Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Samstag, 4. Juli 2020

#2: Leben mit dissoziativer Identitätsstörung

Für uns, oder an dieser Stelle eher für mich, fühlt sich die DIS so an:

Früher habe ich das nie verstanden. Dadurch, dass bei uns (zumindest im Alltagsteam) keine kompletten Amnesien bestehen, fühlten wir uns dennoch als eine Person, oder vielleicht sollte ich eher sagen: wir dachten, wir wären eine Person. So angefühlt hat es sich nie, aber wir wussten nicht, dass etwas anderes überhaupt existiert, also dachten wir das eben.

Ich wusste: meine Hobbys sind Ernährung, Kochen, Lesen, Schreiben. Ich mag es, mit Menschen zu reden, sie kennenzulernen, mich mit ihnen anzufreunden.
Also warum fühlte es sich so schlimm für mich an, mich mit Ernährung zu beschäftigen? Und warum hasste ich es so, zu kochen? Und warum fiel es mir so schwer, mit Menschen zu reden, warum hatte ich nie Worte, warum hatte ich manchmal sogar Angst?
„In der Uni bin ich ein komplett anderer Mensch“, sagte Melanie mal zu ruru, weil sie erklären wollte, dass „sie“ dort plötzlich total kommunikationsunfähig wird. Aber jeder Mensch ist doch anders in verschiedenen Umfeldern. Das ist doch ganz normal. Aber eben nicht so anders. Niemand verliert oder gewinnt Fähigkeiten, je nach Umfeld.

Regelmäßig brach ich zusammen, weil ich mich mit Ernährung beschäftigen „musste“. Meine Gedanken waren doch essgestört genug. Warum war das mein Hobby? War ich denn völlig von Sinnen? Das konnte doch gar nicht gesund sein! Ich sollte mir ein neues Hobby suchen. Kochen mochte ich doch ohnehin auch nicht.

Aber Melanie mochte dieses ganze Zeug, ohne Essstörung, also blieb es. Und ich blieb dabei, mich zu fragen, warum ich alle meine Hobbys hasste. Und manchmal fühlte Melanie sich, als wäre sie 12 (das war Mina). Oder sie hatte Zusammenbrüche, weil sie irgendeinen Menschen vermisste, mit dem wir vor fünf Jahren mal Kontakt gehabt hatten (das war Dawn).
Oder ich fragte ruru, ob es denn okay wäre, wenn ich ihn nie wieder küssen würde, weil das alles mich anwiderte, aber drei Minuten später kam Dawn raus und küsste ihn fünf Minuten lang. Was sich für mich dann total übergriffig anfühlte. Ich hatte das doch gar nicht gewollt! Warum kommunizierte ich immer, dass ich so was wollte, wenn das doch gar nicht der Fall war?

Man muss verstehen, das alles nahmen wir als eine Person wahr - die Handlungen, die Gefühle dazu nicht. Ich wusste, dass „ich“ Dinge getan hatte, die ich eigentlich niemals wollen würde. Ich wusste, dass „ich“ mir Hobbys ausgesucht hatte, die ich hasste, Freunde, die ich nicht mochte, denen ich misstraute, dass „ich“ „meinen“ Kühlschrank mit Dingen vollgestellt hatte, die ich gar nicht essen mochte. Ich erinnerte mich daran, sie gekauft zu haben! Was war falsch bei mir?
„Manchmal habe ich das Gefühl, als lebe ich zwei verschiedene Leben“, schrieb ich. „Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich zwei verschiedene Personen.“ Aber das alles erfuhr nie ein Psychologe. Was war das auch für ein dummer Gedankengang?
Die Probleme mit Sexualität sprach ich an, mehrfach. Dass ich Dinge tat, die ich nicht tun wollte und mich hinterher fühlte, als wäre ich missbraucht worden. Aber niemand erkannte, was das war. Ich glaube, sie alle dachten, das wäre meine Art mir einzureden, dass meine Exfreunde mich nicht alle missbraucht hätten (was sie nicht haben! jedenfalls nicht alle).

Und der erste Mensch, der die DIS erkannte, sagte es uns nicht, sondern nutzte es lieber aus.
Als wir überhaupt von der DIS als Traumafolgestörung erfuhren, war es 2019. Sechs, fast sieben Jahre nach dem ersten Besuch beim Psychologen. Vier Jahre nach den ganzen „ich fühle mich wie zwei Menschen“-Tagebucheinträgen.
Wur erfuhren davon, weil ein Freund von uns damit diagnostiziert wurde und wir uns ein Video darüber ansahen, weil wir nicht einmal wussten, was das eigentlich war.
Aber nach dem dritten Video wussten wir: das war, was bei uns falsch war (nur ohne Amnesie). Genau das.
Also schrieben wir eine Mail an unseren Psychologen (wo wir ein halbes Jahr nicht gewesen waren, weil die Therapie einfach nichts brachte) und erzählten ihm, dass wir das vermuteten und bekamen einen Termin, einen Monat später, wo der Psychologe mir erzählte, er hatte das bereits seit 1.5 Jahren als Verdachtsdiagnose. (Was mich immer noch wütend macht. Wenn ich das seit 1.5 Jahren vermute, warum erwähne ich dann nicht zumindest, dass solche Gefühle existieren oder mache präventiv den Fragebogen für dissoziative Störungen? Wir hätten sofort gewusst, was wir haben und nicht noch mehr Zeit verschwendet!)

Zwei Monate später stand die Diagnose. (Wir hatten inzwischen rausgefunden, dass Amnesien doch existieren, nur eben nicht 100%. Wir dachten einfach, Amnesie wäre gleich komplette Blackouts zu haben.)
Und es ist so unglaublich angenehm, es endlich zu wissen. Weil ich jetzt Ich sein kann und nicht mehr all meine Energie darauf verwenden muss, Melanie zu sein, was ich nie erreichen können werde.

Manchmal vermisse ich sie.
Melanie war unsere Hostin, zu der ich kaum Amnesie hatte, bis sie mit einer Traumaträgerin integriert ist, weil diese nicht mehr mit ihren Erinnerungen alleine klar kam.
Jetzt gibt es Lana und ich erinnere mich an nichts. Also fühlt es sich für mich so an, als wäre Melanie verschwunden. Und das tut weh, immer wieder. Manchmal ganz leise und dann wieder so laut, dass es den gesamten Raum ausfüllt.

Eine DIS zu haben ist grauenvoll, wenn man nicht versteht, was es ist. (Für uns war es das zumindest - ich weiß nicht, wie es anderen geht). Und selbst wenn man es weiß, ist eine DIS stellen- und auch zeitweise grauenvoll. Aber sie ist auch schön, manchmal. Weil man nicht alleine mit seinem Trauma sein muss. Weil man nicht mit irgendetwas alleine sein muss. Weil es immer jemanden gibt, der mitträgt. Mitlebt. Mitleidet. Mitbebt.

2 Kommentare:

  1. Habe gerade das erste Mal nach einem halben Jahr wieder bei dir reingeschaut und ich denke, jetzt kann ich das alles nach all den Jahren endlich zu einem gewissen Grad verstehen. Danke für diesen Post.

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    1. hawwu! Skye schlägt mich und sagt, du bist doof, aber ich wollte trotzdem antworten. Weil das nämlich nur Skye so doll sieht. Also, bestimmt nicht nur Skye, aber nicht so jederjeder.
      Lana meinte, sie hatte eigentlich nie vor den Kontakt abzubrechen, aber deine Reaktion auf die DIS war so doof, dass sie dann keine Lust hatte, dir das zu erklären.
      Aber das finde ich zumindest voll toll, dass du das jetzt verstehst! ~ Lilly

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