Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
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Mittwoch, 16. Juni 2021

#59: Selten ist niemals nie

Wir haben eine Erberkrankung, die in etwa eine Person von 2.000 Menschen in Deutschland hat. Ich glaube, deshalb konnten wir nie dieses Gefühl der Unberührbarkeit entwickeln, das viele Menschen haben: dass alles immer nur anderen, niemals ihnen passiert.
Ein Fluff aus unserer Freundesgruppe hat mal gegenüber deyren* Psychotherapeutin den Verdacht geäußert, dey könnten eine dissoziative Identitätsstörung haben. Die Therapeutin glaubte aus verschiedenen Gründen nicht daran, entschied sich aber, als Grund anzugeben, dass es extrem selten ist. Davon abgesehen, dass das nicht stimmt, gibt es für jede Erkrankung, Störung, Erfahrungswelt Menschen, die sie erleben. Dass etwas selten ist, macht es nicht inexistent - man kann jederzeit jemanden treffen, den es betrifft.

* 'dey' ist ein Neopronomen, das als deutsche Version des englischen 'they's als geschlechtsneutrales Pronomen verwendet wird, aber zeitgleich im Plural steht, was gerade für uns als System sehr toll ist

Darüber mache ich mir gerade viele Gedanken.
Zum einen, weil wir seit ein paar Wochen eine unbedeutende kleine Schwellung im rechten Bein haben, wegen der wir nächste Woche einen Arzttermin haben, einfach aufgrund der Tatsache, dass es Krebs sein könnte. Nicht, weil wir Angst hätten. Das ist eine Stelle, an der wir uns sehr oft stoßen, und es macht Sinn, dass der Körper da mehr Gewebe ablagert als normal ist, um den Knochen zu schützen. Aber man sollte es eben mal anschauen.
Und weil wir sehr viele Menschen kennen, die kleine Probleme haben, die nicht wirklich schlimm sind und höchstwahrscheinlich nur von einem Vitamin X Mangel stammen, aber anstatt es kurz vom Arzt überprüfen zu lassen, wird es lieber ein halbes Jahr lang ignoriert. Oder auch drei. Wir kennen mindestens zwei Menschen, die wegen so etwas fast gestorben wären.

Zum anderen haben wir von der Corona-Impfung Schmerzen in Gegend der Leber bekommen. Wir waren mittlerweile beim Arzt, es wurde ein Ultraschall gemacht, es scheint alles in Ordnung zu sein, aber bevor wir beim Arzt waren, haben wir versucht, im Internet rauszufinden, ob das eine normale Nebenwirkung ist. Obwohl wir das Internet rauf und runter gesucht haben, auf Englisch und auf Deutsch, haben wir absolut nichts dazu gefunden, was mich zu dem Schluss führt, dass es eine extrem seltene Nebenwirkung ist. [Die Schmerzen werden mittlerweile allerdings besser.]

Drittens.
Wir hatten im August einen Unfall.
Ab Februar konnten wir uns wieder einigermaßen bewegen.
Ab April hatten wir viel mehr Schmerzen und seltsame Muskelbeschwerden. [Überlastungsschmerzen nach relativ wenig Sport.]
Ende Mai wurden die Schmerzen so schlimm, dass wir nicht mal mehr mehrere Stunden sitzen konnten, weil unsere Bauchmuskeln so doll davon wehtaten. Einmal hatten wir Schmerzen in den Armen davon, dass wir unsere Haare gekämmt hatten, weil das scheinbar zu anstrengend war.
Da das neue Medikament, das wir seit Februar nehmen, als Nebenwirkung Muskelabbau hat, beschlossen wir, es probeweise abzusetzen, auch wenn unsere Ärztin meinte, es wäre bisher kein Fall bekannt, bei dem das so schlimm gewesen wäre, alle Fälle wären (von erhöhten Blutwerten abgesehen) nahezu ohne Symptome verlaufen. Aber da ein Test auf Rheuma negativ war, setzten wir es eben ab.
Die Schmerzen wurden besser. Nicht mal nur die Muskelschmerzen. Auch die Knieschmerzen. Ich sah uns plötzlich nicht mehr vor einer Zukunft, in der wir mit 25 einen Rollator beantragen würden müssen. Trotzdem dachte ich mir, einfach, weil das Medikament so toll ist, dass es bestimmt Zufall sein müsse, dass die Schmerzen besser geworden waren. Oder eben Placebo. Also fing ich wieder an es zu nehmen.
Es ist fünf Tage später, wir haben wieder Schmerzen und ich hätte gerne einen Rollator oder am besten direkt einen elektrischen Rollstuhl. [Ein nicht-elektrischer geht natürlich nicht, wenn die Arme bei der kleinsten Anstrengung anfangen wehzutun.]
Natürlich setzen wir es jetzt wieder ab. Dauerhaft. Das fühlt sich scheiße an, weil wir wochenlang heftigste Nebenwirkungen davon hatten, dass sich die gesamte Biochemie unseres Körpers umgestellt hat. Das dürfen wir jetzt alles nochmal haben. Und dann wieder mehr Husten. Und wesentlich mehr Therapie. Und ich wünschte, ich hätte einfach eine beschissene Tablette nehmen und quasi gesund sein können. So gesund, wie man eben sein kann, wenn man damit gleichzeitig seine Leber zerstört.
Stattdessen müssen wir der Eintrag für seltenste Nebenwirkungen sein, der bisher nicht mal existiert. Wegen uns wird man einen gesamten Beipackzettel ändern. (Möglicherweise, ich hab keine Ahnung, wie so etwas abläuft.)

Irgendjemand wird immer die Person sein, die diese eine total seltene, total unwahrscheinliche Krankheit oder Nebenwirkung oder was auch immer bekommt. Das ist nicht anders, nur weil man gesund geboren wurde.
Und ich könnte die Welt anschreien. Warum wir die eine Person sein müssen, die die häufigste CF-Mutation hat, für die fast am schnellsten ein gutes Medikament entwickelt wurde, die dieses Medikament nicht nehmen kann, während für so viele andere Mutationen gerade Phase 3 Studien laufen.
Aber das ist eben, wie die Welt funktioniert. Irgendjemand wird immer diese eine Person sein, von der niemand denkt, dass sie:r jemals diese sein könnte. Und dieses mal sind das eben wir.

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