Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
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Donnerstag, 20. August 2020

#14: Diagnosefindung: kein Trauma, aber DIS?

Als wir die Vermutung aufgestellt haben, dass wir eine (partielle) DIS haben könnten, wussten wir kaum von Kindheitstraumata. Ein paar Erinnerungen waren vorhanden, aber definitiv nichts, von dem ein Kind eine DIS entwickeln würde. Da es vielen Systemen ähnlich geht oder sie sich vor der Diagnose erst gar nicht an irgendwelche Kindheitstraumata erinnerten, dachte ich, ich schreibe einmal eine Art "Anleitung" für Menschen, die denken, sie könnten möglicherweise eine DIS haben, die aber keine Erinnerungen an (Kindheits)Traumata haben.
Das Beste, was man tun kann, ist tatsächlich, es bei einem Therapeuten anzusprechen.
Allerdings sollte man möglichst auf die Einstellung des Psychologen achten. Es gibt nämlich viele Psychologen, die behaupten, Systeme existieren gar nicht und wären ein soziales Konstrukt. Eine gute Anlaufstelle wäre wohl ein Traumatherapeut. Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie hat auf ihrer Seite eine umfassende Liste von Traumatherapeuten. Ebenfalls haben Hilfsstellen für Betroffene von Gewalt häufig solche Listen, ebenso wie die kassenärztliche Vereinigung des jeweiligen Bundeslandes. Der Verein 'Vielfalt e.V.' führt zudem eine (nicht vollständige) Liste über Therapeuten, die sich mit der dissoziativen Identitätsstörung speziell auskennen.
Ein System kann man nämlich, nach jetzigem Forschungsstand, ohne Trauma gar nicht sein. (Es gibt Systeme, die sagen, dass sie kein Trauma haben. Über diese sogenannten 'endogenen Systeme' haben wir hier schon einmal geschrieben.)
Man kann aber definitiv ein System sein ohne sich an Trauma zu erinnern. Es wird eine oder mehrere Personen geben, die diese Traumaerinnerungen haben, aber durch die Amnesie kann die Existenz dieser Personen nicht bekannt sein.

Es gibt allerdings auch viele ähnliche Störungen! Es gibt die partielle DIS, bei welchen ebenfalls andere Identitätszustände existieren. (Ein Post, der die pDIS behandelt, findet sich hier.) Dies sind allerdings ebenfalls dissoziative Störungen, welche durch Trauma ausgelöst werden.

Es gibt die emotional instabile Persönlichkeitsstörung (oft Borderline genannt), die starke Identitätsunsicherheiten mit sich bringt. Diese kann ebenfalls ähnlich wie eine DIS aussehen. Deshalb werden Systeme auch häufig damit fehldiagnostiziert.
Soweit ich weiß ist Trauma für Boderline keine definitive Voraussetzung, allerdings ist Trauma bei Menschen, die Borderline haben, wohl sehr stark verbreitet.

Es gibt aber beispielsweise auch Schizophrenie! Wir haben einen Freund, der Schizophrenie hat und haben in Gesprächen mit ihm schon mehrfach festgestellt, dass die Symptome sehr ähnlich klingen wie die der DIS. Die Ursache und somit das Gefühl sind allerdings sehr, sehr anders - es kann aber trotzdem verwechselt werden. Wir haben sogar schon mal mit einer Person geredet, die Schizophrenie hatte, aber erst mit einer DIS fehldiagnostiziert wurde.
Soweit wir wissen, wird Schizophrenie zwar durch Traumata begünstigt, allerdings sind Traumata keine Notwendigkeit dafür.
(Wir haben übrigens auch schon mal mit einer Person geredet, die eine PTBS und zusätzlich Autismus hatte, was als DIS fehldiagnostiziert wurde, da die Symptome in dem Fall einer dissoziativen Störung wohl oft sehr ähnlich sind. Wobei ich nicht genau weiß, wie daraus eine komplette DIS-Diagnose entstanden ist; aber es sei erwähnt.)

Weiterhin gibt es die 'maladaptiv Daydreaming Disorder' (zu Deutsch maladaptive Tagträumstörung - einen offiziellen deutschen Begriff scheint es nicht zu geben oder wir finden ihn einfach nicht), welche durch sehr intensive Tagträume gekennzeichnet ist, die teilweise auch nicht mehr von der Realität zu unterscheiden sind. Hier kann es durchaus sein, dass es so etwas wie eine „innere Welt“ mit verschiedenen Personen darin gibt, allerdings basiert diese auf Tagträumen und nicht auf einer Bewusstseinsspaltung.

Vermutlich gibt es noch mehr ähnliche psychische Erkrankungen, die wir nicht kennen.

An letzter Stelle möchten wir erwähnen, dass verschiedene Situationen im Leben starke Identitätsunsicherheiten oder -schwankungen mit sich bringen können.
Ein Beispiel wäre die Pubertät. Teilweise weiß man in dieser Lebensphase überhaupt nicht genau, wer man ist, man probiert oft verschiedene Sachen aus, und das kann sich durchaus so anfühlen, als wäre man zwei (oder mehr) verschiedene Personen.
Auch können verschiedene Lebensereignisse zu plötzlichen, starken Wesensveränderungen führen. Das kann sich ebenfalls wie ein Persönlichkeitswechsel anfühlen, ist aber eine normale Reaktion auf extreme Ereignisse. Wenn es einen belastet, wäre an dieser Stelle aber auf jeden Fall der Besuch bei einem Psychologen ebenfalls sinnvoll, um das Ereignis zu verarbeiten und die Wesensveränderung zu akzeptieren.

Ebenfalls erwähnenswert ist, dass man, wenn man tatsächlich traumatisiert ist, in der Regel auch Traumasymptome haben wird - selbst wenn man sich nicht an Traumata erinnert. Diese können allerdings sehr konfus sein. Bei uns waren es depressive Episoden, Selbsthass, Stimmungsschwankungen, Selbstverletzung und später kamen dann sehr spezifische Albträume dazu (Traumflashbacks), wegen denen letztendlich auch die PTBS diagnostiziert wurde. (Obwohl weiterhin keine Traumaerinnerungen vorhanden waren!)
Die Symptome können aber auch sehr anders aussehen. Häufig sind beispielsweise Bindungsstörungen (entweder, dass man erst gar keine Bindungen aufbauen kann oder dass man sie viel zu schnell aufbaut), chronische Schmerzen (oft von Verspannungen), Immunschwächen mit häufigen Erkrankungen, ein sehr geringes Selbstwertgefühl, ...
Wir persönlich achten immer sehr stark darauf, wie oft sich jemand entschuldigt. Es gibt viele Menschen, die sich ständig entschuldigen - nicht als Reaktion auf Fehler sondern schon im Voraus. ("Tut mir leid, wenn ich störe, aber darf ich dich was fragen?" und ähnliche Sachen.) Diese Personen sind natürlich nicht alle traumatisiert, aber es scheint sehr häufig zu sein.
Es gibt zudem bestimmt auch viele Traumasymptome, die wir nicht kennen, da sie sehr spezifisch auf das eigene Leben angepasst sind.

Zum Schluss sei gesagt: Wenn man etwas über sich nicht versteht, ist es generell immer in Ordnung zu einem Psychologen zu gehen! Dafür braucht man kein Trauma oder massive Probleme. Genauso wie man manchmal auch mit einer sehr leichten Erkältung zum Arzt gehen würde, weil sie einfach nicht weggeht, darf man natürlich auch zum Psychologen gehen, wenn es einem psychisch nicht so gut geht, ohne dass direkt eine komplette Lebenskrise vorliegen muss.

Es sei aber ebenfalls erwähnt, dass die DIS und auch andere schwerwiegende Störungen in der Regel nicht innerhalb einer Sitzung diagnostizierbar sind. Wir wurden beispielsweise von einem Therapeuten diagnostiziert, den wir seit 1.5 Jahren kannten - und das, obwohl er den Verdacht schon relativ früh hatte, auch erst, nachdem wir selbst zusätzlich den Verdacht aufgestellt hatten.
Die meisten Systeme werden erst in Kliniken diagnostiziert und ich vermute, dass es bei anderen genannten Störungen teilweise ähnlich ist. Wenn man die Möglichkeit dazu hat, könnte also auch ein Besuch in einer Psychiatrie/Akutklinik oder in einer psychiatrischen Institutsambulanz sinnvoll sein.

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