Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
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Freitag, 29. Oktober 2021

#74: Die wichtigste Frage

(CN: relativ grafische Benennung von Traumadetails.)

„Habt ihr euren Therapeuten eigentlich angezeigt?“, fragt irgendjemand, schon wieder; zum wievielten mal kann ich lange nicht mehr zählen. Unserer Ex-Psychologin habe ich vorgeworfen, was ich insgeheim jedes mal unterstelle: der Gedankengang von 'aber es ist eure Aufgabe, dass er seine Position nicht weiter ausnutzt'. Ob bewusst oder unbewusst zu dieser Frage führend, spielt keine Rolle.
„Er arbeitet nicht mehr in seinem Beruf“, rede ich Menschen oft gut zu. „Nein, wir haben ihn nicht angezeigt, weil wir erst zu spät verstanden haben, dass es überhaupt Missbrauch war“, verteidige ich mich regelmäßig.

„Ich hab das nur gefragt, weil ich wissen wollte, was der Stand der Beziehung ist“, hat unsere Ex-Therapeutin beteuert. Ich glaube ihr, dass sie niemals bewusst uns die Verantwortung für alles, was er noch machen könnte, geben würde. Das glaube ich generell, bei jedem Menschen. Und trotzdem weiß ich: niemand fragt jemals, ob wir unseren Vater angezeigt haben. Alleine das spricht Bände.

Manchmal denke ich, dass ich einfach jedes mal mit „Was zur Hölle geht dich das bitte an?“ reagieren sollte. Denn ja: was zur Hölle geht es Menschen an? Ob wir schon in einem Gerichtssaal sitzen und uns retraumatisieren lassen durften. Was an unserem nicht existenten Verhältnis verleitet sie dazu, sich einzubilden, das wäre überhaupt eine angemessene Frage?
Aber dann denke ich mir, dass ich Menschen nicht für Neugierde bestrafen möchte. Das ist es doch nur. Eine harmlose Frage. Ein kurzes 'Nein'. Oder selbst ein 'darüber möchte ich nicht reden'.
Aber ich möchte darüber reden. Ich möchte darüber reden, dass es alles ist, was jeder jemals wissen möchte. Nichts anderes interessiert Menschen an dem Verhältnis zwischen uns und Blyth. Nichts anderes fällt ihnen ein zu Schreiben oder Sagen, wenn wir unser Herz nehmen und es in irgendeinen Blogpost oder eine Therapiestunde quetschen. „Und, habt ihr euch schon so richtig schön retraumatisieren lassen?“

„Habt ihr schon mehreren, fremden Leuten erzählt, wo genau er, an welchem Datum, zu welcher Uhrzeit, genau seinen Penis an oder in euch hatte, wie oft er eure Hände festgehalten hat, um euch zu was genau, im Detail, zu zwingen, wie oft er euch wo genau gebissen hat und wann, wie oft ihr Nein gesagt habt, nur um euch sagen zu lassen, dass es kein Missbrauch ist, wenn ihr nicht wenigstens dieses Wort in den Mund genommen habt und dass ihr es ohnehin so wolltet und schön fandet?“
„Habt ihr euch schon euren hochoffiziellen Brief vorhalten lassen, in dem ihr beteuert habt, dass an den Gerüchten, dass er mit euch zusammen ist, definitiv nichts dran ist, dass es eine Frechheit ist, dass jemand so weit gehen würde, so etwas zu lügen, wo ihr betont habt, dass euer Verhältnis zu ihm definitiv rein familiär ist?“

Das alles fragt ihr und mehr.
Herzlich Willkommen in der Welt von Anzeigen, wo man jedes kleine Detail chronologisch irgendwo hinkotzen muss, um sich dann erneut zerstückeln zu lassen. Nein, wir sind noch nicht in den Genuss gekommen. Vielen Dank der Nachfrage.
Ich hoffe, dass jeder, der uns das schonmal gefragt hat (es sei denn, wir sind voll gut befreundet), darüber nachdenkt, ob diese Frage wirklich so wahnsinnig wichtig ist. Und wenn ja, warum. Vielleicht könnt ihr dann aufhören, andere Menschen dasselbe zu fragen. Es geht euch einfach schlichtweg nichts an. Es hat keine Relevanz. Nicht für euch.

1 Kommentar:

  1. Ich glaube, ich habe diese Frage nie gestellt. Sie hat mich aber viel beschäftigt, ja. Warum ich sie nie gestellt habe, kann ich nicht sagen. Dennoch habe ich aber nie darüber nachgedacht, was sich hinter der Anzeige verbirgt. Selbstverständlich ist es den meisten klar, dass genau diese Fragen gestellt werden (müssen), um das alles zu bewerten und entsprechend auslegen zu können. Dennoch war es für mich nie präsent, dass eine Anzeige all die Traumata wieder hochholt.
    Daher war mein Gedanke dazu gerade nur, dass es mir gar nicht bewusst war und anderen vielleicht auch nicht. Es stimmt, dass man selbst sich dieses Recht nicht herausnehmen darf, um eine solche private Frage zu stellen. Aber ist nicht jede Frage privat? Wo fängt es an, dass man Grenzen überschreitet? Und wenn unsicher ist, ob man eine Grenze überschreitet, wie sichert man sich ab? Mit einem klassischen "Darf ich mal was (Privates) fragen?".
    Grundsätzlich zielt die Frage der Anzeige aber darauf ab, um die Situation eines anderen besser verstehen zu können. Was bewegt einen Menschen dazu jemanden nicht anzuzeigen, der offenbar Unrecht begangen hat? Ist es nicht absurd, dass man mehr Angst vor der rechtlichen Situation, den Fragen, dem Verfahren hat als damit leben zu müssen, dass dieser Menschen ohne Konsequenz davon gekommen ist?
    Vermutlich ist das für jemanden, der nicht selbst betroffen ist, schwer nachzuempfinden. "Ich würde sofort Anzeige erstatten...", vermutlich auch ein Satz, der oft gesagt wird. "Wenn ich an deiner/eurer Stelle wäre..." usw.

    Bin ich in der Position einen Rat zu geben? Vermutlich nicht. Sollte ich jetzt um Erlaubnis fragen, ob ich es darf? Ich weiß es nicht. Kann ich die aktivierte Kommentarfunktion so auffassen, als sei es gewollt? Unklar.

    Also kein Rat, sondern nur ein weiterer Gedanke. Schützt euch selbst und zwar mit einer Antwort, die euch gut tut. Wenn es ein "Nein" ist, sagt es. Wenn es ein "Das geht euch nichts an ist", sagt es. Wenn es ein "Hör auf mir solche Fragen zu stellen", dann sagt es! Seid laut und steht für euch ein.
    In euch ist so viel Wut, so liest sich der Post, lasst ihr freien Lauf! Wut ist ein Gefühl, dass zugelassen werden darf/ muss/ soll/ kann, so wie jedes andere Gefühl auch. Es ist doch längst an der Zeit, dass man auch endlich mal "negative" Emotionen zeigen darf.

    Wenn dieser Kommentar also nicht angebracht war, SAGT ES! Ich kann mit der Antwort um.

    Und wenn ihr wollt, fühlt euch geflauscht (und wenn nicht, dann, sagt es)

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