muss(te) neu eingestellt werden. Das ist unglaublich faszinierend. Aber eben auch keine Entscheidung, die man leichtfertig treffen und ohne Planung angehen will.
Natürlich gibt es keinen magischen Knopf und diese Überlegung wird nie eine Rolle spielen. Trotzdem fanden wir diese Informationen wichtig, die nie jemand beachtet. Man schmeißt nicht einfach eine Tablette ein und plötzlich ist man gesund. Nein.
Erstmal ist man krank. Sehr krank.

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