Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
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Montag, 19. Oktober 2020

#23: ein kurzer Abstecher in die Traumadiagnostik

Die (k)PTBS ist von einer Reihe Symptome aus verschiedenen Symptomkategorien gekennzeichnet, von denen je nach betroffenem Individuum verschiedene zutreffen. Es gibt Symptome, die für die Diagnose definitiv zutreffen müssen, andere, die nicht zwingend zutreffen müssen, aber sehr häufig sind und wieder andere, die zwar ebenfalls auftreten können, aber nicht ganz so häufig sind.

In der Vergangenheit haben wir immer wieder mit Menschen geredet (meist Psychologen), die uns Symptome einreden wollten, die wir gar nicht haben, weil doch aber 95% aller Leute mit PTBS diese Symptome haben oder die bestimmte Symptomausprägungen, die wir haben, übersehen haben, weil sie nicht der "Standardsymptomausprägung" entsprechen. Teilweise haben wir natürlich auch selbst Symptome nicht wahrgenommen, weil diese beispielsweise nur bestimmte Innenpersonen betrafen, zu denen aber starke Amnesie bestand oder teilweise auch aus dem Grund, dass sie uns falsch kommuniziert wurden. Letzteres haben wir vor ein paar Tagen festgestellt und daraus ist im Endeffekt auch dieser Post entstanden.
Vermutlich geht es jeder Person mit einer posttraumatischen Belastungsstörung ähnlich. Es gibt einfach Symptome, die im ICD-10 (oder 11) stehen, die man so einfach nicht unterschreiben kann. Und irgendwie scheinen "alle anderen" auch ganz andere Symptomausprägungen in diese Richtung zu haben. Nur dass es eben immer andere Symptome betrifft.

Deshalb folgt heute eine Liste an Annahmen, die andere Menschen ständig über unsere PTBS machen (oder teilweise auch über die PTBS allgemein), die so einfach nicht stimmen; mit dazugehöriger Erklärung natürlich. Und zudem der erwähnten Falschannahme, die wir selbst jahrelang hatten.

  1. "Bei einer PTBS hat man immer Flashbacks."
    Falsch. Aber tatsächlich sogar vom Fachpersonal häufig so kommuniziert. Die Realität ist allerdings, dass die Diagnoserichtlinien ausschließlich sagen, dass man das Trauma wiederholt nacherlebt - das kann in Form von Flashbacks sein. Es kann jedoch auch in der Form von Intrusionen sein (eine Art Mini-Flashback, bei der einem jedoch voll bewusst ist, dass es sich um eine Erinnerung handelt und gerade nichts passiert). Selbst ein Wiedererleben in der Form von Albträumen ist für die Diagnose absolut ausreichend.

  2. "Bindungsstörungen bedeuten grundsätzlich, dass man misstrauisch gegenüber allen Menschen ist und (nahezu) niemanden an sich heranlässt."
    Ebenfalls falsch. Zwar scheint es bei der Mehrheit der betroffenen Bevölkerung so zu sein (zumindest nach unseren Beobachtungen), aber es gibt auch ein genau gegenteiliges Verhalten, das ebenfalls manchmal bei Bindungsstörungen auftritt: man schmeißt jedem Menschen sein Vertrauen entgegen, als hinge das eigene Leben davon ab. Das mache ich. Herzlich willkommen in meiner Welt voller Liebe und Verletzlichkeit. Ich freunde mich innerhalb von Minuten mit Menschen an, entwickle Gefühle für sie nach ein paar Stunden und muss mich die ganze Zeit zurückhalten, nicht jeden Menschen, den ich treffe, total mit Zuneigung zu überschütten, weil ich gelernt habe, dass das die meisten Menschen vollkommen überfordert. Und wenn ich dann damit anfange, ist es für die meisten Menschen trotzdem immer noch zu früh. Oder sie denken, ich muss in sie verliebt sein, sonst könnte ich mich gar nicht so verhalten. Oder andere Menschen denken das.
    Ich bin nicht naiv. Meine Menschenkenntnis ist größtenteils ziemlich gut, würde ich behaupten. Aber ich binde mich definitiv schneller an Menschen als ich ihre Vertrauenswürdigkeit einschätzen kann - und das ist auch eine Bindungsstörung. Wenn jemand nach drei Tagen sagt, dass er doch kein Interesse an der Freundschaft hat und man sich fühlt, als hätte man einen langjährigen Freund verloren. (Zum Glück halten meine Freundschaften selten lange genug, dass ich tatsächlich langjährige Freunde verlieren könnte, das war bisher in der Regel tatsächlich [re]traumatisierend.)
    Und generell kommt diese Form der Bindungsstörung bei uns auch deutlich häufiger vor als grenzenloses Misstrauen in andere Menschen. Wirklich misstrauisch sind nur eine handvoll von Innenpersonen.

  3. "Bei einer PTBS ist man grundsätzlich dissoziiert von seinem Körper oder hat zumindest ein sehr schwieriges Verhältnis dazu."
    Ich glaube, das ist tatsächlich in den aller-, allermeisten Fällen so; wobei ich mich auch irren könnte. Den Eindruck bekomme ich nämlich nur, weil gefühlt nahezu niemand (positiv) darüber redet. Aber vielleicht wird auch einfach das Thema nicht gemocht.
    Bei mir (und da kann ich an dieser Stelle wirklich nur von mir reden, bei vielen Innenpersonen ist es komplett anders) ist es so: mein Körper und ich, wir sind ein perfektes Team. Er ist echt super. Selbst mit kaputter DNA gibt er sich unendlich viel Mühe.
    Ich kann intuitiv den allermeisten Fällen sagen (ich würde sagen, ich liege so zu 98% richtig), ob Schmerzen, die ich habe, psychisch bedingt sind oder aufgrund einer körperlichen Verletzung/Krankheit auftreten. Letztes Jahr, als mein Immunsystem sich verabschiedet hat und mir von allen Seiten, allen Ärzten, allen Psychologen gesagt wurde: das passiert halt bei komplexen Traumafolgestörungen irgendwann. Das ist normal. Selbst da wusste ich, auch nach einem Jahr noch, dass die Ursache nicht psychisch ist (und siehe da: eine Schimmelbelastung in rurus Wohnung, spezifisch der Matratze, auf der ich bei ihm geschlafen habe, wurde gefunden, nachdem ich monatelang akribisch meine Symptome beobachtet habe). Ich stelle fest, welches Essen mir gut tut und welches nicht, ohne aufwendige Ernährungstagebücher zu führen. Und so weiter und so fort. Mein Körper und ich sind ein tolles Team. (Außer Hungersignale. Die habe ich nicht. Das ist sehr traurig.)

  4. "Vermeidung geschieht bewusst und willentlich."
    Vermeidung ist ein Symptom der (k)PTBS. Es werden Aktivitäten, Situationen oder Menschen vermieden, die einen an das Trauma erinnern, teilweise auch Gedanken daran, insofern das geht. Für uns klang Vermeidung immer nach einer Entscheidung. Natürlich in dem Gedanken getroffen, dass man bei einer bestimmten Aktivität vielleicht einen Flashback oder ähnliches haben könnte, also sehr nachvollziehbar, aber eben nie etwas, was wir gemacht haben. Das haben wir Psychologen auch immer gesagt - dass wir nicht vermeiden. Wir reden über unser Trauma, weil es wichtig für uns ist. Wir machen Dinge, von denen wir wissen, dass sie uns triggern könnten, weil wir sie für die Möglichkeit machen wollen, dass sie das vielleicht nicht tun. Das erste Mal, das wir uns aktiv zu Vermeidung entschieden haben, war Ende 2018, als wir beschlossen haben, dass wir nie wieder nach Hannover fahren würden. Davor nicht. Und niemand hat uns jemals erklärt, wie beschränkt unser Bild von Vermeidungsverhalten ist, bis wir neulich (wie so oft) irgendetwas nicht machen konnten, das wir eigentlich machen wollten, weil wir aus welchem Grund auch immer (ich erinnere mich nicht mehr an das Ereignis) so starke Panik davor hatten, dass es schlichtweg nicht möglich war, überhaupt das Haus zu verlassen, weil wir so doll geweint haben. Und plötzlich haben wir verstanden: das ist auch Vermeidung. Und das haben wir ständig. Wir wollen etwas machen, aber können es einfach nicht. Und hinterher ist Selbsthass, hinterher ist Frustration, hinterher ist Traurigkeit. Aber wir schaffen es eben einfach nicht. Vielleicht bei einem späteren Versuch.
    Im Endeffekt fühlt sich einfach das Wort falsch an. Etwas zu vermeiden klingt so, als würde man es freiwillig tun: ich will das nicht. Dann geht es mir schlecht. Und niemand redet darüber, dass es einfach schlichtweg nicht möglich ist. Dass man einfach auch schlichtweg nicht in der Lage ist, sich zu zwingen. Selbst wenn man die Dinge, die so viel Angst machen, trotzdem gerne machen würde.

    Mir war es wichtig, das insbesondere aufzuschreiben, weil ich nicht weiß, ob es nicht anderen traumatisierten Menschen genauso geht wir uns und sie jahrelang ständig denken: aber ich vermeide ja nichts.
    Vielleicht hatten wir auch einfach besonders viel Pech damit, dass uns nie vernünftig erklärt wurde, was genau mit Vermeidung eigentlich gemeint ist. Vielleicht ist unser Verständnis des Wortes grundsatzfalsch.

    Aber auch wenn es an dieser Stelle bloß ein Missverständnis war:
Euer Trauma ist mehr als Symptome. Davon abgesehen, dass man von einem Trauma nicht zwangsläufig eine PTBS entwickeln muss, um darunter zu leiden - es gibt viele Traumafolgen, die keine posttraumatische Belastungsstörung, aber trotzdem unglaublich belastend sind.
Gleichzeitig sind aber nicht nur wir sondern auch jedes Trauma individuell. Ihr müsst nicht die genau gleichen Symptome haben wie irgendjemand anders, um "richtig" traumatisiert zu sein. Jeder hat seine eigenen Symptome. Seine eigenen Folgen.
Bitte vergleicht eure nicht mit anderen oder andere mit euch und versucht, daran abzuleiten, wie (wenig) valide irgendeine Erfahrungsreaktion ist. Es führt zu nichts.

Sehr viel Kraft & Licht an euch.

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