Gestern hatten wir Therapie und ich bin immer noch wütend. Ich bin wütend, weil ich gefühlt die Hälfte meiner Zeit damit verbringe, mir von anderen Menschen, die über die DIS Bescheid wissen sollten (Fachpersonal, Therapeuten, andere Betroffene) unsere Existenz absprechen zu lassen. Wobei es natürlich selten um uns spezifisch geht, sondern um die „richtige“ Art und Weise, eine DIS zu erleben. Darum, wie es „immer“ ist. Und es ist einfach falsch. Es stimmt nicht.
Ich weiß nicht, ob unser Gehirn irgendwie total „besonders“ funktioniert oder ob einfach nur niemand darüber redet, weil sich alle, die es ähnlich empfinden, von der Welt kleingeredet fühlen, aber es ist mir wichtig darüber zu schreiben.
Jedes System ist anders. Ich wiederhole: Jedes System ist anders.
Konkret geht es um Folgendes:
Meistens ist es wohl so, dass irgendwann erkannt wird, dass jemand eine DIS hat, daraufhin erfährt dies der Host (oder das Alltagsteam) und kommt erstmal nicht damit klar. Denn erstmal ist es natürlich gruselig, dass da „andere Personen im eigenen Körper“ sind, die Dinge machen, an die man sich eventuell gar nicht erinnert. Und dazu kommt dann noch, dass die DIS-Diagnose ja bedeutet, dass man sehr viel Trauma in der Kindheit erlebt hat, an das man sich aber bisher ebenfalls höchstwahrscheinlich nicht erinnert hat. Und das ist schwer zu verarbeiten. Und was vermutlich noch schwerer ist, ist, wenn sich dann herausstellt, was vermutlich öfter passiert, dass jemand, zu dem man eigentlich ein gutes Verhältnis hatte, in Wahrheit ein Täter ist. Der einen missbraucht hat. Nur dass man sich eben nicht daran erinnert, sondern nur gute oder neutrale Momente mit dieser Person im Gedächtnis hat.
Unsere Psychologin hat es mit den Worten irgendeines DIS-Forschers, dessen Namen ich vergessen habe, beschrieben: im Endeffekt haben die Innenpersonen alle eine Art „Phobie“ voreinander, weil sich mit den anderen Innenpersonen zu beschäftigen auch bedeutet, mehr über das eigene Trauma zu erfahren und mehr Zugang zu den traumabedingten Gefühlen zu erhalten. Und erstmal ist das vor allem sehr schlimm. Und eventuell lehnt man die Innenpersonen ab und leugnet einfach direkt, dass man überhaupt eine DIS oder auch nur Trauma haben könnte. Weil es zu schlimm ist.
Und es ist absolut einleuchtend, dass viele Systeme das so empfinden würden.
Aber es ist einfach das komplette Gegenteil von allem, was wir jemals empfunden haben.
Und das macht uns nicht weniger ein System.
Es macht nicht, dass unsere DIS nur erfunden sein kann, weil wir nicht dem „Standard“ entsprechen oder weil es noch kein Fachbuch gibt, das über unsere Erfahrungswelt geschrieben hat.
Darüber kann man auch mal nachdenken. Wenn uns unsere DIS abgesprochen wird, weil wir sie nicht empfinden wie die anderen Systeme, von denen in Fachbüchern berichtet wurde... hm, woran könnte es dann liegen, dass in Fachbüchern nicht über Systeme berichtet wird, die die DIS empfinden wie wir? Es ist wirklich ein Mysterium. Ganz sicher liegt es daran, dass wir keine DIS haben. Einen anderen Grund könnte es niemals geben! /s
Nur so als Gedankenmaterial.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle berichten, wie wir (und damit meine ich übrigens konkret das Alltagsteam, weil es darum ja immer geht) unsere Diagnose und alles danach und davor empfunden haben.
Wir wurden im April 2015 mit einer PTBS diagnostiziert, nachdem wir Anfang 2014 aufgrund unserer ersten Beziehung sehr viele PTBS-Symptome „entwickelt“ haben (wir haben sie zum ersten mal so konkret wahrgenommen). Zu dem Zeitpunkt bestanden keinerlei Kenntnisse über irgendwelches Trauma. Es gab die Vermutung, dass wir irgendwann in der Kindheit mal vergewaltigt wurden eventuell (aufgrund sehr spezifischer Albträume mit diesem Inhalt) und die ziemliche Gewissheit, dass wir in unserer Kindheit von unseren Eltern vernachlässigt wurden, weil diese sehr stark mit unserer Schwester beschäftigt waren, die ständig im Krankenhaus war. (Vernachlässigungsbedingtes Trauma kommt sehr häufig bei Geschwisterkindern von chronisch kranken Menschen vor - und wir waren damals in einer Rehaklinik für chronisch kranke Menschen und deren Angehörige. Dort war das also bekannt.)
Wir hatten außerdem Amnesie für die ersten 14 Jahre unseres Lebens - das sprach also auch dafür (auch wenn es niemand „Amnesie“ genannt hat).
Das war auch die Zeit, wo wir erstmalig wahrgenommen haben, dass wir eine DIS haben, auch wenn wir natürlich absolut keine Worte dafür hatten oder auch nur wussten, dass so etwas überhaupt existiert. Aber es gibt mehrere Tagebucheinträge aus dieser Zeit, in denen Dinge geschrieben stehen wie „ich fühle mich, als wäre ich mehrere Personen“ und Ähnliches.
Nachdem dann später sogar einige Trauma-Erinnerungen hochkamen (von Missbrauch durch unsere Schwester) war somit klar, dass wir tatsächlich eine PTBS haben. Es war für jeden Psychologen klar. Es war für uns klar. Es wurde nie angezweifelt. Die einzige Frage, die blieb, war: „Warum haben wir Albträume von Vergewaltigungen, weil unsere Schwester uns geschlagen hat?“ Aber das haben wir dann auch irgendwie wegerklärt und es war somit gut.
Dann hat Blyth uns missbraucht.
Auch wenn ich nur ungefähr 5% der Erinnerungen des Missbrauchs hatte, war mir immer klar, dass die Beziehung, in der ich mich befinde, traumatisch ist. Mir war immer klar, dass Dinge passieren, die ich nicht will. Mir war nur nicht klar, dass es Missbrauch ist, weil ich dachte, dass Blyth nicht weiß, dass ich diese Dinge nicht will. Ich war nämlich nicht in der Lage, es vernünftig zu kommunizieren. Ich bin dageblieben, weil ich mir eingeredet habe, dass ich es eines Tages vernünftig kommunizieren können würde und sich dann alles ändern würde.
Ich bin nicht dageblieben, weil ich dachte, dass es normal ist, was passiert.
Mir war klar, dass ich Übergriffe erlebe.
Mir war klar, dass ich traumatisiert werde.
Am Ende haben wir die Beziehung beendet, weil wir nach zwei Jahren den Gedankengang hatten, dass er es vielleicht einfach nur nicht verstehen will (es also Missbrauch ist) und nach 2.5 Jahren die Gewissheit hatten, dass, selbst wenn es daran liegt, dass wir nichts kommunizieren können, es niemals besser werden wird. Ein Jahr später, nachdem ich gelernt hatte, meine Bedürfnisse etwas zu kommunizieren, habe ich mit Blyth geredet und ihm gesagt, dass er mich traumatisiert hat, auch wenn er das vermutlich nicht wollte, weil ich eben weiß, dass es nur daran lag, dass ich nicht gut kommunizieren konnte.
Ich war überzeugt davon, das würde ein totaler Schock für ihn sein.
Stattdessen hat er abgestritten, dass wir jemals zusammen waren. Ab dem Punkt war mir klar, dass es Missbrauch war und dass er es absichtlich ignoriert hatte, weil, warum zur Hölle hätte er sonst abstreiten sollen, dass wir zusammen waren. Ich war ja überzeugt davon, dass er das nicht gewollt hatte.
Ein Jahr später haben wir zufälligerweise mitbekommen, dass ein Freund von uns (mit dem wir nicht mehr viel Kontakt hatten) mit der DIS diagnostiziert wurde und haben uns ein paar Videos darüber angeschaut, weil wir gar nicht wussten, was das ist.
Und ich hab diese Videos geschaut und dachte nur: „Achso.“ - „Ach, das ist falsch bei mir.“
Und ab dem Punkt war klar, ich habe entweder eine DIS oder irgendetwas Ähnliches, das ich nicht kenne oder Wahnvorstellungen, dass ich eine DIS habe. Also bin ich zu unserem damaligen Therapeuten gegangen und er hat uns eröffnet, dass er die DIS schon seit Monaten als Verdachtsdiagnose hatte. Dann haben wir noch ein paar Fragebögen gemacht und geredet, aber im Endeffekt war schon vor der Diagnose sonnenklar für mich, dass wir eine DIS haben.
Weil, wir hatten ja schon jahrelang gewechselt und das auch wahrgenommen. Wir hatten ja sogar darüber gesprochen - deshalb hatte unser Therapeut überhaupt erst die Verdachtsdiagnose. Wir hatten eben einfach nur nie ein Wort dafür gehabt oder überhaupt gewusst, dass das eigentlich überhaupt geht, dass man nicht „eine Person“ ist. Ich bin dann einfach nur zu ruru hingegangen und habe ihm das mitgeteilt, weil ich dachte, das hilft bestimmt dabei, das andere Innenpersonen nicht die ganze Zeit das Gefühl haben, eine Rolle spielen zu müssen (also, die Melanie-Rolle).
Und so war es auch.
Und natürlich habe ich schon relativ früh gehört, dass eine DIS nur durch sehr viel Trauma in frühster Kindheit entstehen kann. Und natürlich dachte ich auch, weil ich mich eben nicht erinnert habe, wir wären die Ausnahme und unsere DIS wäre durch Vernachlässigung entstanden. Aber ich war trotzdem ziemlich offen damit, habe nach der offiziellen Diagnose dann auch allen unseren Freunden das mitgeteilt (zu dem Zeitpunkt waren mir dann auch schon fünf Innenpersonen oder so bekannt) und das hat relativ schnell ein Umfeld entstehen lassen, in dem es sicher war für andere Innenpersonen, rauszukommen und auch Dinge zu sagen.
Und so habe ich dann auch relativ schnell erfahren, dass da eben doch noch mehr Trauma ist und Kinderpornografiedings (wobei das erstmal nur eine Vermutung war) und dass unser Vater eben Täter war (also, so nach einem halben Jahr). Und es hat mich nicht überrascht, weil, es hatte ja seit fünf Jahren die Vermutung gegeben, dass da mal irgendwas mit Vergewaltigung in unserer Kindheit stattgefunden hatte, also war es nur so: „Hm, macht Sinn.“
Und unser Vater ist einfach ein schlechter Mensch. Also, wirklich. Niemand mag ihn. Wir hatten zu dem Zeitpunkt schon lange keinen Kontakt mehr. Wir hatten auch nie eine Bindung zu ihm. Es war absolut keine Überraschung, dass er Kinder missbrauchen würde. (Oder uns.) Es war so wenig eine Überraschung, dass unsere gesamte Familie es sofort geglaubt hat. Jeder Mensch, der unseren Vater länger kennt, würde ihm zutrauen, Kinder zu missbrauchen. Er ist wirklich das Gegenbeispiel zu, dass man nicht merkt, wenn jemand ein Täter ist. Er ist zwar immer zu jedem freundlich und so, aber man merkt einfach, dass es nicht ernstgemeint ist. Also, jedenfalls, wenn man etwas mehr Zeit mit ihm verbringt. (Ohne, dass er jemals jemanden missbraucht, ihm scheinen Menschen nur einfach komplett scheißegal zu sein.)
Und ähnlich war es, als ich irgendwann erfahren haben, was Blyth noch so alles gemacht hat.
Ich meine, mir war schon klar, dass Blyth uns missbraucht hatte. Es war jetzt nicht so die mega große Überraschung, dass er uns vergewaltigt hat. Oder andere Sachen.
Natürlich gab und gibt es auch Sachen, die ich erfahre, die mich schockieren. Über die wir größtenteils auch nicht reden, weil das eben spezifischer ist als „wir wurden missbraucht“ und andere Menschen könnten es gut benutzen, um uns zu triggern und eben selbst zu missbrauchen. Das will man dann nicht unbedingt öffentlich auf einem Blog stehen haben. Aber die Innenpersonen, die diese Erinnerungen haben, haben ja nicht gemacht, dass dieses Trauma existiert.
Das haben die Täter gemacht.
Und in meinem Kopf ergibt es einfach keinen Sinn, dass ich sie deshalb irgendwie ablehnen würde.
Ich meine, wenn das bei euch anders ist, dann wisst ihr ja, dass das keine Entscheidung ist. Es ist dann einfach so, dass man eben diese Innenpersonen ablehnt aufgrund des Traumas, das sie mit sich bringen und man kann nicht einfach entscheiden, dass es nicht so ist, selbst wenn man weiß, dass sie ja nicht Schuld daran sind, dass dieses Trauma existiert. (Man kann sich nur entscheiden, daran zu arbeiten.)
Deshalb weiß ich nicht, warum es so schwierig zu verstehen ist, dass es bei uns eben einfach nicht so ist. Wenn klar ist, dass es ohnehin keine Entscheidung ist, dann können ja auch beide möglichen Seiten existieren.
Die DIS hat für mich einfach keinen negativen Aspekt. Sie ist nur da, weil wir traumatisiert sind und das anders nicht auszuhalten war. Das Trauma ist schlimm - aber das wäre auch da, wenn wir keine DIS entwickelt hätten. Könnte ich die DIS aus meinem Nervensystem entfernen, dann hätte ich einfach tausende extrem schlimme Erinnerungen und Gefühle und mein Leben wäre einfach schrecklich und vorbei oder ich würde in einem konstanten Nebel aus vollkommener Dissoziation leben.
Und wenn andere Leute das anders empfinden und richtig heftige Probleme mit ihrer DIS-Diagnose haben, dann ist das fein, aber...
Und wenn andere Leute das anders empfinden und richtig heftige Probleme mit ihrer DIS-Diagnose haben, dann ist das fein, aber...
warum müssen wir irgendeinem „Standard“ entsprechen, damit unsere Diagnose richtig sein kann? Es ergibt einfach absolut keinen Sinn für mich.
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