Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Mittwoch, 30. Dezember 2020

#33: Trauma, DIS und Sexualität III

Ja. Das Trauma und die Sexualität. Wie oft ich mir gewünscht habe, meinen Körper einfach abschalten zu können, der an jeder Ecke Sex erwartet. Aber wisst ihr, was auch schön ist? Es wird besser. Es geht weg. Bei ruru sind wir sicher. Auch der Körper weiß das inzwischen. ruru können wir nah sein ohne dass irgendetwas sexuelles passiert, auch stunden-, tage- oder wochenlang.

Und weil ich es immer wieder höre, möchte ich es an dieser Stelle ansprechen: wenn ihr traumatisiert seid und Sex/sexuelle Dinge mit eurem Partner tun wollt und es funktioniert nicht, obwohl ihr kommuniziert habt, dass ihr traumatisiert seid und darüber gesprochen habt, was das konkret für diese Situation bedeutet. Dass euch beispielsweise Nein sagen schwerfällt. Dass ihr anfangt, in eine Rolle zu schlüpfen, in der ihr Consent vorspielt, weil ihr das Gefühl habt, dass es so erwartet wird.
Dann liegt es nicht an euch.
Ich weiß, dass niemand mir glauben wird, weil ich mir selbst nicht geglaubt hätte in derselben Situation. Dabei will ich nicht mal sagen, dass euer Partner euer Trauma ausnutzt. Auch wenn ich glaube, dass das in den allermeisten dieser Fälle so ist. Vielleicht versteht er es einfach wirklich nicht. Oder sie. Si:er. Partner:in. Who knows.
Aber es funktioniert, irgendwo auf der Welt. Und es gibt Verständnis, irgendwo, wenn nicht hier. Das weiß ich, weil ruru existiert. Und ruru ist nicht mal traumatisiert. ruru kennt nichts davon; nicht mal die schlimmen Gedanken. ruru kann sogar Sachen falsch machen ohne sich zu hassen. Das ist für mich immer wieder befremdlich.
Und trotzdem hat ruru Verständnis. Selbst ohne meine Worte. Hört er jeden kleinen nicht komplett erfreuten Laut und fragt sofort, ob alles in Ordnung ist. Hört er jedes stumme oder überdeckte Nein, ohne dass irgendjemand es sprechen muss. Und niemals würde er von sich aus irgendetwas sexuelles anfangen, bei dem nicht vollkommen klar ist, dass wir es auch wollen.

Manchmal entschuldige ich mich, weil es mir wirklich, wirklich leidtut. Dass ich keinen Sex haben kann. Dass ich ihn manchmal nicht mal anfassen kann. Dass ich manchmal wochen- oder sogar monatelang keinen Sexualtrieb mehr habe. Dass, was auch immer gerade nicht geht, schon wieder kaputt ist. Und dann nimmt er mich in seine Arme und sagt mir, dass das nicht meine Schuld ist. Und überhaupt muss ich gar nichts, selbst wenn alles in Ordnung wäre. Und außerdem liebt er mich. Und außerdem muss ich nie wieder irgendwen anfassen, wenn ich das nicht möchte.
Und weil ruru existiert, weiß ich, dass niemand einen Partner haben muss, bei dem Grenzüberschreitungen existieren. Denn es gibt bestimmt genug rurus auf dieser Welt. Für all die Menschen, die ihre eigenen Grenzen nicht einfordern können.

Eine (traumatisierte) Freundin hat mir mal gesagt, wenn ich die richtige Person finde, dann funktioniert das alles. Dann kann ich sogar Sex haben, ganz ohne Probleme.
So einfach war das nicht. So einfach ist das nicht. Aber Recht hatte sie trotzdem: bei der richtigen Person funktioniert es. Irgendwie. Vielleicht ganz langsam, vielleicht dauert es Jahre, aber es ist nicht mehr schlimm. Bei anderen funktioniert es eben nicht. Dafür ist es eigentlich auch egal, ob diese einen missbrauchen oder nicht.
Und ich weiß: niemand, der in einer ähnlich kaputten Beziehung ist, wie wir bevor wir ruru kannten, wird das, was ich gerade gesagt habe, überhaupt annehmen können. Denn: 'diese Beziehung ist anders - da liegt es wirklich einfach an meiner eigenen Kommunikationsfähigkeit - mein Partner gibt sich definitiv Mühe, aber ich bin eben einfach unfähig.'
Aufschreiben tue ich es trotzdem. Für die eine Person, der es vielleicht doch hilft. Und sowieso gilt, auch für jede andere Situation:
Es ist nie eure Schuld.
War es nie und wird es nie sein.

Sonntag, 20. Dezember 2020

#31: Systemverantwortung

Es gibt eine Regel, dass man eine gemeinsame Verantwortung als System hat. Wenn X aus meinem System etwas falsch macht, habe auch ich für ihren Fehler gerade zu stehen.
Man kann sich das wie in einem Kommunalrat vorstellen: dort sitzen verschiedene Leute, die verschiedene Sachen wollen und wenn einer von ihnen etwas falsch macht, trifft der Fehler alle und alle müssen dafür gerade stehen. Richtig?
Nur, dass das nicht ist, wie die Welt funktioniert. Politiker, die Fehler machen, müssen in der Regel zurücktreten und dann bemühen sich alle anderen darum, zu erklären, warum sie mit dem Fehler nichts zu tun hatten.

Wir haben eine sehr andere Einstellung zum Thema Verantwortung innerhalb von Systemen.
Wenn X etwas falsch macht, dann gab es für mich keinen Weg, es zu verhindern. Ich kann nicht entscheiden rauszugehen und den Fehler zu verhindern. Ich kann nicht entscheiden, co-bewusst zu sein und X ihre Tat auszureden (oder selbst wenn hat mein Versuch keine Erfolgsgarantie). Ich kann nicht mal entscheiden, überhaupt etwas von X Verhalten mitzubekommen.

Wenn ich jetzt zu der verletzten Person gehe und mich im Namen Cirrus Floccus entschuldige, was hindert X dann daran, sich weiter grauenvoll zu verhalten? Sie muss nie mit ihren Fehlern umgehen. Sie kann einfach im Innen verschwinden und darauf warten, dass sich jemand anders um ihre Fehler kümmert, nur um dann erneut rauszukommen und weitere zu begehen, weil sie nie die Konsequenzen ihrer Handlungen spürt.
Deshalb gehen wir anders damit um.

Wenn X jemanden verletzt, behandle ich das so, als wäre die Person von Y aus unserem Freundeskreis verletzt worden - weil ich nichts gemacht habe. Wenn X nicht selbst einsieht, dass sie etwas falsch gemacht hat, werde ich mit X reden und versuchen, zwischen ihr und dem verletzten Freund zu vermitteln. Aber ich kann keine Verantwortung übernehmen. Dann fehlt sie nämlich bei X.
Und natürlich kann es sein, dass besagter Freund danach keinen Kontakt mehr zum gesamten System haben mag. Schließlich könnte X rauskommen und ihn erneut verletzen! Das muss ich akzeptieren, weil X immer noch ein Teil unseres großes Ganzen ist. Genauso wie ich die Strafe akzeptieren muss, wenn X eine Straftat begeht, weil wir in dem Moment eine Gefahr darstellen würden. Immerhin könnte X nochmals rauskommen und wieder eine Straftat begehen.
Aber das ist etwas anderes als Verantwortung und Schuld. Die gehört nämlich nicht mir und deshalb werde ich sie auch nicht nehmen. Dann fehlt sie nämlich da, wo sie eigentlich hingehört.

„Aber Lana“, höre ich irgendjemanden sagen. „Dann könnt ihr das doch total ausnutzen! Wenn X etwas falsch macht, kann sie einfach sagen, es war Z, die total selten draußen ist! Und wenn du etwas falsch machst, kannst du einfach sagen, es war X, weil die ja ohnehin scheinbar die ganze Zeit Fehler begeht!“
Ja. Ja, das könnten wir machen.
Wenn wir von jedem gehasst werden wollen, können wir das machen. Immerhin fällt es auf, wenn man Verantwortung immer nur von sich schiebt.
Wenn wir das dysfunktionalste System werden wollen, das wir jemals getroffen haben, weil sich alle untereinander hassen, können wir das machen.
In welchem Szenario wäre das eine wünschenswerte Zukunft?

Die Innenperson zu benennen, die die Verantwortung zu tragen hat, ist nicht seine Krankheit als Freifahrtsschein für schlechtes Verhalten zu nehmen. (Auch wenn das eine Möglichkeit ist.)
Sich selbst von einer Mitschuld freizusprechen, weil man nicht anwesend war, ist nicht sich als unfehlbar darzustellen. (Auch wenn das eine Möglichkeit ist.)
Sich selbst nicht die Schuld an Fehlern zu geben, mit denen man nichts zu tun hatte, ist richtig und wichtig, und heißt nicht, eigene Fehler von sich abzuweisen. (Auch wenn das eine Möglichkeit ist.)
Seine Krankheit als Freifahrtsschein zu benutzen wäre, jegliche Konsequenz für innersystemliches Fehlverhalten für sich abzulehnen.
Aber die Verantwortung? Gehört nur X.

Donnerstag, 10. Dezember 2020

#28: Warum Du (k)eine DIS haben möchtest

„Ich wünschte, ich hätte auch eine DIS“, sagte mir mal jemand, kurz nach unserer Diagnose, als wir davon erzählten und gerade erklärten, was das ist. „Dann wäre ich nie alleine.“
Mir war schon vorher erzählt worden, dass es so etwas gab: ignorante Unos, die sich 'einfach so' eine DIS wünschten, weil ihnen langweilig war und sie gar nicht wussten, was traumatisiert sein eigentlich bedeutet! Deshalb machte mich das sehr wütend und ich erzählte ihm, was er sich da gerade wünschte: schwerste Traumata in der frühsten Kindheit. So etwas wollte doch niemand. Richtig respektlos, das einfach so zu sagen! Der hatte scheinbar meinen Text über die Ursachen der DIS gar nicht erst gelesen und dachte jetzt, das wäre ein lustiges Rollenspiel!

So viel Ignoranz in einer einzelnen Person.
Mir.
Denn er erzählte: von einer Kindheit voller Trauma. Jugend voller Trauma. Alles und überall Trauma - von den Eltern, den Mitschülern, den Lehrern, dem nie Sichersein, Isoliertsein, den Flashbacks, der PTBS, den ganzen Problemen, die ich selbst kannte.
Wie schön es doch wäre, das zumindest nicht alleine erlebt haben zu müssen!

Danach hörte ich auf, auf Menschen, die sagten, sie hätten gerne eine DIS, wütend zu werden und fragte stattdessen: warum?
Und in 90% der Fälle hörte ich von Misshandlungen, schwersten Kindheits- und Jugend- und Alles-Traumata, einem Leben voller Flashbacks und PTBS und sonstigen psychischen Erkrankungen.
Wie schön das doch wäre, nur für eine Sekunde vergessen zu können!

Und ich weiß doch selbst: wir alle (in unserem System) sind uns gegenseitig so unglaublich dankbar. Dafür, einen Teil der Erinnerungen zu halten, nur einen Teil des Grauens, das ich selbst nicht erlebt haben muss, nur eine Sekunde, für die ich abschalten kann, weil jemand anders übernimmt, für die Innenpersonen, die bei Flashbacks aufpassen, da sind, beruhigen, die Personen, die vor Angst beschützen, die Personen, die die Dinge tun, die ich selbst nicht sein kann.
Wie schlimm das sein muss. Ein einzelner Mensch zu sein, mit genauso viel Trauma.
Ganz alleine in der Hölle.
Und ja: die DIS hat sehr unschöne Seiten. Amnesien oder Körperdysphorien oder einfachverschwinden, einandervermissen, nicht einfach dem Trauma entkommen können, weil irgendjemand immer zurückrennt.
Aber wir alle, als Systeme, haben doch eins gemeinsam: wir haben keine Ahnung, wie es sich anfühlt, eine schwertraumatisierte Einzelperson zu sein. Also woher nehmen wir das Recht so wütend zu sein, dass jemand sich unsere Realität wünscht? Wir haben doch keine Ahnung, ob sie vielleicht erträglicher ist.

Und ja,
es ist etwas anderes, wenn jemand wirklich nicht versteht und die DIS tatsächlich für ein lustiges Rollenspiel hält.
Aber in den wenigsten Fällen kennen wir diese Menschen überhaupt.
Also warum verurteilen wir so schnell? Wenn wir selbst uns doch Akzeptanz wünschen.
Warum machen wir so schnell zu? Wenn alles, was die Welt braucht, mehr Offenheit ist.
Warum reagieren wir mit Wut? Ablehnung? Zurückweisung?
Wenn wir doch einfach fragen könnten: Warum?

Montag, 19. Oktober 2020

#23: ein kurzer Abstecher in die Traumadiagnostik

Die (k)PTBS ist von einer Reihe Symptome aus verschiedenen Symptomkategorien gekennzeichnet, von denen je nach betroffenem Individuum verschiedene zutreffen. Es gibt Symptome, die für die Diagnose definitiv zutreffen müssen, andere, die nicht zwingend zutreffen müssen, aber sehr häufig sind und wieder andere, die zwar ebenfalls auftreten können, aber nicht ganz so häufig sind.

In der Vergangenheit haben wir immer wieder mit Menschen geredet (meist Psychologen), die uns Symptome einreden wollten, die wir gar nicht haben, weil doch aber 95% aller Leute mit PTBS diese Symptome haben oder die bestimmte Symptomausprägungen, die wir haben, übersehen haben, weil sie nicht der "Standardsymptomausprägung" entsprechen. Teilweise haben wir natürlich auch selbst Symptome nicht wahrgenommen, weil diese beispielsweise nur bestimmte Innenpersonen betrafen, zu denen aber starke Amnesie bestand oder teilweise auch aus dem Grund, dass sie uns falsch kommuniziert wurden. Letzteres haben wir vor ein paar Tagen festgestellt und daraus ist im Endeffekt auch dieser Post entstanden.
Vermutlich geht es jeder Person mit einer posttraumatischen Belastungsstörung ähnlich. Es gibt einfach Symptome, die im ICD-10 (oder 11) stehen, die man so einfach nicht unterschreiben kann. Und irgendwie scheinen "alle anderen" auch ganz andere Symptomausprägungen in diese Richtung zu haben. Nur dass es eben immer andere Symptome betrifft.

Deshalb folgt heute eine Liste an Annahmen, die andere Menschen ständig über unsere PTBS machen (oder teilweise auch über die PTBS allgemein), die so einfach nicht stimmen; mit dazugehöriger Erklärung natürlich. Und zudem der erwähnten Falschannahme, die wir selbst jahrelang hatten.

  1. "Bei einer PTBS hat man immer Flashbacks."
    Falsch. Aber tatsächlich sogar vom Fachpersonal häufig so kommuniziert. Die Realität ist allerdings, dass die Diagnoserichtlinien ausschließlich sagen, dass man das Trauma wiederholt nacherlebt - das kann in Form von Flashbacks sein. Es kann jedoch auch in der Form von Intrusionen sein (eine Art Mini-Flashback, bei der einem jedoch voll bewusst ist, dass es sich um eine Erinnerung handelt und gerade nichts passiert). Selbst ein Wiedererleben in der Form von Albträumen ist für die Diagnose absolut ausreichend.

  2. "Bindungsstörungen bedeuten grundsätzlich, dass man misstrauisch gegenüber allen Menschen ist und (nahezu) niemanden an sich heranlässt."
    Ebenfalls falsch. Zwar scheint es bei der Mehrheit der betroffenen Bevölkerung so zu sein (zumindest nach unseren Beobachtungen), aber es gibt auch ein genau gegenteiliges Verhalten, das ebenfalls manchmal bei Bindungsstörungen auftritt: man schmeißt jedem Menschen sein Vertrauen entgegen, als hinge das eigene Leben davon ab. Das mache ich. Herzlich willkommen in meiner Welt voller Liebe und Verletzlichkeit. Ich freunde mich innerhalb von Minuten mit Menschen an, entwickle Gefühle für sie nach ein paar Stunden und muss mich die ganze Zeit zurückhalten, nicht jeden Menschen, den ich treffe, total mit Zuneigung zu überschütten, weil ich gelernt habe, dass das die meisten Menschen vollkommen überfordert. Und wenn ich dann damit anfange, ist es für die meisten Menschen trotzdem immer noch zu früh. Oder sie denken, ich muss in sie verliebt sein, sonst könnte ich mich gar nicht so verhalten. Oder andere Menschen denken das.
    Ich bin nicht naiv. Meine Menschenkenntnis ist größtenteils ziemlich gut, würde ich behaupten. Aber ich binde mich definitiv schneller an Menschen als ich ihre Vertrauenswürdigkeit einschätzen kann - und das ist auch eine Bindungsstörung. Wenn jemand nach drei Tagen sagt, dass er doch kein Interesse an der Freundschaft hat und man sich fühlt, als hätte man einen langjährigen Freund verloren. (Zum Glück halten meine Freundschaften selten lange genug, dass ich tatsächlich langjährige Freunde verlieren könnte, das war bisher in der Regel tatsächlich [re]traumatisierend.)
    Und generell kommt diese Form der Bindungsstörung bei uns auch deutlich häufiger vor als grenzenloses Misstrauen in andere Menschen. Wirklich misstrauisch sind nur eine handvoll von Innenpersonen.

  3. "Bei einer PTBS ist man grundsätzlich dissoziiert von seinem Körper oder hat zumindest ein sehr schwieriges Verhältnis dazu."
    Ich glaube, das ist tatsächlich in den aller-, allermeisten Fällen so; wobei ich mich auch irren könnte. Den Eindruck bekomme ich nämlich nur, weil gefühlt nahezu niemand (positiv) darüber redet. Aber vielleicht wird auch einfach das Thema nicht gemocht.
    Bei mir (und da kann ich an dieser Stelle wirklich nur von mir reden, bei vielen Innenpersonen ist es komplett anders) ist es so: mein Körper und ich, wir sind ein perfektes Team. Er ist echt super. Selbst mit kaputter DNA gibt er sich unendlich viel Mühe.
    Ich kann intuitiv den allermeisten Fällen sagen (ich würde sagen, ich liege so zu 98% richtig), ob Schmerzen, die ich habe, psychisch bedingt sind oder aufgrund einer körperlichen Verletzung/Krankheit auftreten. Letztes Jahr, als mein Immunsystem sich verabschiedet hat und mir von allen Seiten, allen Ärzten, allen Psychologen gesagt wurde: das passiert halt bei komplexen Traumafolgestörungen irgendwann. Das ist normal. Selbst da wusste ich, auch nach einem Jahr noch, dass die Ursache nicht psychisch ist (und siehe da: eine Schimmelbelastung in rurus Wohnung, spezifisch der Matratze, auf der ich bei ihm geschlafen habe, wurde gefunden, nachdem ich monatelang akribisch meine Symptome beobachtet habe). Ich stelle fest, welches Essen mir gut tut und welches nicht, ohne aufwendige Ernährungstagebücher zu führen. Und so weiter und so fort. Mein Körper und ich sind ein tolles Team. (Außer Hungersignale. Die habe ich nicht. Das ist sehr traurig.)

  4. "Vermeidung geschieht bewusst und willentlich."
    Vermeidung ist ein Symptom der (k)PTBS. Es werden Aktivitäten, Situationen oder Menschen vermieden, die einen an das Trauma erinnern, teilweise auch Gedanken daran, insofern das geht. Für uns klang Vermeidung immer nach einer Entscheidung. Natürlich in dem Gedanken getroffen, dass man bei einer bestimmten Aktivität vielleicht einen Flashback oder ähnliches haben könnte, also sehr nachvollziehbar, aber eben nie etwas, was wir gemacht haben. Das haben wir Psychologen auch immer gesagt - dass wir nicht vermeiden. Wir reden über unser Trauma, weil es wichtig für uns ist. Wir machen Dinge, von denen wir wissen, dass sie uns triggern könnten, weil wir sie für die Möglichkeit machen wollen, dass sie das vielleicht nicht tun. Das erste Mal, das wir uns aktiv zu Vermeidung entschieden haben, war Ende 2018, als wir beschlossen haben, dass wir nie wieder nach Hannover fahren würden. Davor nicht. Und niemand hat uns jemals erklärt, wie beschränkt unser Bild von Vermeidungsverhalten ist, bis wir neulich (wie so oft) irgendetwas nicht machen konnten, das wir eigentlich machen wollten, weil wir aus welchem Grund auch immer (ich erinnere mich nicht mehr an das Ereignis) so starke Panik davor hatten, dass es schlichtweg nicht möglich war, überhaupt das Haus zu verlassen, weil wir so doll geweint haben. Und plötzlich haben wir verstanden: das ist auch Vermeidung. Und das haben wir ständig. Wir wollen etwas machen, aber können es einfach nicht. Und hinterher ist Selbsthass, hinterher ist Frustration, hinterher ist Traurigkeit. Aber wir schaffen es eben einfach nicht. Vielleicht bei einem späteren Versuch.
    Im Endeffekt fühlt sich einfach das Wort falsch an. Etwas zu vermeiden klingt so, als würde man es freiwillig tun: ich will das nicht. Dann geht es mir schlecht. Und niemand redet darüber, dass es einfach schlichtweg nicht möglich ist. Dass man einfach auch schlichtweg nicht in der Lage ist, sich zu zwingen. Selbst wenn man die Dinge, die so viel Angst machen, trotzdem gerne machen würde.

    Mir war es wichtig, das insbesondere aufzuschreiben, weil ich nicht weiß, ob es nicht anderen traumatisierten Menschen genauso geht wir uns und sie jahrelang ständig denken: aber ich vermeide ja nichts.
    Vielleicht hatten wir auch einfach besonders viel Pech damit, dass uns nie vernünftig erklärt wurde, was genau mit Vermeidung eigentlich gemeint ist. Vielleicht ist unser Verständnis des Wortes grundsatzfalsch.

    Aber auch wenn es an dieser Stelle bloß ein Missverständnis war:
Euer Trauma ist mehr als Symptome. Davon abgesehen, dass man von einem Trauma nicht zwangsläufig eine PTBS entwickeln muss, um darunter zu leiden - es gibt viele Traumafolgen, die keine posttraumatische Belastungsstörung, aber trotzdem unglaublich belastend sind.
Gleichzeitig sind aber nicht nur wir sondern auch jedes Trauma individuell. Ihr müsst nicht die genau gleichen Symptome haben wie irgendjemand anders, um "richtig" traumatisiert zu sein. Jeder hat seine eigenen Symptome. Seine eigenen Folgen.
Bitte vergleicht eure nicht mit anderen oder andere mit euch und versucht, daran abzuleiten, wie (wenig) valide irgendeine Erfahrungsreaktion ist. Es führt zu nichts.

Sehr viel Kraft & Licht an euch.

Mittwoch, 14. Oktober 2020

#21: Erste Person Plural

In letzter Zeit überlegen wir vermehrt, wie man Menschen so wirklich begreiflich machen kann, was eine DIS zu haben bedeutet. Nicht das Trauma - das versteht in unserem Freundeskreis beinahe jeder nur allzu gut. Sondern das Viele-sein.
Dass wir uns vor allen unseren Freunden und Bekannten "geoutet" haben, ist mittlerweile zehn Monate her. Wir alle sind immer wieder sehr begeistert von einer Freundin (hi!), die ganz natürlich dazu übergegangen ist, Pluralpronomen zu benutzen, wenn sie uns erwähnt und uns den Namen "Flauschis" gegeben hat, um uns irgendwie kollektiv bezeichnen zu können ("Flauschi" war vor der Diagnose unser Spitzname, also wohl am ehesten Melanies und jetzt eben Lanas). Oder von einem Freund (ebenfalls hi!), der oft, wenn er uns anschreibt in unseren Wechsellog schaut (wo wir eine Übersicht darüber führen, wer wann ungefähr draußen ist oder war) und dann die Person namentlich anspricht, die gerade draußen ist. Mit ihm haben wir uns sogar dadurch angefreundet, dass er so viele Fragen über die DIS gestellt hat! Und natürlich von ruru, der für uns alle so viel ist - Beziehungspartner, großer Bruder, bester Freund. Er hat zu jeder Innenperson (die er kennt) ein eigenes Verhältnis.

Natürlich gibt es Unfluffs, die die DIS komplett ignorieren und uns alle mit Lana ansprechen und jede Innenperson, die nicht Lana ist, komplett ignorieren, aber mit denen haben wir gar nicht erst viel zu tun. Stattdessen soll es heute um die Menschen geben, die die DIS einfach nicht richtig verstanden zu haben scheinen, aus welchem Grund auch immer. Die sich viel Mühe geben, aber trotzdem immer wieder dieselben Fehler machen, wie beispielsweise eine Innenperson mit 'Lana' anzusprechen, selbst wenn diese gerade gesagt hat, dass sie nicht Lana ist, oder bei Innenkindern Themen anzusprechen, die definitiv nicht für Kinder geeignet sind. Denen es wirklich leidtut, wenn sie diese Fehler machen, es aber dadurch nicht ändern können, dass die Fehler eben nicht aus Ignoranz entstehen, sondern aus einem grundsätzlichen Nicht-Verstehen der DIS.
"Die Welt ist nicht barrierefrei", hat ruru neulich dazu gesagt: Etwas an einem wird zwar akzeptiert, aber es wird gleichzeitig absolut nicht mitgedacht.

Also versuchen wir an dieser Stelle eine verständlichere Erklärung zu geben, die die DIS eher veranschaulicht als irgendetwas zu erklären. Weil das oft mehr bringt (diese Erklärung richtet sich explizit an Nicht-Systeme):

Stell dir vor, du bist in einer Arbeitsgruppe. So etwas hatte hoffentlich jeder schon, mindestens in der Schule.
Manche Arbeitsgruppen arbeiten gut zusammen, andere überhaupt nicht. Manchmal machen alle ihr eigenes Ding, weil sie die anderen für unfähig halten. Manchmal interessieren sich Teile der Arbeitsgruppe gar nicht für die Arbeit. Manchmal funktioniert auch alles prima, die Arbeit ist gleichmäßig aufgeteilt, alle haben eine Aufgabe.
Alle Arbeitsgruppen haben aber zwei Gemeinsamkeiten: sie haben eine definierte Aufgabe und sie bestehen aus verschiedenen Menschen, mit verschiedenen Ansichten und Meinungen, Persönlichkeiten und Vorlieben, Erinnerungen und Erfahrungen, die alle in die Erfüllung der Aufgabe mit einfließen. Das ist gleichzeitig gut und schlecht, denn jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Wenn ihr es schafft, die Aufgaben optimal aufzuteilen und jeder seine Stärken verwenden kann, dann könnt ihr eure Aufgabe vermutlich sehr gut und ohne Probleme bewältigen. Wenn nicht, dann ist das Ergebnis vermutlich nicht so gut.

Eure Arbeitsgruppe hat ein Problem: zu jeder gegebenen Zeit kann ausschließlich eine(r) von euch an eurem Projekt arbeiten. Andere Personen können maximal Ratschläge geben - allerdings dürft ihr euch nicht in demselben Raum aufhalten. Deshalb habt ihr zum Kommunizieren ein kaputtes Telefon bekommen, welches ihr erst reparieren müsst. Niemand in eurer Gruppe weiß, wie man Telefone repariert und generell wissen das nur sehr wenige Menschen auf der Welt, bei denen man dann lange Wartezeiten hat, um das Telefon zu reparieren. Zudem fällt das Telefonsignal in eurer Stadt regelmäßig aus. Ansonsten könnt ihr über Notizzettel kommunizieren, diese kann jemand anders aber erst dann lesen, wenn er sich selbst im Projekt-Raum befindet.
Leider dürft ihr auch nicht entscheiden, wer gerade an dem Projekt arbeiten darf. Dies wird per Zufall ausgewählt. Zwar ist die Chance, dass eine geeignete Person ausgewählt wird, über 50%, aber ihr könnt euch eben nie sicher sein. Wenn ihr Pech habt, arbeitet eine Person an dem Projekt, die überhaupt nicht gut für den Teil, den ihr gerade machen wolltet oder müsst, geeignet ist.
Das macht natürlich eure abgesprochene Aufgabenverteilung zunichte. Jetzt muss immer derjenige, der gerade da ist, an der Aufgabe arbeiten, egal, ob er die Sachen gut kann oder nicht. Viele Sachen bleiben auch liegen, wenn jemand sie einfach überhaupt nicht kann; die muss dann jemand anders nachholen.

Um das Ganze zu erleichtern, dürft ihr Freunde fragen, ob sie euch helfen. Aber dadurch, dass ihr ja nicht wisst, zu welcher Zeit ihr euch gerade um das Projekt kümmern könnt, muss manchmal einer eurer Arbeitspartner mit euren Freunden reden. Leider sieht dieser für sie aber immer aus wie ihr. Und weil das so seltsam ist, verstehen eure Freunde manchmal nicht, dass ihr das nicht seid.
Auf der anderen Seite seht ihr, immer wenn ihr mit den Freunden eurer Arbeitspartner redet, stattdessen aus wie diese. Also nennen euch manche die ganze Zeit Paul, weil eurer Arbeitspartner so heißt. Dabei heißt ihr gar nicht Paul. Das sagt ihr ihnen auch, aber beim nächsten Treffen haben sie es scheinbar schon wieder vergessen. Und dann behandeln sie euch außerdem, als wärt ihr seit Jahren die besten Freunde - dabei habt ihr euch gerade erst vor fünf Minuten kennengelernt. Und alles nur, weil ihr ausseht wie ihr Freund Paul. Das ist echt frustrierend.
Manche verstehen es aber auch und am Ende freundet ihr euch sogar miteinander an und dadurch ist es dann irgendwie egal, wer gerade da ist, weil ihr euch ja ohnehin alle super versteht.

Die Hälfte eurer Arbeitsgruppe ist übrigens schwer traumatisiert, die andere Hälfte hat andere psychische Krankheiten und mindestens ein Drittel ist unter 10 Jahren alt.
Viel Spaß.
Euer Projekt heißt Leben.

Donnerstag, 17. September 2020

#18: Was ist ein Trigger?

Wenn wir über DIS sprechen, sprechen wir gleichzeitig über eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Im Zuge dessen müssen wir ebenfalls über Trigger sprechen.
Bei einer (k)PTBS ist es so, dass ein traumatisches Erlebnis einen selbst so überfordert, dass es nicht verarbeitet und dadurch auch nicht als Erinnerung abgespeichert werden kann. Da das Gehirn über Assoziationen (Verknüpfungen) arbeitet, wird es nun jedes mal, wenn man etwas sieht/hört/riecht/schmeckt/fühlt, das an das Trauma erinnert, bemerken: „Oh, da ist ja eine Erinnerung, die ich noch gar nicht abgespeichert habe. Das sollte ich mal tun!“ Darauf folgt ein (Teil)Flashback, da man die Erinnerung (oder bestimmte Aspekte davon) erneut erleben muss, um sie abspeichern zu können (Spoiler: in der Regel funktioniert dieser Prozess dann nicht, weil das Trauma einen immer noch überfordert).
Diese Sachen, die zu der Erinnerung führen, nennt man Trigger.

Das ist jetzt alles schön theoretisch, aber was bedeutet das für die Realität?
Sagen wir, folgendes Szenario spielt sich ab:
Eines schönen Sommertages gehst du eine Straße entlang, während du gerade eine Orange isst. Plötzlich passiert etwas sehr schlimmes! (Meiner Meinung nach ist hier kein konkretes Beispiel notwendig.)
Dieses schlimme Ereignis überfordert dich so sehr, dass du eine PTBS entwickelst und fortan triggert dich der Geruch, Geschmack oder möglicherweise sogar nur der Anblick von Orangen. Wenn du Glück hast, triggert dich vielleicht ausschließlich der Geruch und das auch nur an warmen Sommertagen - im Winter ist alles in Ordnung. Es könnte aber auch sein, dass dich nun der reine Anblick von Orangen triggert - an jedem Tag im Jahr.
Was passiert nun, wenn du eine Orange siehst?

Dein Gehirn schlägt Alarm, weil es denkt, Gefahr droht. Du spannst dich an, bekommst Angst, womöglich sogar Panik. Gleich wird etwas furchtbar schreckliches passieren! Mental bist du in genau derselben Situation wie vor x Jahren. Dieselbe Angst, dieselbe Verzweiflung, dasselbe Grauen.
Das ist ein emotionaler Flashback.
Möglicherweise kommen körperliche Empfindungen dazu wie Schmerzen, die du während des traumatischen Erlebnisses gefühlt hast, Berührungen, Kälte oder Wärme. Körpererinnerungen/-flashbacks.
Im allerschlimmsten Fall hast du einen kompletten Flashback. Das heißt, du erlebst das traumatische Ereignis komplett wieder, mit allen Gefühlen, Schmerzen, Berührungen, Geräuschen, Gerüchen, Bildern. Du weißt nicht mehr, dass das alles Vergangenheit ist. Es passiert hier, genau jetzt und du kannst ihm nicht entkommen.

So ein Flashback kann von ein paar Sekunden bis zu ein paar Stunden anhalten. Bei uns dauern Flashbacks im Durchschnitt (glaube ich) um die zehn Minuten.
Danach ist es jedoch nicht vorbei.
Vielleicht hast du es schon mal erlebt, dass du einen besonders schlimmen Albtraum hattest, nach dem du dich mehrere Stunden oder sogar den gesamten restlichen Tag total erschöpft und ängstlich gefühlt hast. So in etwa kann man sich einen Flashback vorstellen. Nur dass man ihn nicht einfach mit 'es war ja nur ein Traum' abtun kann - immerhin ist die Erinnerung sehr real, alles davon ist wirklich passiert.

Übrigens sind Trigger sehr oft weniger schlimm, wenn man weiß, dass sie passieren werden.
Um beim Beispiel zu bleiben, nehmen wir an, der Anblick von Orangen triggert mich. Wenn ich jetzt in einen Supermarkt gehe, werde ich dort höchstwahrscheinlich Orangen sehen. Da ich das aber vorher weiß, kann ich meinem Gehirn begreiflich machen, dass keine Gefahr droht und die Orangen triggern mich auch nicht. (In der Realität funktioniert das nicht immer, aber zumindest manchmal.) Deshalb sind viele Betroffene sehr dankbar für Triggerwarnungen. Auch wenn man natürlich nicht immer zu jeder Zeit jeden Trigger vermeiden kann.

Donnerstag, 20. August 2020

#14: Diagnosefindung: kein Trauma, aber DIS?

Als wir die Vermutung aufgestellt haben, dass wir eine (partielle) DIS haben könnten, wussten wir kaum von Kindheitstraumata. Ein paar Erinnerungen waren vorhanden, aber definitiv nichts, von dem ein Kind eine DIS entwickeln würde. Da es vielen Systemen ähnlich geht oder sie sich vor der Diagnose erst gar nicht an irgendwelche Kindheitstraumata erinnerten, dachte ich, ich schreibe einmal eine Art "Anleitung" für Menschen, die denken, sie könnten möglicherweise eine DIS haben, die aber keine Erinnerungen an (Kindheits)Traumata haben.
Das Beste, was man tun kann, ist tatsächlich, es bei einem Therapeuten anzusprechen.
Allerdings sollte man möglichst auf die Einstellung des Psychologen achten. Es gibt nämlich viele Psychologen, die behaupten, Systeme existieren gar nicht und wären ein soziales Konstrukt. Eine gute Anlaufstelle wäre wohl ein Traumatherapeut. Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie hat auf ihrer Seite eine umfassende Liste von Traumatherapeuten. Ebenfalls haben Hilfsstellen für Betroffene von Gewalt häufig solche Listen, ebenso wie die kassenärztliche Vereinigung des jeweiligen Bundeslandes. Der Verein 'Vielfalt e.V.' führt zudem eine (nicht vollständige) Liste über Therapeuten, die sich mit der dissoziativen Identitätsstörung speziell auskennen.
Ein System kann man nämlich, nach jetzigem Forschungsstand, ohne Trauma gar nicht sein. (Es gibt Systeme, die sagen, dass sie kein Trauma haben. Über diese sogenannten 'endogenen Systeme' haben wir hier schon einmal geschrieben.)
Man kann aber definitiv ein System sein ohne sich an Trauma zu erinnern. Es wird eine oder mehrere Personen geben, die diese Traumaerinnerungen haben, aber durch die Amnesie kann die Existenz dieser Personen nicht bekannt sein.

Es gibt allerdings auch viele ähnliche Störungen! Es gibt die partielle DIS, bei welchen ebenfalls andere Identitätszustände existieren. (Ein Post, der die pDIS behandelt, findet sich hier.) Dies sind allerdings ebenfalls dissoziative Störungen, welche durch Trauma ausgelöst werden.

Es gibt die emotional instabile Persönlichkeitsstörung (oft Borderline genannt), die starke Identitätsunsicherheiten mit sich bringt. Diese kann ebenfalls ähnlich wie eine DIS aussehen. Deshalb werden Systeme auch häufig damit fehldiagnostiziert.
Soweit ich weiß ist Trauma für Boderline keine definitive Voraussetzung, allerdings ist Trauma bei Menschen, die Borderline haben, wohl sehr stark verbreitet.

Es gibt aber beispielsweise auch Schizophrenie! Wir haben einen Freund, der Schizophrenie hat und haben in Gesprächen mit ihm schon mehrfach festgestellt, dass die Symptome sehr ähnlich klingen wie die der DIS. Die Ursache und somit das Gefühl sind allerdings sehr, sehr anders - es kann aber trotzdem verwechselt werden. Wir haben sogar schon mal mit einer Person geredet, die Schizophrenie hatte, aber erst mit einer DIS fehldiagnostiziert wurde.
Soweit wir wissen, wird Schizophrenie zwar durch Traumata begünstigt, allerdings sind Traumata keine Notwendigkeit dafür.
(Wir haben übrigens auch schon mal mit einer Person geredet, die eine PTBS und zusätzlich Autismus hatte, was als DIS fehldiagnostiziert wurde, da die Symptome in dem Fall einer dissoziativen Störung wohl oft sehr ähnlich sind. Wobei ich nicht genau weiß, wie daraus eine komplette DIS-Diagnose entstanden ist; aber es sei erwähnt.)

Weiterhin gibt es die 'maladaptiv Daydreaming Disorder' (zu Deutsch maladaptive Tagträumstörung - einen offiziellen deutschen Begriff scheint es nicht zu geben oder wir finden ihn einfach nicht), welche durch sehr intensive Tagträume gekennzeichnet ist, die teilweise auch nicht mehr von der Realität zu unterscheiden sind. Hier kann es durchaus sein, dass es so etwas wie eine „innere Welt“ mit verschiedenen Personen darin gibt, allerdings basiert diese auf Tagträumen und nicht auf einer Bewusstseinsspaltung.

Vermutlich gibt es noch mehr ähnliche psychische Erkrankungen, die wir nicht kennen.

An letzter Stelle möchten wir erwähnen, dass verschiedene Situationen im Leben starke Identitätsunsicherheiten oder -schwankungen mit sich bringen können.
Ein Beispiel wäre die Pubertät. Teilweise weiß man in dieser Lebensphase überhaupt nicht genau, wer man ist, man probiert oft verschiedene Sachen aus, und das kann sich durchaus so anfühlen, als wäre man zwei (oder mehr) verschiedene Personen.
Auch können verschiedene Lebensereignisse zu plötzlichen, starken Wesensveränderungen führen. Das kann sich ebenfalls wie ein Persönlichkeitswechsel anfühlen, ist aber eine normale Reaktion auf extreme Ereignisse. Wenn es einen belastet, wäre an dieser Stelle aber auf jeden Fall der Besuch bei einem Psychologen ebenfalls sinnvoll, um das Ereignis zu verarbeiten und die Wesensveränderung zu akzeptieren.

Ebenfalls erwähnenswert ist, dass man, wenn man tatsächlich traumatisiert ist, in der Regel auch Traumasymptome haben wird - selbst wenn man sich nicht an Traumata erinnert. Diese können allerdings sehr konfus sein. Bei uns waren es depressive Episoden, Selbsthass, Stimmungsschwankungen, Selbstverletzung und später kamen dann sehr spezifische Albträume dazu (Traumflashbacks), wegen denen letztendlich auch die PTBS diagnostiziert wurde. (Obwohl weiterhin keine Traumaerinnerungen vorhanden waren!)
Die Symptome können aber auch sehr anders aussehen. Häufig sind beispielsweise Bindungsstörungen (entweder, dass man erst gar keine Bindungen aufbauen kann oder dass man sie viel zu schnell aufbaut), chronische Schmerzen (oft von Verspannungen), Immunschwächen mit häufigen Erkrankungen, ein sehr geringes Selbstwertgefühl, ...
Wir persönlich achten immer sehr stark darauf, wie oft sich jemand entschuldigt. Es gibt viele Menschen, die sich ständig entschuldigen - nicht als Reaktion auf Fehler sondern schon im Voraus. ("Tut mir leid, wenn ich störe, aber darf ich dich was fragen?" und ähnliche Sachen.) Diese Personen sind natürlich nicht alle traumatisiert, aber es scheint sehr häufig zu sein.
Es gibt zudem bestimmt auch viele Traumasymptome, die wir nicht kennen, da sie sehr spezifisch auf das eigene Leben angepasst sind.

Zum Schluss sei gesagt: Wenn man etwas über sich nicht versteht, ist es generell immer in Ordnung zu einem Psychologen zu gehen! Dafür braucht man kein Trauma oder massive Probleme. Genauso wie man manchmal auch mit einer sehr leichten Erkältung zum Arzt gehen würde, weil sie einfach nicht weggeht, darf man natürlich auch zum Psychologen gehen, wenn es einem psychisch nicht so gut geht, ohne dass direkt eine komplette Lebenskrise vorliegen muss.

Es sei aber ebenfalls erwähnt, dass die DIS und auch andere schwerwiegende Störungen in der Regel nicht innerhalb einer Sitzung diagnostizierbar sind. Wir wurden beispielsweise von einem Therapeuten diagnostiziert, den wir seit 1.5 Jahren kannten - und das, obwohl er den Verdacht schon relativ früh hatte, auch erst, nachdem wir selbst zusätzlich den Verdacht aufgestellt hatten.
Die meisten Systeme werden erst in Kliniken diagnostiziert und ich vermute, dass es bei anderen genannten Störungen teilweise ähnlich ist. Wenn man die Möglichkeit dazu hat, könnte also auch ein Besuch in einer Psychiatrie/Akutklinik oder in einer psychiatrischen Institutsambulanz sinnvoll sein.

Montag, 10. August 2020

#12: Vier Seiten einer Aussage

Da ich ständig und ich meine wirklich ständig das 4-Ohren-Modell von Schulz van Thun benutze, um Dinge zu erklären, habe ich an dieser Stelle eine Zusammenfassung darüber geschrieben. Ich hoffe, ich erkläre es einigermaßen gut.
Die letzten drei Absätze sind eher so darüber, wie wir persönlich kommunizieren.

Jeder Satz, den man sagt, hat (zu unterschiedlichen Anteilen) verschiedene Aussagen: Sachinformation, Selbstoffenbarung, Beziehung zum Gesprächspartner und Aufforderung.
Nehmen wir einen Klassiker: eine Person sagt zum Koch: "Da ist ein Haar im Essen."
Die Sachinformation ist eben einfach, dass ein Haar im Essen ist.
Die Selbstoffenbarung ist alles, was man mit der Aussage über sich selbst aussagt. Zum Beispiel, dass es einem sehr wichtig ist, dass keine Haare im Essen sind (sonst würde man es vielleicht gar nicht erst ansprechen, sondern es einfach rausnehmen); in dem Kontext vielleicht, dass einem Hygenie sehr wichtig ist. (Wobei das nur Sachen sind, die ich da gerade reinlese. Es kann natürlich auch was vollkommen anderes sein.) Man sagt aber auch so Sachen über sich aus wie, dass man die deutsche Sprache beherrscht oder dass man sehen kann (sonst hätte man das Haar ja nicht gesehen).
Die Beziehungsebene beschreibt, was man von seinem Gesprächspartner hält. Dies könnte zum Beispiel sein: "Du bist ein schlechter Koch, richtig unhygienisch, etc." (Ihr kennt bestimmt Menschen, die absolut alles persönlich nehmen - sie hören vermehrt auf der Beziehungsebene.)
Es kann natürlich auch sein, dass die Beziehung positiv ist. Das kann ich am besten an einem anderen Beispiel erklären. Manchmal sage ich zu Menschen: 'du bist immer voll nett zu mir'. Auf der Beziehungsebene sage ich eigentlich: "Danke."

Die Aufforderung heißt eigentlich Appellebene, weil Appell ein tolles Fremdwort für Aufforderung ist. Ich mag allerdings keine Fremdwörter, wenn es gleichzeitig ein deutsches Wort gibt, das genau dasselbe beschreibt.
In unserem Beispiel könnte die Aufforderung sein: "Mach das weg" oder aber auch "Hol mir eine Serviette, da ich gleich dreckige Finger haben werde, wenn ich das da rausnehme" oder "kauf dir eine Kochmütze". Es gibt noch mehr Möglichkeiten, definitiv. Manchmal ist die Aufforderung klar; im Zweifelsfall fragt man eben nach. (Oder es ist gar nicht wirklich eine Aufforderung da und man muss sich eingestehen, dass kein Kommunikationsmodell perfekt ist.)

So. Die allermeisten Menschen "bevorzugen" eine Ebene. Das heißt, wenn sie etwas sagen, haben sie bei ihrer Aussage eine Ebene im Blick und gehen erstmal davon aus, dass der Gesprächspartner ihren Satz auch auf dieser Ebene versteht. Gleichzeitig nehmen sie Botschaften auch zumeist auf dieser Ebene wahr.
Auf welcher Ebene man spricht und versteht, liegt übrigens an der Sozialisierung und teilweise auch an der Genetik.

Wir selbst sind Sachebenenmenschen. Manche mehr, manche weniger, aber größtenteils eben. Skye vermutlich am meisten. Deshalb wird Skye ständig falsch verstanden. Sie sagt nämlich nicht, dass ihr kalt ist, sondern: "Warum ist das Fenster eigentlich offen? Mir ist kalt."
Eigentlich ist das nur eine Sachinformation (als Frage, um zu überprüfen, ob andere Menschen auch wollen, dass das Fenster zu ist); ein Beziehungsebenenmensch hört jetzt aber in vielen Fällen, dass sie das voll blöd findet, dass er das Fenster nicht zugemacht hat. (Das klingt in diesem Kontext sehr negativ - aber die allermeisten Menschen sind Beziehungsebenenmenschen und würden diesen Satz dadurch niemals so formulieren, weil sie ein inhärentes Verständnis davon haben, wie das bei anderen Menschen ankommt. Dadurch funktioniert Kommunikation im Allgemeinen einigermaßen gut.)

Früher haben wir nicht wirklich verstanden, warum Menschen uns ständig falsch verstehen, aber dann hatten wir zwei Jahre lang Kommunikationspsychologie-Unterricht, wo wir diese ganzen hübschen Kommunikationsmodelle gelernt haben und dann wieder und wieder Aussagen anhand ihrer einzelnen Ebenen interpretieren mussten. In der Zeit war ich ziemlich viel draußen. Am Anfang konnte ich die Beziehungsebene absolut nicht, aber irgendwann lernt man auch so was. Dadurch kann ich das inzwischen ziemlich gut, da ich in meinem Kopf laufend Kommunikationsebenen scanne; teilweise haben Innenpersonen dieses Wissen dann auch bekommen, andere können das weiterhin nicht.

Ich nehme inzwischen also laufend alles an, was mein Gesprächspartner meinen könnte und versuche auf jede einzelne Ebene zu reagieren. Dadurch sage ich meistens ziemlich viel, aber es entstehen wenigstens bedeutend weniger Missverständnisse.

Samstag, 8. August 2020

#11: Systeme außerhalb der DIS: endogene Systeme

Es gibt Menschen, die sagen, dass man ein System sein kann ohne Trauma erlebt zu haben.
Keine Psychologen, keine Wissenschaftler, einfach nur selbsternannte Systeme, die keine Erinnerungen an Trauma oder Symptome, die auf Trauma hindeuten würden, haben.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass es sich hier ebenfalls nur um unsere ganz persönliche Meinung zu dem Thema handelt. Sie hat keinerlei wissenschaftliche Basis! (Ich weiß auch nicht, ob irgendein Wissenschaftler sich überhaupt jemals mit diesen Systemen beschäftigt hat.)

Unsere Ansicht hier ist (teilweise) sehr zwiegespalten. (Mit teilweise meine ich, es kommt darauf an, wen man fragt.)
Wir haben aber (fast) alle einen Grundsatz: Man spricht Menschen ihr Erleben nicht ab.
Also erzählen wir.

Endogene Systeme sind Systeme, die in ihrem Leben kein Trauma erlebt haben. Da sie kein Trauma haben, haben sie ebenfalls keine Amnesie - zumindest habe ich bisher kein endogenes System mit Amnesie getroffen.
Meiner Erfahrung nach sind diese Systeme meistens relativ groß. Nicht polyfragmentiert (über 100 Innenpersonen), aber deutlich größer als ein durchschnittliches DIS-System (15 Innenpersonen).
Meine Erfahrungen basieren auf einem Discordserver, auf dem wir (halbwegs) aktiv sind, der sowohl endogene als auch traumagene (also solche, die Trauma erlebt haben) Systeme akzeptiert.

Im Allgemeinen sind endogene Systeme in der Systemcommunity extrem ausgeschlossen und es scheint eine weitverbreitete und -akzeptierte Meinung zu sein, dass sie nicht existieren. Dass sie also entweder traumatisiert sind ohne es zu wissen, irgendwelche Symptome falsch deuten (und in echt kein System sind, sondern irgendeine andere psychische Erkrankung haben) oder dass sie ganz einfach lügen.
Es gibt endogene Systeme, die der Meinung sind, bei ihnen hat die Persönlichkeitsintegration als Kind einfach so nicht geklappt und solche, die ihr Vielesein auf eine andere psychische Erkrankung schieben. Zudem gibt es endogene Systeme, die ihr Vielesein durch Spiritualität erklären - Beispiele hierfür wären die Ansicht, dass das Vielesein durch ein Erinnern vergangener Leben entsteht (alle Lebenswege sind in einem Körper vereint) oder Systeme, die behaupten, ihre Anteile wären aus anderen Galaxien (oder Ähnlichem) gekommen und hätten sich an ihre Seele gebunden (sogenannte seelengebundene Systeme).
Zudem gibt es eine Praxis im Buddhismus namens Tulpamancie (ich hoffe, das heißt auf Deutsch so) bei der „Anteile“, sogenannte Tulpas, willentlich erschaffen werden. Diese Tulpas unterstehen allerdings der Kontrolle des Erschaffenden.

Letzteres werden wir hier nicht behandeln, weil es in unseren Augen etwas fundamental anderes ist.
Endogene und traumagene Systeme haben eins gemeinsam: sie haben mehrere Innenpersonen, die unabhängig von einander existieren und keinen kontrollierenden Einfluss übereinander haben (mit der Ausnahme von Wächtern!).
Tulpas existieren nicht unabhängig von einander. Der 'Host' erschafft alle Tulpas selbst und vor allem kontrolliert er sie auch. Das heißt, er kann willentlich ein Tulpa erschaffen, wenn er eins haben möchte und es auch willentlich wieder löschen, wenn er es nicht mehr haben möchte. Er kann außerdem bestimmen, wann welches Tulpa draußen ist und wann nicht. Da sehe ich persönlich den Unterschied zu Rollenspiel nicht und demnach ist es für mich auch kein System. Wenn ich trainiere, dass ich mich in Situation X auf eine bestimmte Weise verhalten möchte, die nicht meiner eigenen Persönlichkeit entspricht, dann kann ich das lernen. Vielleicht fühlt es sich an wie eine andere Person - aber ich habe mich willentlich entschieden und mir Gedanken darüber gemacht, wie diese Person funktioniert. Man kann dem ganzen einen hübschen Namen geben, aber es ist und bleibt Rollenspiel im Namen des Buddhismus. (Und damit ist absolut nichts falsch. Wenn einem das hilft, dann bitte. Aber es ist eben etwas anderes als ein System.)

Aber wie können Systeme ohne Trauma überhaupt existieren, wenn der wissenschaftliche Konsens ist, dass Systeme aus Trauma entstehen?
(Und nochmal an dieser Stelle: das ist unsere persönliche Meinung, die rein gar keine wissenschaftliche Basis hat!)

Nun, mehrere Sachen: Forschungen im Bereich der DIS (etc.) lohnen sich (finanziell!) nicht, wodurch die meisten von ihnen vermutlich durch Spendengelder finanziert werden.
Aber wer zur Hölle sollte dann Forschungen im Bereich 'Systeme ohne DIS' machen wollen? Es lohnt sich finanziell nicht und man hilft nicht mal jemandem, weil es den Personen nicht schlecht geht. Oder eben zumindest nicht „aufgrund“ ihres Vieleseins/irgendeines ursächlichen Traumas.
Aber das ist mehr so eine 'warum guckt man sich die nicht mal wissenschaftlich an'-Antwort.

Ansonsten ist es natürlich so, dass das Gehirn in der Lage ist diesen Zustand von Gespaltenheit in einer Person aufrecht zu erhalten - ansonsten könnte die DIS überhaupt nicht existieren.
Natürlich muss es einen Grund geben, warum eine Person nicht - wie biologisch vermutlich sehr geplant - zu einer Einzelidentität integriert. Nichts passiert 'einfach so'. Ich finde es aber persönlich sehr schwierig zu glauben, dass es einen einzigen Grund für Resultat X geben soll und ohne diesen Grund kann Resultat X auf keinem einzigen Weg erreicht werden.
Ja: die Integration der Persönlichkeitszustände ist etwas neuronales. Aber warum, wenn das Gehirn im Angesicht von Trauma in der Lage ist, seine neuronale Entwicklung dahingehend zu verändern, dass verschiedene Identitäten entstehen, warum sollte es dazu nicht auch zum Beispiel durch eine Genmutation, die verändert, wie sich das Gehirn in einem bestimmten Aspekt entwickelt, dazu in der Lage sein?
Die Forschung™️ ist nichts Heiliges, das sich nie irren kann. Wissenschaftler übersehen Dinge. Jeder übersieht Dinge. Das ist etwas ganz normales. Es gibt viele 'aktuelle Forschungsstände', von denen sich Jahre oder Jahrzehnte später herausstellt, dass sie falsch waren oder zumindest unvollständig.
Und wenn Menschen sagen, sie erleben etwas - wer sind wir dann, es ihnen abzusprechen?

Aber, und an dieser Stelle folgt ein großes Aber:
Das heißt noch lange nicht, dass jedes selbsternannte endogene System, das sich nicht an Trauma erinnert, kein Trauma hat oder ein System ist.

Zuallererst ist der Sinn einer DIS, das Trauma vor dem Host und sämtlichen Alltagspersonen zu verbergen. Man erinnert sich also unter Umständen gar nicht dran!
Zwar ist es in der Regel so, dass man trotzdem Traumasymptomatik aufweist, aber erstens weiß ich nicht, ob dies immer der Fall ist und zweitens ist Traumasymptomatik sehr individuell und wird unter Umständen gar nicht als solche erkannt. Ich kenne so einige Menschen, die von ihren Eltern/einem Elternteil wie Dreck behandelt wurden und starke psychische Einschränkungen haben, aber - ohne jemals überhaupt mit einem Psychologen darüber geredet zu haben - die Möglichkeit einer Traumafolgestörung vehement ablehnen. Und gerade wenn man nicht mal Erinnerungen an ein potentielles traumatisches Ereignis hat, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass man dieser Vorstellung nur noch abgeneigter wäre.

Zweitens: es besorgt mich extrem, dass die Mehrheit der endogenen Systeme, mit denen ich rede, sich altersmäßig mitten in der Pubertät befinden. Einer Phase, in die Persönlichkeit ohnehin stark schwankt und man gar nicht so genau weiß, wer man eigentlich ist und sich mal so fühlt und mal so. Ich glaube, da ist es durchaus möglich, mal etwas falsch zu interpretieren; gerade dann, wenn man in seinem Umfeld vielleicht eher ausgegrenzt ist und auf der anderen Seite eine Systemcommunity hat, die (fast) jeden ziemlich flauschig behandelt. (Man möchte gerne dazugehören und überinterpretiert dadurch seine pubertätsbedingten Identitätsunsicherheiten.)

Drittens: es ist immer möglich, Dinge, die man erlebt, falsch zu interpretieren. Das ist nichts schlimmes und passiert jedem mal. Auch wenn es verdammt schwierig ist und ich mich heuchlerisch fühle, das zu sagen, weil es mir selbst so unglaublich schwerfällt: man muss offen dafür sein, Fehler gemacht zu haben. Niemand ist perfekt und niemand muss sich selbst immer genaustens verstehen.

Was die spirituellen Systeme angeht, glaube ich nicht daran, dass es möglich ist, mehrere Seelen in einem Körper zu vereinen. Ich glaube noch nicht mal an die Existenz von Seelen.
Ich glaube aber, dass man sich das einreden kann, weil es eine schönere Erklärung ist als die Realität einer potentiellen DIS. (Und bei einer DIS kann es immerhin Innenpersonen geben, die sich als Götter oder generell außerweltliche Wesen identifizieren!)
Stört mich das deswegen? Nein. Ich glaube auch nicht an irgendeinen Gott oder irgendeine Göttin, aber ich sehe, dass der Glaube Menschen Hoffnung gibt.

Andere Menschen haben nichts mit mir zu tun.
Wenn ihnen etwas hilft, ist es ihr gutes Recht, es zu nutzen, solange es niemand anderem schadet.
Und ich werde mich nicht dazu herablassen, zu sagen, die Existenz solches Gedankenguts würde die DIS für Nicht-Betroffene unglaubwürdig machen.
Ich traue Menschen Denkvermögen zu und wenn sie ihres nicht nutzen wollen, ist das nicht die Schuld einer Religion oder irgendeines spirituellen Gedankengangs.
Wenn mir jemand nicht glaubt, dann ist das ganz alleine seine Entscheidung.

Ich würde trotzdem jedem selbsternannten endogenen System nahelegen, mal in Therapie zu gehen und sicherzustellen, dass da wirklich kein vorhandenes Trauma (oder eine gänzlich andere Störung) vorliegt.
Man kann sich noch so schöne Dinge einreden. Wenn da Trauma ist, dann wird es eines Tages zum Vorschein kommen und sich lautstark bemerkbar machen. Es wird einschlagen wie ein Blitz und alles, alles auf den Kopf stellen und durcheinander wirbeln.
Vielleicht möchte man so etwas lieber in einer Phase feststellen, in der man noch relativ stabil ist, als gerade dann, wenn alles unter und vor und hinter und neben und über einem zusammenbricht. 

Mittwoch, 5. August 2020

#10: Tell me about your dreams. We can make them memories.


make sure nobody sees you leave,
hood over your head, keep your eyes down.
tell your friends you're out for a run -
you'll be flushed when you return.
take the road less traveled by,
tell yourself you can always stop.
what started in beautiful rooms,
ends with meetings in parking lots.

Heute ist ein trauriger Tag.
Dabei war er gar nicht so schlecht. Ich durfte einen Menschen kuscheln, den ich mag. Und gerade darf ich in meinem eigenen Bett einschlafen.
Und trotzdem ist heute ein großes Loch in meinem Herzen.

Menschen denken oft, Täter sind Monster. Wenn man sie ansieht, sieht man direkt, dass sie böse sind. Allerspätestens, wenn man sie besser kennenlernt.
Bei manchen Menschen mag das sogar stimmen. Aber viel öfter sind Täter ganz nette Menschen, von denen man es nie erwartet hat.

Und deshalb ist heute ein trauriger Tag.
Weil ich den Menschen vermisse, der mir gezeigt hat, wie schön das Leben sein kann.
Um es dann vor meinen Augen zu zerreißen.

and that's the thing about illicit affairs
and clandestine meetings
and longing stares:
they're born from just one single glance,
but it dies and it dies and it dies,
a million little times.

Wir hatten mal sehr große Probleme. Traumasymptome, ohne Traumaerinnerungen. Dissoziationssymptome, ohne Worte dafür.
Kein Psychologe hat verstanden, was genau falsch bei uns ist.
Und dann haben wir einen Psychologen bekommen, der sehr überzeugt war: das ist eine PTBS. Selbst wenn wir uns nicht erinnern. Es ist eine PTBS mit Albträumen statt Flashbacks.

Also haben wir Trauma-Stabilisationstherapie gemacht. Richtige Traumatherapie geht natürlich schlecht, so ganz ohne Erinnerungen.
Und Skye hat aufgehört, sich aufzuschneiden. Und ich habe gelernt, mit Menschen zu reden. Und wir haben schließlich auch gelernt, dass man uns besser als Müll behandeln kann und sollte und haben uns dann von Skyes Freund getrennt und im Endeffekt sogar den Kontakt beendet.
Wir haben gelernt, dass Berührungen grenzunüberschreitend sein können. Und dann schön.
Ein ganzer perfekter Monat.
Voller Wunder.
Nach einem ganzen Jahr Therapie.

take the words for what they are:
a dwindling, mercurial high,
a drug that only worked
the first few hundred times.

Jetzt sitze ich vor einem Scherbenhaufen.
Denn in meinen Gedanken sind dieser Therapeut und die Person, die uns vergewaltigt, gefoltert und belogen hat, zwei verschiedene Menschen.
Aber manchmal trifft mich die Erkenntnis: dass all das bloß ein Mensch in sich vereinen kann. Und dann weine ich um vier Uhr morgens schlaflos in den Armen meines Freundes, der mich viel zu sehr liebt, um mir jemals wehzutun und weiß nicht mehr, ob er mich nicht auch einfach missbrauchen wird.
Und in die Stille frage ich, ob Blyth mich jemals lieb hatte. Aber das kann mir niemand beantworten.
Aber wie sollte jemand Liebe für jemanden empfinden, den er missbraucht, nur um ihn wegzuwerfen und abzustreiten, dass es jemals mehr als eine einfache Freundschaft gab?
Nur wie kann es denn sein. Dass mir jemand so sehr geholfen hat, so viel Zeit aufgewandt hat, nur damit es mir besser geht, wenn er mich nicht zumindest ein bisschen lieb hatte.
Egal wie ich es drehe und wende, ich verstehe es einfach nicht.

and that's the thing about illicit affairs
and clandestine meetings
and stolen stares:
they show their truth one single time,
but they lie and they lie and they lie,
a million little times.

Also vermisse ich den Blyth, den ich kannte, bevor er anders geworden ist. Der mein Lieblingslied gelernt hat auf Gitarre zu spielen und mir ein ganzes, eigenes Konzert gegeben hat.
Und ja. Ich weiß, auch das ist kein Therapeutenverhältnis.
Aber die richtige Geschichte wäre viel zu lang für diesen Text.
Sagen wir einfach, das Verhältnis war etwas zwischen Therapie und Freundschaft - vor dem Missbrauch.

and you wanna scream:
don't call me kid,
don't call me baby.
look at this godforsaken mess that you made me.
you showed me colours you know i can't see
with anyone else.

Viel zu oft will ich ihn anschreiben.
Am Anfang dachte ich wirklich, der Missbrauch war ein Versehen. Ich dachte wirklich, er wusste einfach nur nicht, dass ich das nicht wollte und wenn ich ihm jetzt erzähle, dass ich davon traumatisiert bin, bricht seine Welt zusammen.
Aber seitdem hat er abgestritten, dass jemals etwas zwischen uns war. Dass ich mir das einbilde, weil ich wollte, da wäre etwas gewesen; das hat er gesagt.

you taught me a secret language i can't speak
with anyone else.

Also bin ich traurig.
Weil ich einen Menschen verloren und einen Albtraum bekommen habe.
Und ich immer noch zurück will.

and you know damn well
for you i would ruin myself,
a million little times.

Montag, 3. August 2020

#9: Systeme außerhalb der DIS

Wir reden oft über DIS und Systeme als wäre das ein Synonym, aber die Wahrheit ist, dass es mehr Systeme gibt als nur DIS-Systeme.
Wir reden über die DIS, weil das ist, was wir haben, aber ganz am Anfang unserer Diagnose war uns nicht bewusst, dass wir Amnesie erleben, also haben wir diese DIS-Videos gesehen und dachten: das ist genau, was wir haben! Nur ohne Amnesie.
Gibt es das denn ohne Amnesie?

Ich weiß nicht mehr wie lange wir googlen mussten, um darauf eine Antwort zu erhalten, aber definitiv zu lange. Aber ja: sie existiert. Sie läuft momentan noch unter dem großen Katalog der 'dissoziativen Störungen, nicht näher spezifiziert' und ist dort Teil der DSNNS1, welche allerdings noch ein weiteres Störungsbild umfasst; was uns zum ICD-11 führt.
Das ICD-11 ist eine überarbeitete Version des gerade geltenden Diagnosekatalogs (ICD-10) und wird 2022 eingeführt. Im ICD-11 ist Amnesie kein notwendiges Merkmal für die DIS mehr. Stattdessen lauter der Wortlaut nun: Typischerweise gibt es Episoden von Amnesien, die schwergradig sein können.
Das lese ich als: meistens gibt es Amnesien, aber nicht immer.

Zusätzlich wird die 'partielle dissoziative Identitätsstörung' eingeführt, welche momentan ebenfalls in der DSNNS1 enthalten ist. Der Begriff der DSNN1 ist somit hinfällig und wird abgeschafft.
Bei der partiellen DIS ist die Spaltung zwischen den Identitätszuständen weniger ausgeprägt als bei der DIS. Während es bei der DIS mehrere Anteile/Innenpersonen gibt, die abwechselnd die Kontrolle über den Körper übernehmen, gibt es bei der partiellen DIS einen "Hauptanteil", der von anderen, abgespaltenen, Anteilen beeinflusst wird - diese übernehmen jedoch nicht die Kontrolle über den Körper.
Leider wissen wir nicht viel darüber, da wir kaum Betroffene kennen, allerdings empfinden wir es trotzdem als wichtig, darüber zu sprechen, um zu verdeutlichen, dass Systemsein nicht automatisch bedeutet, eine DIS zu haben.

Von diesen Störungen abgesehen, gibt es Menschen, die sagen, man könne ein System sein ohne Trauma erlebt zu haben (sogenannte endogene Systeme). Ich finde jedoch, diese Thematik verdient ihren eigenen Post, deshalb belassen wir es vorerst bei der Erwähnung.

Dienstag, 14. Juli 2020

#4: Systemrollen

Wir haben über Tiere und Introjects geredet, aber was ist mit diesen Begriffen, die Systeme die ganze Zeit benutzen, wie 'Host', 'Beschützer', etc.? Das hier ist eine (nicht sehr kompakte) Liste über diese sogenannten Systemrollen!

Host: Der Host ist die Person, die entweder am meisten draußen ist oder aber, die sich um die lebensnotwendigen Aufgaben des gesamten Systems kümmert (zum Beispiel Behördengänge und ähnliches). Das definiert jedes System ein wenig anders.
'Host' ist das englische Wort für 'Gastgeber' oder 'Wirt', diese Wörter verwenden wir allerdings nicht, da wir sie nicht mögen und wir haben auch noch nie gehört, dass irgendjemand anders diese Begriffe verwendet hat. Das einzige deutsche Wort, das wir bisher als Alternative gehört haben, ist 'Alltagsperson'. Da wir aber ein ganzes Alltagsteam haben, würde es sich für uns sehr falsch anfühlen, nur den Host so zu bezeichnen.

Co-Host: In manchen Systemen teilen sich mehrere Personen die Aufgaben des Hosts. Dort entscheidet sich dann ein System möglicherweise dafür, für einen oder mehrere andere Anteile den Begriff Co-Host(s) zu verwenden.
Bei uns ist es zum Beispiel so, dass Lana unser Host ist, sie kümmert sich um unser tägliches Leben und ist am meisten draußen. Ich (Skye) kümmere mich allerdings in der Regel um offiziellere Sachen wie Behördengänge, Arzttermine und Ähnliches, vor allem, wenn gerade viel Stress herrscht, da ich die einzige Person im System bin, die einigermaßen mit Stress umgehen kann. Deshalb trage ich die Bezeichnung Co-Host.

Beschützer: Beschützer ... beschützen. Das System als Ganzes, den Host oder bestimmte Innenpersonen. Auf unterschiedliche Arten. Es gibt beispielsweise körperliche Beschützer, die darauf aufpassen, dass dem System körperlich kein Schaden passiert, während emotionale Beschützer eher darauf achten, dass das System nicht verletzt wird und das System beispielsweise gegen Vorwürfe verteidigen. Teilweise sind Beschützer gleichzeitig auch Traumaträger, um andere Innenpersonen vor traumatischen Erinnerungen zu beschützen.

Fürsorger: ein deutscher Begriff, den wir dafür gefunden haben (wir haben bisher noch nie einen deutschen Begriff dafür gehört). Jedenfalls. Im allgemeinen Caretaker genannt (was auf Deutsch Hausmeister heißt und somit falsch ist), sind Caregiver sozusagen die Seelsorger im System. Sie kümmern sich um verschiedene Innenpersonen, wenn es denen schlecht geht; in der Regel um den Host oder die Innenkinder. Sie sind außerdem häufig zuständig dafür, für Entspannung zu sorgen und kümmern sich im allgemeinen um Selbstfürsorge.

Traumaträger: Traumaträger sind Innenpersonen, die die Traumaerinnerungen und die dazugehörigen Gefühle für das gesamte System halten. Dadurch kann anderen Personen, wie beispielsweise dem Host, ein (relativ) normales Leben ermöglicht werden.

Gatekeeper/Wächter: Wächter sind Innenpersonen, die über Wechsel bestimmen können, bestimmte Teile der inneren Welt bewachen und/oder über Erinnerungsverteilung entscheiden können. Wie wir lernen mussten, gibt es hier sehr große Unterschiede.
In manchen Systemen (gerade oder sogar ausschließlich programmierten) gibt es Wächter, die theoretisch in der Lage sind, zu jeder Sekunde zu bestimmen, wer draußen ist - diese werden aber in der Regel nur für bestimmte Innenpersonen-Gruppen/Subsysteme eingesetzt, sodass im Endeffekt trotzdem nicht jeder Wechsel kontrollierbar ist.
Als Unterstufe davon gibt es etwas, was wir mal als 'Wechselhelfer' bezeichnet haben. Damit meinen wir Innenpersonen, die zwar einen großen Einfluss auf Wechsel haben, aber eben nicht über bestimmte Wechsel entscheiden können. Sie können aber zum Beispiel bestimmen, dass Wechsel stattfinden und dann einfach durchrotieren bis jemand draußen ist, der für eine bestimmte Situation geeignet ist (da Wechsel allerdings sehr anstrengend für den Körper sind, ist es bei uns so geregelt, dass unsere 'Wechselhelferin' einfach selbst rauskommt, wenn sie niemanden finden kann, der sich gerade für die Situation eignet).
In der inneren Welt gibt es zudem teilweise Wächter, die bestimmte Trauma-Abschnitte bewachen, damit niemand versehentlich Erinnerungen sehen oder Innenpersonen treffen kann, von denen er gar nichts wissen sollte.

Fragmente: wir verstehen es selbst nicht so ganz, aber scheinbar sind Fragmente Innenpersonen, die keine vollständige eigene Person sind, sondern stattdessen nur für eine sehr spezifische Aufgabe, Erinnerung oder Emotion zuständig sind.
Wir zählen unsere Fragmente als Innenpersonen mit, da wir das sehr verwirrend finden. Wenn wir dann endlich Therapie haben (vermutlich ab 2021!) und das besser verstehen, schreiben wir bestimmt mal ausführlicher was dazu.

Persecutor oder 'dunkle Anteile':
Passend zum Gothic-Theme mancher Systeme -
ich meine natürlich, um jede Innenperson mit Problemen direkt auf ihre Probleme zu reduzieren -
also, um eine hübsche Umgehung dafür zu finden, dass man keine negativen Bezeichnungen für andere Innenpersonen verwenden soll -
ähem.
Der Begriff 'Persecutor' ist eine Bezeichnung für Innenpersonen, die dem System als ganzes eher Schaden, zum Beispiel durch Selbstverletzung oder durch problematisches Verhalten, sowohl in der Innen- als auch in der Außenwelt. Wir finden diesen Begriff schlimm, weil er - unserer Meinung nach - Innenpersonen negativ stigmatisiert. Deshalb werden wir diesen Begriff nicht verwenden.
Die 'dunklen Anteile' sind ein wenig anders. Sie unterstützen Täter aktiv und wurden in der Regel absichtlich so sozialisiert, dass sie das, was die Täter machen, gut finden. Soweit wir wissen, kommt so etwas ausschließlich in programmierten Systemen vor.

Gefühlsträger: ein von uns eingeführter Begriff für das, was im Allgemeinen eher 'Persecutor' genannt wird. Gefühlsträger halten starke mit Trauma verbundene Gefühle für das gesamte System, ohne jedoch explizit Traumaerinnerungen zu haben. Sie haben dadurch sehr schlimme vorherrschende Gefühle wie Selbsthass, Scham oder Wut, die oft relativ destruktiv ausgelebt werden.
Aber, und das darf man nicht vergessen, sie existieren, damit beispielsweise der Host diese Gefühle nicht (so stark) fühlen muss und sind somit ein wichtiger Bestandteil des Systems. Das sage ich deshalb so deutlich, weil ich schon mehrfach mitbekommen habe, wie Systeme diese Anteile systematisch ausgegrenzt haben, weil sie unangenehm sind.

Freitag, 10. Juli 2020

#3: Tiere im System? - Anteilarten & Systemrollen

Anteile in einem System entstehen in der Regel nach einem Bild, von dem das traumatisierte Kind denkt, dass dies wäre, was es gerade braucht, im Sinne von: ich selbst kann dieses Trauma nicht überleben, aber XYZ könnte es bestimmt! Demnach können die entstehenden Personen nicht nur ein anderes Alter oder Gender haben, sondern alles kann anders sein - ihre Aussehenswahrnehmung (oder auch ihr Körper in der inneren Welt), ihre Stimme, ihre Spezies, ethnische Zugehörigkeit, ... es gibt bestimmt noch viele andere Sachen, die ich gerade nicht mal bedenke.

Vereinfacht kann man sich das so vorstellen: Im Gehirn existiert quasi eine „Karte“ über den Körper, also, über die Proportionen, darüber, wo welcher Bestandteil des Körpers ist und alles weitere, was so zur Selbstwahrnehmung wichtig ist. Bei den verschiedenen Anteilen stimmt diese Karte allerdings nicht mit dem eigentlichen Körper überein - es kann zum Beispiel passieren, dass jemand das Gefühl hat, dass seine Hände kleiner/größer sind als die des Körpers, dass gewisse andere Körperteile (nicht) da sein sollten, dass bestimmte Sinne nicht da sein sollten (teilweise sind sie sogar nicht da) oder eben auch, dass diese Karte überhaupt nicht mit dem menschlichen Körper übereinstimmt: weil der Anteil nicht menschlich ist.

Es gibt viele Arten von nicht menschlichen Anteilen: Tiere, Gegenstände, Fabelwesen, ...
Besonders häufig sehen wir Wölfe. Was nicht weiter verwunderlich ist: Wölfe sind stark und schnell. Wölfe sind in vielen Kindererzählungen (fast) unbesiegbar und wenn es eines gibt, was Wölfe nicht können, dann ist das bestimmt verletzt werden! Es gibt allerdings alles an Tieren in Systemen. Bisher haben wir gehört von Schlangen, Spinnen, Hunden, Katzen, Füchsen und Wölfen, aber im Prinzip ist alles möglich. Sogar Drachen! Natürlich verhält sich die Person trotzdem als Mensch und hat auch menschliche Eigenschaften. Anders würde das Leben im Köper ja gar nicht funktionieren. Ihr Selbstbild ist eben nur das eines Tieres.
Es kann sein, dass Gespenster entstehen, vermehrt durch Nahtoderfahrungen, von Dämonen und Engeln hören wir oft (im Kontext mit stark religiösem Missbrauch, da in diesem Glauben sowohl Dämonen als auch Engel unbesiegbare, unberührbare Wesen sind), Vampire, Feen, Magier, ... Jedes System ist individuell und hat demnach auch individuelle Gründe, warum solche Anteile entstehen.
Es gibt sogar auch gegenständliche Innenpersonen, zum Beispiel Bäume oder Züge oder sogar Stürme, Seen, Vulkane - darüber wissen wir allerdings sehr, sehr wenig, deshalb fühlen wir uns nicht qualifiziert, darüber irgendetwas zu sagen. Dass sie existieren, sei trotzdem erwähnt!
Tatsächlich bestehen aber die meisten Systeme, die wir kennen, überwiegend aus menschlichen Anteilen.

Als letzte Anteilart hätten wir Introjects. In der englischen Community begegnet man dort häufig einer Unterscheidung zwischen Fiktiven und Faktiven. Diese konnten wir bisher in der deutschen Community nicht beobachten.
Introjects sind Innenpersonen, die einer anderen Person nachempfunden sind - beispielsweise einem fiktiven Seriencharakter (Fiktives) oder auch einer realen Person (Faktives). Dies kann zum Beispiel passieren, wenn das Kind eine Lieblingsfernsehserie hat, in der es einen superstarken Charakter gibt - dieser Charakter könnte vielleicht mit dem Trauma besser umgehen, also wird er als Beschützer introjected. Ein anderes Beispiel wäre, dass das Kind eine supernette Erzieherin im Kindergarten hat, die dann zu einer Mutterperson im System (introjected) wird.
In den meisten Systemen scheint es eher wenige Introjects zu geben. Zumindest ist das bisher unser Eindruck.

Samstag, 4. Juli 2020

#2: Leben mit dissoziativer Identitätsstörung

Für uns, oder an dieser Stelle eher für mich, fühlt sich die DIS so an:

Früher habe ich das nie verstanden. Dadurch, dass bei uns (zumindest im Alltagsteam) keine kompletten Amnesien bestehen, fühlten wir uns dennoch als eine Person, oder vielleicht sollte ich eher sagen: wir dachten, wir wären eine Person. So angefühlt hat es sich nie, aber wir wussten nicht, dass etwas anderes überhaupt existiert, also dachten wir das eben.

Ich wusste: meine Hobbys sind Ernährung, Kochen, Lesen, Schreiben. Ich mag es, mit Menschen zu reden, sie kennenzulernen, mich mit ihnen anzufreunden.
Also warum fühlte es sich so schlimm für mich an, mich mit Ernährung zu beschäftigen? Und warum hasste ich es so, zu kochen? Und warum fiel es mir so schwer, mit Menschen zu reden, warum hatte ich nie Worte, warum hatte ich manchmal sogar Angst?
„In der Uni bin ich ein komplett anderer Mensch“, sagte Melanie mal zu ruru, weil sie erklären wollte, dass „sie“ dort plötzlich total kommunikationsunfähig wird. Aber jeder Mensch ist doch anders in verschiedenen Umfeldern. Das ist doch ganz normal. Aber eben nicht so anders. Niemand verliert oder gewinnt Fähigkeiten, je nach Umfeld.

Regelmäßig brach ich zusammen, weil ich mich mit Ernährung beschäftigen „musste“. Meine Gedanken waren doch essgestört genug. Warum war das mein Hobby? War ich denn völlig von Sinnen? Das konnte doch gar nicht gesund sein! Ich sollte mir ein neues Hobby suchen. Kochen mochte ich doch ohnehin auch nicht.

Aber Melanie mochte dieses ganze Zeug, ohne Essstörung, also blieb es. Und ich blieb dabei, mich zu fragen, warum ich alle meine Hobbys hasste. Und manchmal fühlte Melanie sich, als wäre sie 12 (das war Mina). Oder sie hatte Zusammenbrüche, weil sie irgendeinen Menschen vermisste, mit dem wir vor fünf Jahren mal Kontakt gehabt hatten (das war Dawn).
Oder ich fragte ruru, ob es denn okay wäre, wenn ich ihn nie wieder küssen würde, weil das alles mich anwiderte, aber drei Minuten später kam Dawn raus und küsste ihn fünf Minuten lang. Was sich für mich dann total übergriffig anfühlte. Ich hatte das doch gar nicht gewollt! Warum kommunizierte ich immer, dass ich so was wollte, wenn das doch gar nicht der Fall war?

Man muss verstehen, das alles nahmen wir als eine Person wahr - die Handlungen, die Gefühle dazu nicht. Ich wusste, dass „ich“ Dinge getan hatte, die ich eigentlich niemals wollen würde. Ich wusste, dass „ich“ mir Hobbys ausgesucht hatte, die ich hasste, Freunde, die ich nicht mochte, denen ich misstraute, dass „ich“ „meinen“ Kühlschrank mit Dingen vollgestellt hatte, die ich gar nicht essen mochte. Ich erinnerte mich daran, sie gekauft zu haben! Was war falsch bei mir?
„Manchmal habe ich das Gefühl, als lebe ich zwei verschiedene Leben“, schrieb ich. „Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich zwei verschiedene Personen.“ Aber das alles erfuhr nie ein Psychologe. Was war das auch für ein dummer Gedankengang?
Die Probleme mit Sexualität sprach ich an, mehrfach. Dass ich Dinge tat, die ich nicht tun wollte und mich hinterher fühlte, als wäre ich missbraucht worden. Aber niemand erkannte, was das war. Ich glaube, sie alle dachten, das wäre meine Art mir einzureden, dass meine Exfreunde mich nicht alle missbraucht hätten (was sie nicht haben! jedenfalls nicht alle).

Und der erste Mensch, der die DIS erkannte, sagte es uns nicht, sondern nutzte es lieber aus.
Als wir überhaupt von der DIS als Traumafolgestörung erfuhren, war es 2019. Sechs, fast sieben Jahre nach dem ersten Besuch beim Psychologen. Vier Jahre nach den ganzen „ich fühle mich wie zwei Menschen“-Tagebucheinträgen.
Wur erfuhren davon, weil ein Freund von uns damit diagnostiziert wurde und wir uns ein Video darüber ansahen, weil wir nicht einmal wussten, was das eigentlich war.
Aber nach dem dritten Video wussten wir: das war, was bei uns falsch war (nur ohne Amnesie). Genau das.
Also schrieben wir eine Mail an unseren Psychologen (wo wir ein halbes Jahr nicht gewesen waren, weil die Therapie einfach nichts brachte) und erzählten ihm, dass wir das vermuteten und bekamen einen Termin, einen Monat später, wo der Psychologe mir erzählte, er hatte das bereits seit 1.5 Jahren als Verdachtsdiagnose. (Was mich immer noch wütend macht. Wenn ich das seit 1.5 Jahren vermute, warum erwähne ich dann nicht zumindest, dass solche Gefühle existieren oder mache präventiv den Fragebogen für dissoziative Störungen? Wir hätten sofort gewusst, was wir haben und nicht noch mehr Zeit verschwendet!)

Zwei Monate später stand die Diagnose. (Wir hatten inzwischen rausgefunden, dass Amnesien doch existieren, nur eben nicht 100%. Wir dachten einfach, Amnesie wäre gleich komplette Blackouts zu haben.)
Und es ist so unglaublich angenehm, es endlich zu wissen. Weil ich jetzt Ich sein kann und nicht mehr all meine Energie darauf verwenden muss, Melanie zu sein, was ich nie erreichen können werde.

Manchmal vermisse ich sie.
Melanie war unsere Hostin, zu der ich kaum Amnesie hatte, bis sie mit einer Traumaträgerin integriert ist, weil diese nicht mehr mit ihren Erinnerungen alleine klar kam.
Jetzt gibt es Lana und ich erinnere mich an nichts. Also fühlt es sich für mich so an, als wäre Melanie verschwunden. Und das tut weh, immer wieder. Manchmal ganz leise und dann wieder so laut, dass es den gesamten Raum ausfüllt.

Eine DIS zu haben ist grauenvoll, wenn man nicht versteht, was es ist. (Für uns war es das zumindest - ich weiß nicht, wie es anderen geht). Und selbst wenn man es weiß, ist eine DIS stellen- und auch zeitweise grauenvoll. Aber sie ist auch schön, manchmal. Weil man nicht alleine mit seinem Trauma sein muss. Weil man nicht mit irgendetwas alleine sein muss. Weil es immer jemanden gibt, der mitträgt. Mitlebt. Mitleidet. Mitbebt.