Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Donnerstag, 26. Mai 2022

#101: F44.81 Multiple Persönlichkeit;
6B64 Dissoziative Identitätsstörung

Unser allererster Post, der erklärt, was genau eigentlich eine dissoziative Identitätsstruktur ist, ist inzwischen unglaublich veraltet und ich hab auch das Gefühl, dass wir das damals alles selbst noch gar nicht so wirklich verstanden haben. Also folgt an dieser Stelle eine Neufassung!
Mit der Einführung des ICD-11, wurde die „multiple Persönlichkeit(sstörung)“ nun auch in Deutschland offiziell in „dissoziative Identitätsstörung“ umbenannt. Gerade, wenn man selbst betroffen ist und vielleicht gerade erst dabei ist, dies rauszufinden, fühlt sich die Beschreibung dort aber nicht wirklich nach dem an, was man empfindet. Aber der Text ist ja auch nicht für Betroffene, sondern für Psychologen. Ich glaube, um vernünftig zu erklären, wie sich eine DIS anfühlt, muss man zuerst verstehen, wie sie entsteht:

Jedes Kind hat, unabhängig von Erlebnissen, verschiedene Seins-Zustände. Ganz einfache Dinge wie „ich habe Hunger“, „ich möchte Nähe“, das hat wenig mit Persönlichkeit zu tun. Das ist einfach wie Kinder die Welt für sich einteilen, Schritt für Schritt, ein Bedürfnis auf einmal. Irgendwann (Menschen sind sich da uneinig, wann genau, aber ungefähr mit fünf Jahren) verbinden sich diese Seins-Zustände zu einer Einheit. Das nennt man Integration. Nachdem dieser Prozess abgeschlossen ist, fangen Kinder an, ein Identitätsgefühl zu entwickeln.

Manchmal, wenn ein Kind sehr viel Trauma erlebt, wird dieser Prozess unterbrochen. Das Gehirn lernt, die Seins-Zustände zu nutzen: einer der Zustände erhält beispielsweise die Erinnerungen an das traumatische Ereignis, ein anderer erhält ausschließlich die guten Erinnerungen. Ein Zustand lernt Trauma als die gesamte Normalität kennen, ein anderer ist für das alltägliche Leben zuständig. Zwischen den verschiedenen Zuständen entsteht in der Regel Amnesie, damit die Funktionalität des Kindes im Alltag sowie in der traumatischen Situation gewährleistet werden kann.
Integration passiert nie.
Kinder fangen trotzdem an, ein Identitätsgefühl zu entwickeln.
Nur dass das Kind an dieser Stelle nicht wirklich eine Einzelexistenz ist, sondern in verschiedene Fragmente aufgeteilt. Und die entwickeln, alle für sich, ein eigenes Identitätsgefühl.
Dadurch fühlt es sich dann im späteren Leben so an, als wäre man wirklich verschiedene Menschen, die alle zusammen einen einzelnen Körper bewohnen - nach außen hin werden diese Unterschiede in den allermeisten Fällen (Ausnahmen existieren) versteckt, damit man nicht auffällt. (Dass man nicht auffällt, ist Tätern meistens unglaublich wichtig.)

Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet man Menschen mit einer DIS oft als „Systeme“. Die verschiedenen Identitäten eines Systems werden mit allen möglichen Bezeichnungen benannt, in der deutschen DIS-Community ist der Begriff „Innenperson“ geläufig. Seltener gebraucht werden „Anteile“ oder „Persönlichkeiten“. Im Englischen ist der Begriff „Alter“ geläufig, den wir auch auf Deutsch schon Leute gebrauchen gehört haben.

Eine DIS wird immer von Amnesie begleitet. Dabei gibt es verschiedene Ausprägungen. Viele Systeme haben beispielsweise Amnesie zwischen den Innenpersonen. Das heißt, wenn Innenperson A morgens „draußen ist“ (Kontrolle über den Körper hat), erinnert sich Innenperson B, wenn sie nachmittags rauskommt, nicht an den Morgen. Oft hat man aber auch die sogenannte „Amnesie für die Amnesie“ - sprich, man merkt einfach nicht, dass man sich nicht erinnert. Meistens nimmt das Gehirn Momente, die in den Erinnerungen vorhanden sind, und gaukelt einem vor, diese hätten die gesamte Zeitspanne eingenommen, obwohl es vielleicht in echt so ist, dass man sich an einen Moment von zehn Minuten erinnert, obwohl fünf Stunden vergangen sind.
Manchmal besteht jedoch nicht so viel Amnesie zwischen den einzelnen Innenpersonen, sodass wichtige Details und der grobe Ablauf von Zeitspannen erinnert werden kann. Die Amnesie bezieht sich dann meistens vorrangig auf die Traumaerinnerungen an sich.
Meistens fällt Amnesie ohnehin eher in Kleinigkeiten auf: vermutlich kennt beinahe jeder Mensch das Gefühl, wenn man sich nicht sicher ist, ob man etwas geträumt hat oder es wirklich passiert ist, ob man etwas tun wollte oder es schon getan hat oder wo zur Hölle man noch gleich den Kugelschreiber hingelegt hat und wo wir schon dabei sind, was wollte ich eigentlich nochmal in diesem Raum? Stellt euch einfach diese Erlebnisse vor, aber jeden Tag, den ganzen Tag, ständig.

Neurologisch gesehen sind verschiedene Innenpersonen übrigens einfach verschiedene Gehirnaktivitätsmuster. Jeder Mensch funktioniert ein bisschen anders - benutzt verschiedene Bereiche des Gehirns öfter, andere weniger oft, es unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Bei den Innenpersonen ist das genauso. Extreme Beispiele können Sachen sein wie, dass eine Innenperson blind ist, während aber alle anderen ganz normal sehen können.
Mit diesem Hintergrund ist es relativ einfach zu erklären, dass manchmal (oder eigentlich sogar oft) nicht nur eine einzelne Innenperson im Bewusstsein anwesend ist. Manchmal gibt es ein Gefühl von „Matsch“, „Nebel“, „Blurriness“, bei dem für das System nicht klar bestimmt werden kann, welche Innenperson gerade da ist, vielleicht sind es auch zehn gleichzeitig, man weiß es nicht. Was ebenfalls oft vorkommt, ist das sogenannte „Co-Bewusstsein“, das den Zustand bezeichnet, in dem zwar eine Innenperson draußen sind, aber andere Innenpersonen relativ weit „vorne“ (im Bewusstsein) sind und somit einen Einfluss darauf haben können, was diese Innenperson fühlt, tut oder denkt. Einige Systeme hören die anderen Innenpersonen tatsächlich auch, in ihrem Kopf, und können somit miteinander reden.

Im weiteren Verlauf des Lebens, kann es bei Personen mit DIS passieren, dass neue Innenpersonen aufgrund von traumatischen oder sehr stressigen Ereignissen, entstehen. Das wird dann oft „abspalten“ genannt. Jedoch gibt es hier Uneinigkeiten darüber, ob sich Innenpersonen tatsächlich „spalten“ können oder ob es vielmehr so ist, dass es aus der Kindheit ungenutzte Seinszustände gibt, die in bestimmten Situationen „zum Leben erweckt“ werden, um mit diesen Situationen umzugehen. Darauf hat die Wissenschaft, unseres Wissens nach, bisher keine Antwort und jeder glaubt etwas anderes. Für uns persönlich fühlt es sich eher wie ein Abspalten an. (Eine These: Es könnte natürlich auch von System zu System unterschiedlich sein.)
Durch Verarbeitung des Traumas können einzelne Innenpersonen auch wieder zu einer „Gesamtperson“ verschmelzen (ebenfalls oft „integrieren“ genannt, aber von uns, wegen Streitigkeiten bezüglich des Begriffs, häufig als „zusammenblobben“ bezeichnet). Dies ist jedoch in der Regel nicht das angestrebte Ziel, sondern passiert eher einfach, weil es gerade für das Gehirn eben so Sinn ergab.

Entgegen des alten Namens, ist die dissoziative Identitätsstörung keine Persönlichkeitsstörung.
(Was genau eine Persönlichkeitsstörung ist? Ich habe keine Ahnung. Aber es ist vielen Menschen unglaublich wichtig, das klarzustellen, weshalb ich es an der Stelle zumindest mal erwähne.)

Falls ihr Fragen habt, dürft ihr uns die immer gerne stellen.