Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Dienstag, 30. November 2021

#75: traumafreie Räume

[Das ist ein Brief an unsere Ergotherapeutin, zumindest so halb, also bitte nicht von den ganzen negativen Sätzen angesprochen fühlen.]

"Wir reden hier nicht über Trauma", ist ein Satz, der immer wieder all unsere Grenzen verstummen lässt. Es gibt keinen traumafreien Teil unseres Lebens, der uns in einem traumafreien Raum existieren lässt. Wir sind nicht traumafrei. "Wir reden nicht über Trauma" heißt immer auch:
Wir reden nicht darüber, wenn es euch schlecht geht.
Wir reden nicht darüber, wenn euch etwas triggert.
Und ganz vorne immer mit dabei: wir reden nicht über und vor allem nicht mit traumatragenden Innenpersonen.
Es verbietet uns jeden Satz über unsere Innenwelt, der unseren Mund verlassen könnte.
Denn ich kann nicht sagen, dass ich, seitdem unsere Lungenfunktion in den Keller gefallen ist, total Angst vor Corona habe. Denn dann müsste ich ja sagen, dass ich am meisten Angst vor Corona habe, weil ich dann einen Test machen müsste. Und dann müsste ich ja sagen, dass mich jegliche Tests mit Stäbchen in irgendwelchen Körperöffnungen am allermeisten von allen Dingen auf der Welt triggern. Und dann reden wir plötzlich doch über Trauma.
Aber hier ist ja kein Platz dafür.
Also reden wir lieber gar nicht.
Auch nicht darüber, dass der Satz deshalb übergriffig ist, denn das wäre über Trauma zu reden. Denn es ist ja nur übergriffig, weil wir nicht ganz sein dürfen in einem Raum. Weil wir nicht traumafrei sind.
Und ohnehin, das letzte mal, als wir gesagt haben, dass Stäbchentests uns unglaublich doll triggern, wurde uns gesagt: "Aber die sind ja wirklich nicht schlimm, die tun überhaupt nicht weh."
Von der Ergotherapeutin.
Das kann sie sagen, in ihrem traumafreien Raum, weil sie nicht in dem Raum sein musste, wo wir unsere gesamte Kindheit lang alle drei Monate von Pflegepersonal festgehalten wurden, während irgendjemand unseren Mund aufhalten musste, damit irgendein Arzt uns gewaltsam ein Stäbchen in den Rachen schieben konnte. Wo niemand je gefragt hat, warum wir das eigentlich so schlimm finden, obwohl es ja gar nicht wehtut.
Vielleicht wollten wir nur einfach nicht noch mehr oral vergewaltigt werden.

"Wir reden hier nicht über Trauma" ist auch meistens gar nicht der Satz, der überhaupt gemeint ist. Denn Menschen, die wirklich nicht über Trauma reden wollen, verschwinden aus unserem Leben. Das können wir nicht bieten. Eine traumafreie Sprache. Die einzige Grenze, die jemals funktionieren kann, ist gar nicht mit uns reden. Oder jedenfalls über nichts wichtiges.
"Wir reden hier nicht über Trauma" heißt oft viel eher:
Wir reden nur über Trauma, wenn ich eine Frage über euer Leben stelle.
Aber sonst bitte nicht. Und lass die Innenkinder im Innen. Die haben hier wirklich nichts zu suchen. Die sind viel zu anstrengend, haben zu viel Flashbacks und zu wenig Worte und vor allem viel zu viel Trauma für diesen unbefleckten Ort.
"Aber du scheinst das ja gut unter Kontrolle zu haben."
Keine Pluralpronomen, kein einziges mal.
Denn diese Stimmen im Kopf. "Die sind psychotisch, oder?"

Nein. Die sind: wenn Sie nicht die Dreistigkeit besäßen, jemanden mit einer DIS zu behandeln ohne zumindest anzumerken, dass Sie offensichtlich absolut keinen blassen Schimmer über diese Traumafolgestörung zu haben, wüssten Sie die Antwort.
Die sind: was mich vor übergriffigen Menschen wie Ihnen beschützt, danke.
Denn scheinbar war es ja wichtiger, uns darüber auszufragen, dass Blyth uns vergewaltigt hat, als mal in Erfahrung zu bringen, warum wir eigentlich immer von 'wir' reden - im Plural. Und es war wichtiger mal so beiläufig zu fragen, ob wir ihn eigentlich angezeigt haben, als mal in Erfahrung zu bringen, was eigentlich mit 'Innenpersonen' genau gemeint ist. Und es war scheinbar auch wichtiger, unsere Gefühle im Bezug auf Trigger kleinzureden, als sich mal eine Sekunde lang selbst zu fragen, was eigentlich passiert sein muss, dass jemand mit 57% Lungenfunktion mehr Angst vor einem Stäbchen hat als davor, an Corona zu sterben.

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