Ich habe selbst keine Ahnung, wie schlecht es uns eigentlich geht.
Ich stelle Probleme erst fest, wenn sie nicht mehr da sind.
Wir haben seit Jahren jeden Tag Schmerzen, aber ich dachte, uns belastet das nicht, bis wir vor zwei Jahren mal zwei Wochen lang jeden Tag Schmerztabletten genommen haben. Es ging uns plötzlich viel besser, wir hatten viel mehr Energie für den Tag.
Gerade haben wir starke Schlafstörungen, zum ersten Mal in unserem Leben. Vorher sind wir zwar jede Nacht zwischendurch aufgewacht, aber da wir immer sofort wieder einschlafen konnten und uns auch ausgeschlafen fühlten, hatte ich nicht das Gefühl, dass es ein Problem ist. Jetzt haben wir aufgrund der starken Schlafstörungen Beruhigungsmittel ausprobiert – nicht mal viel, ⅓ der auf der Packung angegebenen Dosierung (also eine Tablette der niedrigsten Dosierung, die wir finden konnten, pro Tag). Ich fühlte mich noch nie so entspannt in meinem gesamten Leben. Ich hab das Gefühl, es könnte was Schlimmes passieren und ich könnte damit umgehen wie ein normaler Mensch. Samstag ist unsere Heizung ausgefallen (schon wieder, sie ist kaputt und wir warten auf eine neue) und nach anfänglichem 20minütigen Weinen, weil alles in dieser Wohnung kaputt ist und wir das gerade echt nicht gebrauchen können, dass wir uns alle drei Tage um irgendetwas daran kümmern müssen, haben wir mit dem Techniker telefoniert und uns Kuscheldecken und Wärmeflaschen geholt und die Vermieter gefragt, ob sie uns eine portable elektrische Heizung besorgen können bis die neue Heizung geliefert wurde (was sie dann auch getan haben).
Wir wachen nachts auch nicht mehr zwischendurch auf.
Natürlich habe ich in der Vergangenheit gemerkt, wenn wir Albtraumphasen hatten, dass es uns viel schlechter geht als sonst. Normalerweise haben wir nämlich nur einen Albtraum pro Woche und dann eben plötzlich jede Nacht mehrere. Aber wie soll ich bemerken, wenn der beste Zustand, den ich im Alltag jemals erreichen konnte, mich belastet? Ich kenne kein Leben Davor.
Seitdem frage ich mich, wie doll es mich eigentlich belastet, Amnesie zu haben. Wie sollte ich das feststellen? Das Einzige, was ich dazu weiß, ist: letztes Jahr konnten wir vorübergehend ein anderes Medikament nehmen als wir normalerweise nehmen und mussten dadurch statt zwei mal am Tag (mit einem Abstand von mindestens sechs Stunden dazwischen) nur noch einmal am Tag an unsere Medikamente denken (auch wenn die Menge annährend dieselbe war). Es fühlte sich an wie ein anderes Leben. Ich fühlte mich total befreit und habe es nie vergessen, die Tabletten zu nehmen (im Gegensatz zu normalerweise, wo wir ständig die Morgensdosis vergessen bis es uns dann um 15 Uhr einfällt, aber dann ist es halt auch zu spät). Natürlich geht es uns körperlich auch besser, wenn wir nicht ständig vergessen, unsere Medikamente zu nehmen. Natürlich wusste ich das auch. Aber ich wusste eben nie, dass es mich psychisch belastet es ständig zu vergessen. Wo belastet mich das noch? Ich kann es nicht wissen.
Natürlich ist mir zumindest auch bewusst, dass ich mich im Alltag deutlich belasteter fühlen würde, wenn wir nicht den ganzen Tag Zuhause wären, sondern beispielsweise Arbeiten würden. Vielleicht würde mir dann jemand eine Aufgabe mitteilen und ich würde sie vergessen und das würde mich dann total stressen. Zumindest vergesse ich ja auch so ständig alles, was ich eigentlich machen soll und muss mir für alles Listen machen. Aber ich arbeite ja nicht, also kann ich es nicht wissen. Außerdem vergessen ja auch Menschen ohne Amnesie Dinge – ich weiß nur nie wie viel.
Dann wird mir gesagt, ich scheine wenig belastet, während ich weiß, dass, sobald ich versuche irgendetwas zu machen, es mir schlecht geht. Nicht unbedingt so schlecht, dass ich nicht damit leben kann, aber so schlecht, dass ich weiß, dass ich nicht langfristig damit leben könnte. Und in der Tagesklinik funktionierte das, weil es ja nur neun Wochen waren. Und wenn ich mich mit Freunden treffe, funktioniert das, weil ich sie ja nicht jeden Tag sehen muss und ansonsten nichts machen muss. Ich will arbeiten und ich rede mir ein: na ja, ich fang einfach damit an (sobald ich Therapie habe) und dann kann ich schon jedes aufkommende Problem irgendwie lösen und dann funktioniert das schon alles! Weil ich es so satt habe jeden Tag einen ganzen Tag zu haben, von dem ich langsam einfach nicht mehr weiß wie ich ihn füllen soll.
Das existiert alles, aber irgendwie hört es nie jemand. Und wer weiß, vielleicht geht es mir ja wirklich verhältnismäßig extrem gut. Ich dachte das selber immer. Langsam weiß ich es nur nicht mehr. Was verhältnismäßig ist oder wie es eigentlich anderen Menschen geht.
Ich weiß, dass ich nicht jeden Tag Albträume habe und dass ich mich nicht selbst hasse, meistens, und dass ich Blyth endlich seit einem Jahr nicht mehr geschrieben habe und dass ich mich nicht mehr aufschneide und dass ich nicht mehr das Gefühl habe, ich verdiene es nicht, gut behandelt zu werden und dass ich nicht morgens aufstehe und mein Leben hasse und dass ich so gut wie nie Suizidgedanken habe.
Ich weiß aber auch, dass ich seit Jahren nichts mehr Lesen kann, weil ich dabei so stark dissoziiere, dass ich danach nicht zurück in die Realität finde und dass ich gerne DMen würde, aber nicht kann, weil irgendetwas in mir so ein Problem damit hat, irgendetwas mit meiner Stimme zu machen und ich weiß nicht mal, warum, und ich weiß, dass ich mir durchgehend darüber Gedanken mache, was andere Leute über mich eventuell denken könnten, weil, wenn das was Negatives wäre, ist das ja gefährlich und dann passieren ganzschlimmedinge und ich muss das irgendwie verhindern und ich weiß, dass ich mich einsam fühle, aber keine Freundschaften schließen kann, nicht mal, weil die Leute wieder gehen, sondern es passiert einfach nicht, beziehungsweise selbst, wenn ich jemanden kennenlerne, dann habe ich einfach keine Bindung, und ich habe keine Ahnung warum, was ich eigentlich machen muss, was ich früher anders gemacht habe, weil ich mich nicht erinnere und ich vermisse Blyth immer noch und ich verstehe nicht, ob das irgendwann aufhört und ich stelle nie fest, dass ich ein Problem habe bis ich es monatelang ausgeblendet habe und es total schlimm geworden ist und so viel, was ich nicht mal ausdrücken kann und dann gehe ich zum Psychologen und selbst, wenn ich irgendwas sage, ist es die Stunde danach als hätte ich es nie gesagt, ich bin ja kaum belastet und in jeder Therapie werde ich irgendwann gefragt, warum ich überhaupt noch da bin, mir geht's doch gut, mir geht's doch gut, mir geht's doch gut und ich habe keine anderen Probleme als welche, die ohnehin jeder Mensch hätte.
Ich verstehe nicht, was ich falsch mache.
Ich verstehe nicht, was ich falsch mache.