Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Donnerstag, 16. Dezember 2021

#83: Wahrnehmung und Einbildung

Unsere Psychologin ist immer wieder überrascht davon, dass wir unserer eigenen Wahrnehmung so sehr vertrauen. Denn normalerweise ist das nicht so, wenn man traumatisiert ist. Man wächst immerhin in einer Welt auf, in der man ständig nur hört, man würde sich anstellen, man würde lügen, man würde sich Dinge nur einbilden, spürt, die eigenen Gefühle sind nicht wichtig, man selbst ist nicht wichtig, aus jeder Ecke dröhnt es „deine Wahrnehmung ist falsch“.
Wir sind natürlich nicht vollkommen unbehelligt davon. Blyth hat das wunderbar ausgenutzt.
Aber wir sind schon verhältnismäßig frei davon, können uns selbst vertrauen und oft auch durchsetzen, dass unsere Wahrnehmung nicht falsch ist. Zumindest uns selbst gegenüber.
Und immer wieder kommt die Frage auf, wie wir das behalten konnten, trotz allem. Dass es ja irgendwas gegeben haben muss, das uns gesagt hat, dass unsere Wahrnehmung richtig ist.
Aber umso mehr ich darüber nachdenke, desto weniger glaube ich das.
Ich glaube, ich denke einfach zu mathematisch, um mein eigenes Erleben in Frage zu stellen.
Denn es gibt Meinungen und es gibt Fakten.
Eine 4 ist immer eine 4.
Wenn ich Schmerzen fühle, fühle ich Schmerzen.
Die 4 kann auf verschiedene Arten entstanden sein - es gibt viele Möglichkeiten, auf eine 4 zu kommen. Zum Beispiel 2 + 2. Oder 2 * 2. Oder 20 / 5. Oder  7 - 3. 8 * 0.5. Aber es ist trotzdem alles eine 4.
Schmerzen können auf unterschiedlichste Arten entstehen. Wenn ich zum Arzt gehe und sage, ich habe Schmerzen und er stellt nichts fest und sagt mir „bei Ihnen ist alles in Ordnung“, dann heißt das (vorausgesetzt er hat nichts übersehen), dass es keine medizinisch relevante Ursache für die Schmerzen gibt. Ich fühle aber trotzdem Schmerzen. Das ist einfach ein Fakt. Es ist keine Meinung - sonst könnte ich ja einfach meine Meinung ändern und die Schmerzen wären weg.
Also könnten die Schmerzen vielleicht eine psychische Ursache haben. Dann ist natürlich nicht wirklich mein Knie kaputt, sondern es tut einfach nur weh.
Selbst wenn wir den beliebten Satz nehmen: „Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein.“ Was anderes ist denn die Einbildung eines Sinnesreizes als eine Halluzination? Und eine Halluzination entsteht auch irgendwie. Hat also eine Ursache. Es ist halt nicht wirklich mein Knie kaputt, aber es tut trotzdem weh.
Man kann einfach nicht etwas fühlen, ohne dass man es tatsächlich fühlt. Das ist nicht, wie Biologie funktioniert. Eine 4 ist eine 4 und Schmerzen sind Schmerzen.

Okay, aber was ist mit komplexeren Sachen wie der DIS, fragt man sich jetzt vielleicht. Das ist ja kein klar fühlbarer Zustand. Bei so etwas kann die eigene Wahrnehmung vielleicht falsch sein.
Nehmen wir das mal auseinander.
Ich habe eine bestimmte Persönlichkeit. Ich verhalte mich in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art und Weise. Das ist ein Fakt - das tut jeder Mensch. Manchmal war es bei uns jedoch ganz anders - „ich“ war dann einfach anders und „ich“ konnte auch nichts dagegen tun. Es fühlte sich an, als wäre „ich“ eine andere Person.
Das ist ein Fakt. Ich war anders - kann man feststellen. Ich konnte nichts gegen tun - sonst hätte ich es ja, denn ich wollte. Es fühlte sich so an - Gefühle sind Fakten. Sie sind Biologie. Es sind hormonelle Reaktionen. Man kann das irgendwie messen, wenn man möchte. Mathematik. Eine 4 ist eine 4 und ein Gefühl ist ein Gefühl.
Aufgrund von Fakten, die ein Psychologe interpretiert hat, wurde uns eine DIS diagnostiziert.
Wenn die Diagnose falsch ist? Dann wurde falsch interpretiert.
Man kann sich keine Fakten einbilden.
Einbildung existiert nicht. Also, wirklich. Wenn ich aus dem Augenwinkel einen Schatten sehe und ich drehe mich um, aber da ist nichts, ich habe ihn mir also „eingebildet“. Das geht halt gar nicht. Dass ich einen Schatten gesehen habe, ist ein Fakt. Es war halt nur nichts da, vielleicht war es eine Halluzination, vielleicht irgendein komisches Lichtphänomen, irgendeine Fehlfunktion meiner Augen, was weiß ich. „Einbildung“ ist nur ein Wort für Fakten, die nicht erklärbar sind (für die man nicht sofort eine Ursache finden kann).

Wahrnehmung ist auch einfach ein Fakt. Alles, was man denkt, fühlt, was auch immer ist ein biologischer Prozess. Biologische Prozesse kann man messen. Vielleicht noch nicht jetzt, aber in der Theorie ist es möglich. Wenn ich Schmerzen empfinde, ist das ein biologischer Prozess in meinem Gehirn. Wenn ich Angst habe, ist das ein biologischer Prozess in meinem Gehirn. Existieren ist ein biologischer Prozess.
Fakten sind einfach keine Meinungen.
Und Existieren auch nicht.

2 Kommentare:

  1. Danke!!! Das habe ich heute sehr gebraucht.

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  2. Habe bestimmt 5 Minuten krampfhaft versucht, herauszufinden wie man bei 7 - 3,8 * 0.5 auf 4 kommt. Dann habe ich bemerkt, dass zwischen der 3 & der 8 ein Punkt ist und es sich um zwei verschiedene Rechnungen handelt. Musste schmunzeln.

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