Disclaimer: wir reden wie immer nur über unsere eigenen Erfahrungen und unser eigenes Empfinden, aber es war mir wichtig, das an dieser Stelle extra anzumerken, weil der Text sonst, glaube ich, so klingt, als würden wir anderen Leuten ihr Erleben absprechen wollen. Die Intention ist aber, über unser Erleben zu reden und darüber, dass es schlecht ist, anderen Menschen Lösungen aufzuzwingen, die nicht zu ihrem Erleben passen. Wenn euer Erleben von unserem abweicht, ist es einfach euers - und damit immer richtig und wichtig.
„Das ist wie eine Sucht“, hast du gesagt, damals, vor mittlerweile fast zehn Jahren. „Man verletzt sich selbst und dann braucht man es immer mehr.“
Wir haben gezählt, damals - ein Tag, eine Woche, ein Monat ohne Selbstverletzung. Als wäre es eine Errungenschaft, den Schmerz in uns so gut zu ignorieren. „Ich bin stolz auf dich“, hast du gesagt als der Monat um war. Vielleicht war das wirklich für dich.
Es hat sich nie wirklich angefühlt. Es ist keine Sucht das Gefühl zu haben, wenn man den Schmerz in sich nur sichtbar genug macht, kann er vielleicht endlich existieren. Es hat sich nie richtig angefühlt. Aber ich hatte keine Worte. Ich habe sie jetzt. Ich schäme mich. Irgendetwas zu sagen.
Wenn man sich aufschneidet, fügt man sich viele kleine Wunden zu. Oder große - je nachdem. Jede einzelne dieser Wunden kann sich entzünden, in jede einzelne dieser Wunden gelangen Bakterien. Es ist nicht wahrscheinlich, aber es besteht immer die Chance, dass irgendetwas sehr schiefläuft und man schlimme Konsequenzen bekommt. Amputation. Tod. Was auch immer.
Biologische Fakten. Sich aufschneiden ist gefährlich. Wenn man tief schneidet, trifft man im schlimmsten Fall Nerven oder Sehnen.
Wir haben es trotzdem getan, weil es geholfen hat. Niemand würde sich freiwillig Schmerzen zufügen, wenn es nicht helfen würde. „Es hilft nicht“, habe ich zu oft gehört, als dass ich es zählen könnte. „Hör auf damit.“
Aber es hilft.
So.
Viel.
In unserer Tasche befinden sich Rasierklingen, seitdem wir uns eingestehen konnten, dass das alles Lügen sind. Vielleicht kann ich in eine Chili beißen, um die Gefühle in mir genauso zu regulieren wie, wenn ich sie aus mir rausschneide. Es ist deutlich gesünder. Es gibt hunderte Sachen, die wir inzwischen lieber tun als uns selbst zu verletzen. Sport oder Malen oder Singen oder Weinen. Aber das Problem geht nicht weg. Das Problem bleibt dasselbe. Es geht uns scheiße, in solchen Momenten. Unglaublich sehr. Und es bringt niemandem etwas, damit dazusitzen und keine Alternative zu haben und nichts machen zu können außer sich zu denken „aber ich bin schon bei 23 Tagen“.
„Aber ich bin schon bei 398 Tagen.“
Selbstverletzung ist keine Sucht. Man wird nicht rückfällig, weil man es einmal tut. Wenn man es plötzlich wieder jeden Tag tut heißt das nur, dass man lange genug ignoriert hat wie scheiße es einem geht, ohne eine gute Alternative zu haben damit umzugehen. (Oder dass es einem in letzter Zeit besser ging.)
Das Problem ist nicht Selbstverletzung, sondern die Ursache. Der Missbrauch, der passiert ist. Das Trauma, das man erlebt hat. Die Depressionen oder sonstige psychische Krankheit oder was weiß ich.
„Wenn du dich aufschneiden würdest, weil du es so toll findest, dann wäre das kein Problem. Aber ich nehme an, das ist nicht der Fall.“
„Was will da aus dir raus?“
Wir sind nicht böse, weil Selbstverletzung Stress reguliert. Und auch sonst niemand. Und auch kein Problem, nicht egoistisch, was auch immer andere Menschen so sagen oder zeigen.
Ich habe Angst, dass dieser Text so klingt, als würde er Selbstverletzung verherrlichen wollen. Vielleicht tut er das, für manche Personen. Aber gerade dachte ich: wenn es mir schlecht geht und es gibt Wege, dass es mir besser geht, nehme ich den mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis. Inzwischen habe ich viele Wege gesammelt. Und manchmal verletze ich mich selbst. Und ich werde mir nie wieder eintrichtern lassen, dass es nicht hilft. Lügen helfen niemandem.
Und liebe psychisch gesunde Person, die das sagt: du hast keine Ahnung. Bitte sei einfach leise und mach es nicht zum Problem anderer Menschen, dass du nicht aushältst, dass es jemandem so schlecht gehen könnte, dass er sich selbst verletzen will.
Und das klingt sehr drastisch. Natürlich ist das nur, wie wir unser Leben wahrnehmen - für andere Menschen kann das komplett anders sein, sie können andere Gründe haben, ihnen können andere Dinge helfen. Uns hat es geholfen, Selbstverletzung einfach als eine von vielen Ressourcen zu sehen, die uns inzwischen zur Verfügung stehen und nicht als böses Unheil, das man unbedingt und schnellstmöglich vollends aus seinem Leben verbannen muss. Deshalb wollte ich das schreiben.
Denn wenn es uns geholfen hat, gibt es irgendwo jemanden, dem derselbe Gedankengang auch hilft. Der vielleicht niemanden hatte, der gesagt hat, dass Selbstverletzung nur eine Ressource ist. Ohne Wertung.
Dass das Problem ist, dass ein Problem existiert.
Und nicht Selbstverletzung.
Das Problem ist, dass ein Problem existiert, ja. Das Problem ist aber auch, dass durch die Selbstverletzung weitere Probleme entstehen (können). Kosten-Nutzen, ja, vielleicht ist das so zu bewerten. Und Selbstverletzung ist nicht nur das Anlegen einer Klinge, meiner Meinung nach. So viele Arten der Selbstverletzung sind Ventile, um sich besser fühlen zu lassen. Es ist legitim, einen Weg zu wählen, der hilft, wenn auch nur kurzzeitig. Und es ist okay, wenn sich dazu entschlossen wird, sich nun auf diese Weise zu helfen, aber dennoch sollte in meinen Augen immer das Ziel sein, einen Weg zu finden, bei dem das Verhältnis von Kosten-Nutzen sich zur Nutzenseite entwickelt. Ein weiterer Weg, wie immer, wenn man eine Gewohnheit, denn ja, irgendwo ist auch Selbstverletzung das, ganz gleich, ob jeden Tag oder einmal im Jahr, zu ändern versucht.
AntwortenLöschenIch wünsche mir nur, dass jede Person, die den Weg der Selbstverletzung gewählt hat oder wählen musste, Ausschau nach einer Abzweigung hält, um vielleicht irgendwann einen anderen Weg gehen zu können oder jedenfalls nur wenige Schritte auf dem Weg der Selbstverletzung.
Ja, du hast vollkommen Recht. Dass es andere Formen von Selbstverletzung gibt, ist hier eigentlich bekannt - aber wurde beim Schreiben des Textes irgendwie vollkommen ausgeblendet.
LöschenUns persönlich hat es tatsächlich geholfen, nach anderen Wegen zu suchen, indem wir uns eben "erlaubt" haben, uns selbst zu verletzen, weil es dadurch von so einem "das ist böse, du darfst das nicht" zu einem "es ist okay, wenn noch keine Alternative bekannt ist" geworden ist. Und man kann halt einfach viel besser nach Alternativen suchen, wenn man sich nicht durchgehend dafür hasst, dass man noch keine Alternativen hat.
Also, letzteres hat einfach massiv dazu beigetragen, dass es uns noch schlechter ging. Irgendwann meinte ein Psychologe halt das zu uns, was wir auch in dem Text geschrieben haben und eigentlich so innerhalb von zwei Wochen war Selbstverletzung überhaupt kein großes Thema mehr. Das war richtig heftig. Also, davor haben wir es quasi jeden Tag gemacht und danach so alle paar Monate und es wurde dann halt auch immer weniger, als wir mit der Zeit dann eben auch Alternativen gefunden haben. Vorher gab es irgendwie innerlich so eine Art Widerstand gegen Alternativen, weil sich die Suche nach Alternativen anfühlte, als würden wir dazu gezwungen werden, beziehungsweise als würde es eben nicht wirklich darum gehen, dass es uns besser geht, sondern eben darum, dass es für andere Menschen nicht so unangenehm ist.