Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
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Mittwoch, 25. August 2021

#71: You want a battle? Here's a war.

Er hat gesagt, er wird uns verkaufen, schreit es in mir. Zusammen mit Wir hätten nichts sagen dürfen. Wir hätten nicht laut sein dürfen.
Er weiß gar nicht, wo wir wohnen, flüstere ich zurück. Es ist alles in Ordnung. Wir sind in Sicherheit.
Unsere Psychologin sagt, dass wir ein (kleines) Trauma erlebt haben. Und ich spüre es selber. Wie ich bei jedem Geräusch zusammen zucke, jeden Schatten drei Sekunden zu lange anstarre. Die Welt, die nur ein Stück weiter entfernt zu sein scheint, die Erinnerung, die viel zu schnell viel zu weit weg rückt, die Wachsamkeit.
Aber ich fühle mich nicht traumatisiert. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich, als wäre ich in der Welt angekommen.
Ich habe geschrien, wiederhole ich fassungslos in meinen Gedanken.
Mir wurde geholfen, mit jedem Herzschlag.
Er hatte Angst vor mir.
Er. Hatte Angst. Vor mir.
Wie jemand wollte, dass ich Angst vor ihm habe und ich
zum ersten Mal
die Macht an mich zurückgerissen habe,
hinterlässt ein Gefühl von Sicherheit in der Welt.
Ich werde nie die unumstößliche Sicherheit fühlen, mit der andere Menschen durch die Welt gehen, dass ihnen niemals etwas schlimmes passieren wird. Vermutlich werde ich die spezifische Androhung von Zwangsprostitution nie ganz so einfach wegstecken können. Es wird immer schlimmer sein als jedes Ich bringe dich um jemals sein könnte. Aber ich kann mich wehren. Ich muss nicht mehr machtlos sein. Meine Stimme, mein Körper, mein Leben gehört mir.
Und egal,
wie sehr ein Teil von uns immer noch Blyth gehört,
meine Stimme kann niemand mir mehr nehmen.

23. August 2021, 17.00, Hamburg. Wir sind zusammen mit einem Freund im Bus, ich sitze auf einem der Behindertenplätze, er steht neben mir. Dass wir zusammengehören ist nicht sofort ersichtlich, weil wir gerade nicht reden. In Altona steigt ein Mann ein, setzt sich in die Sitzreihe rechts neben mir und fängt ein Gespräch an. Als er den Gehstock, den ich seit 1.5 Wochen besitze, kommentiert mit „ich hatte auch mal einen Krükstock, allerdings mit einer Schusswaffe drin“, fange ich an, ihn zu ignorieren. Zwar textet er mich weiterhin zu, ich antworte ihm allerdings nicht mehr und schaue ihn auch nicht mehr an. Irgendwann streichelt unser Freund unterstützend meine Schulter. Daraufhin fängt der Mann an, ihn zu beleidigen. Über meinen Kopf fliegt der Inhalt eines beliebigen Gangster-Rap-Lieds, gepaart mit Ich schlag dich zusammen und Ich bringe dich um. Ich sitze da, ein Stück mehr dissoziiert, mit stetig mehr Angst in meinem Körper und vor allem unsicher, was zur Hölle ich tun soll. Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass er nicht mitten im Bus anfangen wird, jemanden zusammenzuschlagen. Aber falls doch, wird diese Person, wenn ich irgendetwas sage, höchstwahrscheinlich ich sein. Dass wir irgendwann aus dem Bus aussteigen und er dann jemanden zusammenschlagen könnte, kommt in meinen Gedanken gar nicht vor. Dass der Busfahrer eine Telefonanlage hat, mit der er die Polizei zur nächsten Haltestelle rufen kann, auch nicht.
Irgendwann beleidigt der Mann unseren Freund dafür, dass er „seine Freundin“ nicht beschützt. Vielleicht brauche ich das ja gar nicht, denke ich. Ich will nicht beschützt werden müssen. In mir regt sich Widerstand.
Um 17.04 hole ich mein Handy raus und öffne die Kamera. Zwei mal schließe und öffne ich sie wieder. Selten habe ich mich so unsicher gefühlt. Der Gedanke daran, dass der Mann mir nichts tun kann, was ich nicht in schlimmer schon erlebt habe, beruhigt mich. Die Tatsache, dass ich dafür sorgen kann, dass er bestraft wird, wenn er etwas macht, ebenfalls.
Um 17.05 stehe ich auf, zücke mein Handy und mache ein Foto von dem Mann. Dann rufe ich quer durch den Bus. Dass da ein Typ ist, der uns bedroht und meint, er würde uns umbringen. Dass ich ein Foto für die Polizei gemacht habe. Dass ich das sage, falls er tatsächlich was macht, damit der gesamte Bus es sieht und ich Zeugen habe.
Die gesamte Aufmerksamkeit des Busses liegt auf uns. Der Mann hält sich die Hände vors Gesicht, damit niemand ihn sehen kann. Fast ist es lustig. Selbst wenn ich das Foto gesetzlich nicht verwenden kann, kann ich die genauste Beschreibung abgeben, die irgendjemand haben könnte. Eine Frau neben mir sagt, ich solle am besten zum Busfahrer gehen, also drücke ich unserem Freund unseren Gehstock in die Hand und begebe mich in diese Richtung. Auf halbem Weg ruft mir der Mann hinterher: „Ich steig ja schon aus. Ich muss eh an der nächsten Haltestelle raus.“
Um 17.06 steigt er aus, natürlich nicht, ohne uns noch hinterherzurufen „N*tte. Du wirst noch Geld für mich anschaffen“. Dass das schlimm sein wird, ist mir klar. Die Wichtigkeit der Situation aber noch mehr.

Seitdem wir den Gehstock besitzen, werden wir andauernd belästigt. Was früher alle paar Jahre passiert ist, passiert jetzt mehrmals pro Woche. Aber die Welt verändert sich, wenn man laut ist. Zu einem Ort, an dem man nicht mehr machtlos ist. Zu einem Ort, an dem einem Menschen helfen, wenn irgendein Typ einen ungefragt anfasst, an dem Täter plötzlich Angst bekommen, in ihrer unangreifbaren Welt.

24. August 2021, bei unserer Psychologin. Aber daran merke ich, sage ich, dass es mir besser geht. Vor drei Jahren hätte ich ganz anders reagiert.
Was war denn vor drei Jahren?
Früher hätte ich mich nie getraut, laut zu werden oder mich zu wehren. Das lerne ich erst seit drei Jahren.
Und wir reden über Blyth und sie sagt: „Auch in drei Jahren wird es noch Zeitpunkte geben, wo Sie hier sitzen und mir sagen werden, dass er ein viel tollerer Therapeut war als ich“ und zum ersten mal in einem therapeutischen Gespräch fühle ich mich verstanden. Zum ersten Mal wurde begriffen, verstanden, was das der Missbrauch bedeutet, warum es so anders ist.
Ich habe das Gefühl, dass die Welt ein bisschen mehr zu mir gehört.

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