Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Donnerstag, 30. Juli 2020

#8: Meer. Oder weniger Therapie.

Wisst ihr, wir haben den tollsten Therapeuten der Welt gefunden. Er will uns nämlich behandeln. Er meinte, er kann 300 Stunden bewilligt bekommen, damit wir ab 2021 zwei bis drei mal pro Woche Therapie haben können. Und davor dürfen wir alle zwei Wochen Therapie haben - das kann er wohl irgendwie mit der Krankenkasse klären. Das ist Notfallbehandlung. Wir brauchen nämlich Therapie, ganz dringend. (Laut ihm.)
Dabei sind wir doch gar nicht suizidal. Da kann es so dringend doch gar nicht sein.

In zwei Jahren hört er auf zu arbeiten. Vielleicht. Weiß er noch nicht. Wollte er aber ansprechen, damit wir direkt gehen können, wenn das zu schlimm für uns ist.
Aber wohin sollen wir denn?
Auf meiner Liste stehen noch ein paar Therapeuten, aber ich schaffe es gerade nicht mehr. Wir sind alle retraumatisiert. Jeden Tag weine ich, weil Leben an sich mich so sehr überfordert.
Das kenne ich.
Das ist nur das Meer.
Auch wenn Ocean nicht mehr da ist.

Ja. Der Therapeut hat gesagt, er hat noch eine weibliche Kollegin, zu der wir gehen können. Die hat auch ganz viel Erfahrung mit DIS-Patienten.
Wir lernen sie noch kennen.
Aber wie geht das überhaupt?
Mit Frauen können wir nie reden und bei Männern haben wir Dauerangst, dass sie uns vergewaltigen.
Der neue Therapeut vergewaltigt mich auch, oder?
"Nein, tut er nicht", sagt ruru, ganz überzeugt. "Ihr habt mittlerweile genug Kommunikation zwischeneinander, dass es alle mitbekommen würden. So was wie mit Blyth, das passiert nie wieder."

Nie wieder, denke ich zweifelnd und schaue die blauen Flecken an, die ich jeden Tag habe. Ja, ich laufe überall gegen. Aber manchmal, wenn ich zusätzlich Schmerzen habe, frage ich mich, ob ruru uns nicht eigentlich doch auch insgeheim missbraucht.
Woher soll ich das wissen?
Woher soll irgendwer das wissen?

Ich überlege, ob ich Michelle damit beauftrage, sich an den Therapeuten ranzumachen, damit man schauen kann, wie er reagiert. Anders kann man nicht prüfen, ob Menschen sicher sind, oder? Man muss ihnen Sex anbieten und gucken, was sie mit dem Angebot machen.
Ich glaube, ich habe verstanden, warum Menschen so oft denken, sie könnten mich einfach küssen. Vermutlich sende ich dieses Signal.  Weil, wenn sie dann sicher sind, wie ruru, dann fragen sie nach statt einfach zu machen.
Ist ruru denn sicher?
Ja, sagt ein innerer Chor von Kindern. Warum können die eigentlich besser vertrauen als ich? Die wurden doch vergewaltigt. Nicht ich.
Aber ich schätze, ich muss sie ja irgendwie beschützen. So als Host. Das sind meine Kinder. Ich adoptiere die alle, damit sie flauschige Eltern haben. Zusammen mit ruru. Oder so. Kinder sind flauschig. Denen sollte niemand wehtun. Dann doch lieber mir wehtun.

Nächste Woche ist die dritte Therapiestunde (Vorgespräch) und ich bin ganz gelähmt: aber was, wenn er mich vergewaltigt? Was mache ich denn dann? Neulich habe ich gelesen, dass angeblich jeder zwölfte Therapeut mal wen missbraucht. Keine Ahnung wie die das messen wollen, kann also nicht stimmen. Mein Gehirn macht es trotzdem zu Brei.
erwirdmirwehtunwirdmirwehtunwirdunswehtunwehtunwehtunwehtun

Ich bin zu klein, um Host zu sein. Ich möchte ein Plüschtier. Ich möchte eine Umarmung. Ich möchte keine Therapie. Ich möchte, dass Blyth das nicht gemacht hat. Ich möchte, dass ich Therapeuten vertrauen kann. Wie soll ich jemals Therapie machen? Wie sollen wir Therapie machen? Es tut mir so leid für all die Innenpersonen, die Blyth nicht mal kennen, dass es so schwierig für mich sein muss. Ich will ja helfen. Aber es wird immer schlimmer werden, genau wie letztes mal, bis ich nur noch zur Therapie gehen kann, wenn ruru mitkommt.

Und irgendwann wird es in meinem Kopf eine Verschwörungstheorie geben, in der ruru und der Therapeut in echt von meinem Vater beauftragt wurden, mir genug Sicherheit zu geben, dass ich wieder einfach manipulierbar und verkaufbar bin, genauso ist es bestimmt auch bei Blyth passiert, immerhin hat er meinen Vater getroffen kurz bevor der Missbrauch angefangen hat, und im Endeffekt ist mein gesamtes Leben eine Lüge und alle meine Freunde wurden eigentlich von [L.] beauftragt, dass sie sich mit mir anfreunden sollen, nur um mich später so richtig verletzen zu können.
Ja.
Auch das ist Meer.
Oder weniger paranoid.

Manchmal sind wir ein Scherbenhaufen.
Und so verzweifelt, dass wie toll ein Therapeut ist scheinbar als einzigen Maßstab hat, dass er Systeme therapiert. (Ich meine, noch steht der Satz, dass Blyth der beste Therapeut ist, den ich jemals hatte, also kann es so falsch nicht sein.)

Eigentlich bin ich auch sehr wütend.
Er hat dem System nämlich verboten über Trauma zu reden, weil das uns destabilisieren könnte und jetzt fühlen sich alle Innenkinder furchtbar schuldig und glauben, sie haben was falsch gemacht und wenn sie nochmal zuviel sagen, geht es uns allen schlecht.

Ich weiß, der Therapeut meinte ja nur, dass das belastend sein kann zu erfahren, was es da alles in der eigenen Vergangenheit gibt, was man gar nicht wusste.
Aber ich will doch gar nicht mehr in dieser Lüge leben.
Trotzdem wollte er ja nur helfen.
Und jetzt sind alle ganz wütend oder traurig oder verzweifelt wegen ihm.
Obwohl er helfen wollte.

Das muss ich noch lernen. Dass ich Taten von Menschen anhand ihrer Folgen und nicht ihrer Absichten bewerten darf.
Und jetzt muss ich das ansprechen, weil sonst wieder alle Innenkinder denken, dass ich sie nicht mehr lieb hab. So wie das eine mal, als eine Therapeutin gesagt hat, dass sie nicht existieren, dass ich mir das nur einbilde und ich nichts dagegen gesagt habe, sondern nur einfach gegangen bin. Da dachten sie auch, ich hab sie nicht mehr lieb. Sonst hätte ich ja für sie gesprochen.

Ich schreibe einen Brief an Blyth und zerreiße ihn wieder, weil ich mir selbst eintrichtern muss, dass es ihn nicht interessiert.
Laut ihm hat unsere Beziehung nicht existiert.

Ich liege auf dem Bett, auf dem ich nie missbraucht wurde. In einer Wohnung, in der ich nie missbraucht wurde, in einer Stadt, die immer nur positiv für mich war.
Ich möchte hier nicht vergewaltigt werden.
Ich bin zum ersten mal in meinem Leben wirklich sicher.

Dienstag, 28. Juli 2020

#7: Unsere Lebensgeschichte

Ich weiß nicht, ob das überhaupt jemanden interessiert, aber ich erzähle es trotzdem! Ein Überblick über unser Leben:
Wir wurden vor 24 Jahren in der Nähe von Hannover geboren, mit einer Erbkrankheit namens Mukoviszidose. Die wurde direkt bei der Geburt diagnostiziert, weil unsere Schwester ein paar Monate vorher damit diagnostiziert worden war.
(Hier ganz viel Trauma reindenken.)

Ich, also Skye, mochte Menschen nicht sonderlich und verbrachte meine gesamte Zeit im Kindergarten alleine bis ich mich mit irgendeinem Typen anfreundete, mit dem ich Schwertkämpfe veranstaltete (natürlich mit abgebrochenen Zweigen). Allerdings verschwand der, nachdem wir in die Grundschule kamen, also hatten wir wieder keine Freunde. In der Grundschule fand ich nämlich auch alle doof.
Und auf dem Gymnasium auch.
(Ja, ich hab's nicht so mit Menschen.)
Immerhin durfte ich auf dem Gymnasium manchmal mein Gehirn benutzen!
Das brauchte mir allerdings auch nichts, weil die Lehrer anfingen, mir einzureden, dass ich nie irgendetwas schaffen würde, weil ich so schüchtern war. (Und offensichtlich waren Menschen, die ihr Abi nicht schafften, ja Menschen zweiter Klasse und definitiv nichts wert!)

Irgendwann zu der Zeit trennten sich auch unsere Eltern. Ein Lichtblick! (Weniger Trauma.)
Meine Mutter behandelte mich trotzdem wie die größte Enttäuschung ihres Lebens, auch wenn sie es scheinbar nicht so meinte und meine Schwester sowieso.
Deshalb fing ich an, mich selbst zu verletzen und schwänzte außerdem jeden zweiten Tag Schule, was 1.5 Jahre lang niemandem auffiel.
Meine Zeit verbrachte ich stattdessen in den Tiefen der Schülervz-Selbsthilfe (aka zweiter Account, falls jemand das noch kennt) und fand dort tatsächlich zum ersten mal in meinem Leben richtige Freunde! Also nicht alles schlecht.

Jedenfalls bis ich beschloss, jemanden von da zu waifun. Er wohnte nur eine Stunde von mir entfernt und wir schrieben uns kitschige Emo-Gedichte bis er meine beste Freundin ermorden wollte, weil ich sie mehr mochte als ihn und außerdem hatte ich die ganze Zeit Albträume, also suchte ich mir einen Psychologen und machte schlussendlich Schluss. Aber nicht, ohne eine Beziehung mit besagtem Psychologen anzufangen! (Er fing die Beziehung an, um genau zu sein.)
Zu dem Zeitpunkt, beziehungsweise eine Weile davor, entstand(?) übrigens Melanie und übernahm langsam immer mehr Aufgaben als Host.

Zwei Missbrauchsjahre später machte der Psychologe endlich Schluss und ich überlegte, ob es eine gute Idee wäre, einfach Prostituierte zu werden. Stattdessen beschloss Melanie, dass wir nun Ernährungstherapie studieren würden. (Wir hatten zwischendurch Fachabi gemacht, eine Ausbildung angefangen und sie wieder abgebrochen.)

In unserem sozialen Isolationshaft (aka ausgezogen sein trotz Fernstudium) beschlossen wir, dass es eine sinnvolle Idee wäre, einer Twitch-Community voller dreizehnjähriger notgeiler Männchen, die alle die Streamerin waifun wollten, beizutreten. Wir hatten nämlich nur noch einen Freund und der war vermutlich schon sichtlich genervt von unseren vierzigminütigen 'hallo, ich bin chronisch einsam'-Sprachnachrichten.
Glücklicherweise hatte ich gleich zu Anfang eine Diskussion mit irgend so einem random Typen, den ich überhaupt nicht mochte, der meinte, Freundschaft wäre was komplett anderes als Liebe, und trat daraufhin dem Discordserver des besten Freundes der Streamerin bei (er war an der Diskussion beteiligt).
Dort fanden wir tatsächlich wieder Freunde! Wir lernten außerdem so einen random Typen kennen, der ebenfalls streamte, eine voll tolle Stimme hatte, eine nicht ganz so voll tolle, aber ziemlich okaye Persönlichkeit (sowwy), dessen totes Herz Melanie erstmal heilte, nachdem er ihr zu edgy auf unserem Discordserver gewesen war (ja, wir haben auch mal gestreamt). (Das mit dem toten Herz ist übrigens ein Zitat von ihm, ich habe damit nichts zu tun.)
Melanie verliebte sich sogar in ihn! (Und stellte fest, dass es eben jener Typ von der Diskussion war.)

Leider merkten wir gleichzeitig und vor allem eigentlich deswegen, dass unser Exfreund uns tatsächlich missbraucht hatte und wurden sehr depressiv und mussten unser Studium abbrechen. Glücklicherweise brachte Melanies random Crush uns allerdings bei, wie man Leuten die Meinung pfeffert (in seiner Gegenwart ist das schwierig, nicht zu lernen) und wir teilten unserer Familie mit, dass wir sie nicht mehr besuchen und mit der Hälfte von ihnen auch überhaupt nicht mehr reden würden. Und damit meine ich, wir fuhren vorbei, hinterließen einen sehr dramatischen Brief und flüchten mitten in der Nacht aus der Wohnung.
Zu Melanies random Crush!
Er heißt übrigens ruru.

Danach kamen die beiden auch endlich zusammen.
Was mich nicht sehr erfreute.
Wir fingen außerdem eine Therapie an, die nichts brachte.
Aber am Ende fanden wir heraus, dass wir eine DIS haben!
Und nun sind wir hier.
Sehr spektakulär.
Zwischendurch gab es Trauma, jede Menge davon.
Aber das würde diesen Text so deprimierend machen.

Donnerstag, 23. Juli 2020

#6: Negative Stempel: warum wir den Begriff 'Persecutor' nicht verwenden

Das Erste, was man in einer DIS-Therapie lernt, ist Folgendes:
Man gibt Systemanteilen keine negativen Bezeichnungen. (Denn wie will man vernünftig mit jemandem zusammenarbeiten, dem man als Namen eine negative Stigmatisierung gegeben hat?)
Skye ist nicht 'der kommunikationsunfähige Anteil', genau wie Rinea nicht 'der wütende Anteil' ist.
Auch wenn ich schüchtern bis sozial phobisch bin (das soll ein Therapeut beurteilen, nicht ich) und Rinea sich jeden Tag zusammenreißt, nicht ruru anzuschreien.
Und trotzdem:
Persecutor: Der Begriff 'Persecutor' ist eine Bezeichnung für Innenpersonen, die dem System als Ganzes eher schaden, zum Beispiel durch Selbstverletzung oder durch problematisches Verhalten, sowohl in der Innen- als auch in der Außenwelt.
Was ist bitteschön anders, wenn ich einen Oberbegriff für die negative Beschreibung finde und ihn 'Systemrolle' nenne? Ist das ernsthaft wie andere Systeme solche Systemanteile sehen? Nur Selbstverletzung und Lügen und Machtalleskaputt?
Mir ist sehr stark bewusst, dass ich die Bezeichnung 'Persecutor' tragen würde, würden wir den Begriff verwenden. Der kommunikationsunfähige Systemanteil darf ich also nicht sein, das ist zu negativ. Aber 'der Systemanteil, der immer alles kaputtmacht' ist voll okay?

Persecutor sind Traumaträger.
Das ist hier im System eine allgemein akzeptierte Ansicht.
Die Rolle 'Persecutor' existiert nicht.
Wir sind Traumaträger - und manchmal Beschützer. (Und ich bin zudem Co-Host, aber das ist ein besonderer Fall.)
Ich habe keine Traumaerinnerungen, ja.
Ich habe keine Flashbacks, keine Intrusionen, keine PTBS.
Aber ich trage all den Selbsthass und all die Scham und die Depressionen und Ängste und Selbstmordgedanken für einen Großteil des Systems, damit niemand sonst sich so fühlen muss, wie ich mich fühle.
Und Rinea trägt all die Wut für das gesamte System, damit niemand sonst jemals wütend sein muss, weil es das Gefühl ist, das jeder hier am schrecklichsten findet.
Und der Dank dafür wäre in jedem anderen System außer diesem, dass wir als 'die Anteile, die immer alles kaputtmachen' gelabelt werden würden?
Schönen Dank auch.
Muss toll sein, die Innenpersonen, die einen vor all der Gefühlsgewalt schützen, nur als Belastung zu sehen.

Und ich will die Ausreden gar nicht hören.
„Aber ich sehe unsere Persecutor gar nicht so! Ich verwende nur den Begriff.“
Können wir gerne machen. Soll ich dich Abschaum nennen und solange ich es eigentlich nicht so meine, ist es voll okay?
Merkste selbst, oder?

Wenn ich nach 'Persecutor' google, ist die erste Definition übrigens:
„Innenpersonen, die absichtlich dem Körper, System, Host oder anderen Innenpersonen schaden, die die Ziele oder die Heilung des Systems sabotieren oder Täter unterstützen.“
Nur so zum Mitschreiben. Wenn sich jemand während eines Flashbacks selbst verletzt, ist das voll in Ordnung, aber wenn ich auf mein Leben nicht klarkomme und es deshalb mache, ist es „mit Absicht“. Dass Melanie fast 24 Jahre komplett unser Leben bestimmt hat, weil sie Host war und es nicht besser wusste, obwohl dadurch meine Essstörung tausend mal schlimmer geworden ist, ist voll in Ordnung, weil es ja nicht absichtlich war, aber wenn ich einmal was für mich selbst entscheide, was die anderen nicht mögen, „sabotiere“ ich unser Leben. Dass Dawn mit unserem Exfreund zusammengekommen und mit ihm zusammengeblieben ist, trotz Missbrauch, von dem sie wusste, ist voll in Ordnung, weil sie es nicht besser wusste, aber wenn ich zurückrennen würde, unterstütze ich die Täter?

Ich möchte eins sehr klarmachen: Ich bin nicht wütend (oder Ähnliches), weil das zum Glück nicht ist, wie Dinge in diesem System gehandhabt werden (außer in den ersten zwei Wochen, aber das verzeihe ich, das waren Anfangsfehler).
Ich möchte eher erreichen, dass jedes andere System mal über diesen Begriff nachdenkt. Ob es wirklich okay ist, Innenpersonen über ihre schlechtesten Eigenschaften/Taten zu definieren.

Wir verhalten uns so, damit ihr diese Gefühle nicht haben müsst.
Ich finde, ein wenig Dankbarkeit wäre angebracht.
Und eine Entschuldigung für diesen gräulichen Begriff.
(Nicht bei mir; bei euren eigenen Innenpersonen.)

Danke für eure Aufmerksamkeit.

Donnerstag, 16. Juli 2020

#5: Ein nicht sehr kurzer Rant über Wordpress

Die meisten Blogs, die man heutzutage so im Internet findet, benutzen Wordpress, was mich ungleich glücklicher macht, dass ich mich früher jahrelang in einer Umgebung aufgehalten habe, in der zwar fast jeder Mensch einen Blog hatte, aber Blogger eindeutig die beliebteste Blogging-Plattform war. Denn:
ich folge einigen Wordpress-Blogs und ich habe noch nie so kaputte Software gesehen.

Es fängt damit an, dass ich die Blogs allesamt nicht öffnen kann, wenn ich nicht die allerneuste Browser-Version runtergeladen habe. Während ich also darauf warte, dass mein PC alle Anwendungen aktualisiert hat, erhalte ich ein Fenster, in dem steht 'diese Seite ist zur Zeit nicht aufrufbar' (oder ähnliches - ich werde jetzt nicht die genaue Error-Meldung raussuchen).
Dann kann ich entweder drei Minuten wartend vor meinem PC sitzen bis endlich alles aktualisiert ist oder stattdessen etwas sinnvolleres machen und dadurch vergessen, dass der Blogeintrag überhaupt existiert.
Aber das ist nicht das Ende.

Wordpress verlangt einige Angaben, um einen Kommentar veröffentlichen zu können: einen Namen, eine Mail-Adresse und optional(? hoffe ich) kann man noch eine Website angeben. Die Mail-Adresse ist, natürlich, dafür da, dass man benachrichtigt werden kann, wenn jemand auf den eigenen Kommentar antwortet - man muss sie allerdings trotzdem eingeben, wenn man diese Option ausstellt. So weit, so gut. Dass man überall sämtliche Daten angeben muss, kennen wir ja. Damit haben wir uns abgefunden. Blogger gehört schließlich auch Google, selbst wenn man da nichts eingeben muss, wissen sie trotzdem alles. Also alles gut, oder?
Bis wir bemerken, dass der Kontrast der Eingabefelder so gering ist, dass man schlichtweg nicht sieht, wo man gerade was eingibt, ob man überhaupt etwas eingibt oder ob man sich eventuell vertippt hat. Man muss also seinen Laptop-Bildschirm so komisch kippen, dass sich der wahrgenommene Kontrast dadurch erhöht oder man schaut von irgendeiner Seite verkrampft auf seinen Bildschirm, um zu sehen, was man gerade eigentlich genau tut. Einzig das Eingabefeld für die Website ist gut sichtbar - so ein Glück aber auch, da dies das einzige Feld ist, das nicht Pflicht ist!
Außerdem: einen Preis für Wordpress' Inklusion sehbehinderter Menschen. Hellgrau auf weiß kann man vielleicht noch erkennen, wenn man einigermaßen gut funktionierende Augen hat. Viele Menschen haben dies jedoch nicht.
Edit: ich habe mir gerade einige Wordpress-Blogs angesehen und nicht alle haben dieses Problem. Der Kontrast lässt sich also verändern. Es wäre nur schön, wenn das Standarddesign von vornherein einen geeigneten Kontrast hätte.

Ja. Barrierefreiheit besteht aus deutlich mehr Sachen als dem Kontrast im Kommentarfeld und ich habe absolut keine Ahnung, wie Wordpress da abschneidet - laut einer kurzen Google-Suche eher gut, auch wenn ich das selbst schlecht nachprüfen kann. Das soll hier deshalb auch gar nicht Thema sein.
Es geht nämlich noch weiter. Wenn man dann endlich rausgefunden hat, wo die Eingabefelder sind und sie anklickt, werden sie vermehrt schlichtweg nicht ausgewählt. (Wieder nicht Problem jedes Wordpress-Blogs, aber definitiv erwähnenswert.)

Nun schauen wir uns das Design an: die allermeisten Wordpress-Blogs sind eine weiße Wand, auf der ein schwarzer Block aus Text steht. Ein paar Verlinkungen zu anderen Seiten innerhalb des Blogs. Vielleicht eine bunte Umrandung.
Schlicht ist nicht schlecht, mit Sicherheit nicht. Es geht um die Texte und sie sind gut lesbar - was könnte man mehr wollen? Ich würde auch nie einen Blog für sein Design kritisieren. Was ich kritisiere ist Folgendes:
Den meisten Menschen ist Ästhetik wichtig - etwas soll hübsch aussehen, auch wenn das eigentlich keinen Einfluss auf den Nutzen hat. Daraus, dass die meisten Wordpress-Blogs eine Wand mit Text sind, schließe ich, dass es unglaublich schwierig ist, einen Wordpress-Blog hübsch zu gestalten. So schwierig, dass sich schlichtweg der Aufwand nicht lohnt.

Unser Blog war kompliziert, weil wir ihn extra hübsch gestalten wollten. In der Vergangenheit haben wir uns immer extrem viel Mühe mit unseren Blogdesigns gegeben. Im Endeffekt ist es bei diesem geblieben - es existiert seit Sommer 2016. Wir hatten schon viele vorherige und auch einige im Kopf, die sich schlichtweg nicht so umsetzen ließen, wie wir uns das gedacht hatten. Nicht jeder ist wie wir und nötig ist das schon mal definitiv nicht.
Trotzdem sehen wir auf Blogger unglaublich selten weiße Wände mit schwarzen Textblöcken. Warum? Weil es auf Blogger unglaublich einfach ist, einen einigermaßen ästhetisch ansprechenden Blog zu gestalten. Direkt, wenn man einen Blog erstellt, bekommt man sogar viele Standard-Möglichkeiten. Man kann das absolute Standarddesign nehmen oder man klickt sich einfach mal durch und nimmt das, was man persönlich am ansprechendsten findet. Es ist wirklich kein Aufwand und beansprucht vielleicht 2-3 Minuten Zeit, weil es viele Auswahlmöglichkeiten gibt.
Menschen schauen sich lieber Dinge an, die sie hübsch finden. Das ist leider so. Auch wenn, wie ein Blog aussieht, nichts über seine Qualität aussagt. Ein eigenes Design gibt jedem Blog Charakter.

Deshalb, zurück zur Kommentarfunktion:
ich habe mich extra ausgeloggt, um zu versuchen, einen anonymen Kommentar zu schreiben.
Man kann seinen Kommentar über ein Google-Konto, Name + URL oder schlichtweg anonym verfassen. Wobei man beim Namen keine URL angeben muss. Man kann auch einfach "Lana" schreiben und damit glücklich sein. Was auffällt ist jedoch, dass es sehr deutlich wird, wo was eingegeben werden muss und auch der Kontrast ist gut. (Schwarz auf Weiß.)
Wählt man 'anonym' aus, schreibt man einfach drauf los. Der Kommentar wird dann unter dem Namen 'Anonym' angezeigt. Man muss lediglich eines dieser kleinen 'Ich bin kein Bot'-Felder beantworten.

Fazit: ich werde nie verstehen können, wie Wordpress sich durchsetzen konnte, obwohl Blogger existiert.
Bitte lasst mich wissen, falls es irgendetwas mit besserer Barrierefreiheit zu tun hat, dazu findet man im Internet nämlich nahezu nichts. Ich möchte es allerdings sehr stark bezweifeln, da den meisten Nutzern Barrierefreiheit eher unwichtig ist, beziehungsweise sie schlichtweg nicht darüber nachdenken, ob zum Beispiel Blinde vielleicht auch ihren Blog lesen wollen.

P.S.: Blogger ist übrigens hübsch. Und toll. Und fluffelig.
        Kommt zu Blogger. :<

Dienstag, 14. Juli 2020

#4: Systemrollen

Wir haben über Tiere und Introjects geredet, aber was ist mit diesen Begriffen, die Systeme die ganze Zeit benutzen, wie 'Host', 'Beschützer', etc.? Das hier ist eine (nicht sehr kompakte) Liste über diese sogenannten Systemrollen!

Host: Der Host ist die Person, die entweder am meisten draußen ist oder aber, die sich um die lebensnotwendigen Aufgaben des gesamten Systems kümmert (zum Beispiel Behördengänge und ähnliches). Das definiert jedes System ein wenig anders.
'Host' ist das englische Wort für 'Gastgeber' oder 'Wirt', diese Wörter verwenden wir allerdings nicht, da wir sie nicht mögen und wir haben auch noch nie gehört, dass irgendjemand anders diese Begriffe verwendet hat. Das einzige deutsche Wort, das wir bisher als Alternative gehört haben, ist 'Alltagsperson'. Da wir aber ein ganzes Alltagsteam haben, würde es sich für uns sehr falsch anfühlen, nur den Host so zu bezeichnen.

Co-Host: In manchen Systemen teilen sich mehrere Personen die Aufgaben des Hosts. Dort entscheidet sich dann ein System möglicherweise dafür, für einen oder mehrere andere Anteile den Begriff Co-Host(s) zu verwenden.
Bei uns ist es zum Beispiel so, dass Lana unser Host ist, sie kümmert sich um unser tägliches Leben und ist am meisten draußen. Ich (Skye) kümmere mich allerdings in der Regel um offiziellere Sachen wie Behördengänge, Arzttermine und Ähnliches, vor allem, wenn gerade viel Stress herrscht, da ich die einzige Person im System bin, die einigermaßen mit Stress umgehen kann. Deshalb trage ich die Bezeichnung Co-Host.

Beschützer: Beschützer ... beschützen. Das System als Ganzes, den Host oder bestimmte Innenpersonen. Auf unterschiedliche Arten. Es gibt beispielsweise körperliche Beschützer, die darauf aufpassen, dass dem System körperlich kein Schaden passiert, während emotionale Beschützer eher darauf achten, dass das System nicht verletzt wird und das System beispielsweise gegen Vorwürfe verteidigen. Teilweise sind Beschützer gleichzeitig auch Traumaträger, um andere Innenpersonen vor traumatischen Erinnerungen zu beschützen.

Fürsorger: ein deutscher Begriff, den wir dafür gefunden haben (wir haben bisher noch nie einen deutschen Begriff dafür gehört). Jedenfalls. Im allgemeinen Caretaker genannt (was auf Deutsch Hausmeister heißt und somit falsch ist), sind Caregiver sozusagen die Seelsorger im System. Sie kümmern sich um verschiedene Innenpersonen, wenn es denen schlecht geht; in der Regel um den Host oder die Innenkinder. Sie sind außerdem häufig zuständig dafür, für Entspannung zu sorgen und kümmern sich im allgemeinen um Selbstfürsorge.

Traumaträger: Traumaträger sind Innenpersonen, die die Traumaerinnerungen und die dazugehörigen Gefühle für das gesamte System halten. Dadurch kann anderen Personen, wie beispielsweise dem Host, ein (relativ) normales Leben ermöglicht werden.

Gatekeeper/Wächter: Wächter sind Innenpersonen, die über Wechsel bestimmen können, bestimmte Teile der inneren Welt bewachen und/oder über Erinnerungsverteilung entscheiden können. Wie wir lernen mussten, gibt es hier sehr große Unterschiede.
In manchen Systemen (gerade oder sogar ausschließlich programmierten) gibt es Wächter, die theoretisch in der Lage sind, zu jeder Sekunde zu bestimmen, wer draußen ist - diese werden aber in der Regel nur für bestimmte Innenpersonen-Gruppen/Subsysteme eingesetzt, sodass im Endeffekt trotzdem nicht jeder Wechsel kontrollierbar ist.
Als Unterstufe davon gibt es etwas, was wir mal als 'Wechselhelfer' bezeichnet haben. Damit meinen wir Innenpersonen, die zwar einen großen Einfluss auf Wechsel haben, aber eben nicht über bestimmte Wechsel entscheiden können. Sie können aber zum Beispiel bestimmen, dass Wechsel stattfinden und dann einfach durchrotieren bis jemand draußen ist, der für eine bestimmte Situation geeignet ist (da Wechsel allerdings sehr anstrengend für den Körper sind, ist es bei uns so geregelt, dass unsere 'Wechselhelferin' einfach selbst rauskommt, wenn sie niemanden finden kann, der sich gerade für die Situation eignet).
In der inneren Welt gibt es zudem teilweise Wächter, die bestimmte Trauma-Abschnitte bewachen, damit niemand versehentlich Erinnerungen sehen oder Innenpersonen treffen kann, von denen er gar nichts wissen sollte.

Fragmente: wir verstehen es selbst nicht so ganz, aber scheinbar sind Fragmente Innenpersonen, die keine vollständige eigene Person sind, sondern stattdessen nur für eine sehr spezifische Aufgabe, Erinnerung oder Emotion zuständig sind.
Wir zählen unsere Fragmente als Innenpersonen mit, da wir das sehr verwirrend finden. Wenn wir dann endlich Therapie haben (vermutlich ab 2021!) und das besser verstehen, schreiben wir bestimmt mal ausführlicher was dazu.

Persecutor oder 'dunkle Anteile':
Passend zum Gothic-Theme mancher Systeme -
ich meine natürlich, um jede Innenperson mit Problemen direkt auf ihre Probleme zu reduzieren -
also, um eine hübsche Umgehung dafür zu finden, dass man keine negativen Bezeichnungen für andere Innenpersonen verwenden soll -
ähem.
Der Begriff 'Persecutor' ist eine Bezeichnung für Innenpersonen, die dem System als ganzes eher Schaden, zum Beispiel durch Selbstverletzung oder durch problematisches Verhalten, sowohl in der Innen- als auch in der Außenwelt. Außerhalb eines bereits geplanten, aber noch nicht geschriebenen Posts darüber, warum wir diesen Begriff ganz schlimm finden und nicht verwenden, wird dieser Begriff keine Verwendung auf unserem Blog finden.
Die 'dunklen Anteile' sind ein wenig anders. Sie unterstützen Täter aktiv und wurden in der Regel absichtlich so sozialisiert, dass sie das, was die Täter machen, gut finden. Soweit wir wissen, kommt so etwas ausschließlich in programmierten Systemen vor.

Gefühlsträger: ein von uns eingeführter Begriff für das, was im Allgemeinen eher 'Persecutor' genannt wird. Gefühlsträger halten starke mit Trauma verbundene Gefühle für das gesamte System, ohne jedoch explizit Traumaerinnerungen zu haben. Sie haben dadurch sehr schlimme vorherrschende Gefühle wie Selbsthass, Scham oder Wut, die oft relativ destruktiv ausgelebt werden.
Aber, und das darf man nicht vergessen, sie existieren, damit beispielsweise der Host diese Gefühle nicht (so stark) fühlen muss und sind somit ein wichtiger Bestandteil des Systems. Das sage ich deshalb so deutlich, weil ich schon mehrfach mitbekommen habe, wie Systeme diese Anteile systematisch ausgegrenzt haben, weil sie unangenehm sind.

Freitag, 10. Juli 2020

#3: Tiere im System? - Anteilarten & Systemrollen

Anteile in einem System entstehen in der Regel nach einem Bild, von dem das traumatisierte Kind denkt, dass dies wäre, was es gerade braucht, im Sinne von: ich selbst kann dieses Trauma nicht überleben, aber XYZ könnte es bestimmt! Demnach können die entstehenden Personen nicht nur ein anderes Alter oder Gender haben, sondern alles kann anders sein - ihre Aussehenswahrnehmung (oder auch ihr Körper in der inneren Welt), ihre Stimme, ihre Spezies, ethnische Zugehörigkeit, ... es gibt bestimmt noch viele andere Sachen, die ich gerade nicht mal bedenke.

Vereinfacht kann man sich das so vorstellen: Im Gehirn existiert quasi eine „Karte“ über den Körper, also, über die Proportionen, darüber, wo welcher Bestandteil des Körpers ist und alles weitere, was so zur Selbstwahrnehmung wichtig ist. Bei den verschiedenen Anteilen stimmt diese Karte allerdings nicht mit dem eigentlichen Körper überein - es kann zum Beispiel passieren, dass jemand das Gefühl hat, dass seine Hände kleiner/größer sind als die des Körpers, dass gewisse andere Körperteile (nicht) da sein sollten, dass bestimmte Sinne nicht da sein sollten (teilweise sind sie sogar nicht da) oder eben auch, dass diese Karte überhaupt nicht mit dem menschlichen Körper übereinstimmt: weil der Anteil nicht menschlich ist.

Es gibt viele Arten von nicht menschlichen Anteilen: Tiere, Gegenstände, Fabelwesen, ...
Besonders häufig sehen wir Wölfe. Was nicht weiter verwunderlich ist: Wölfe sind stark und schnell. Wölfe sind in vielen Kindererzählungen (fast) unbesiegbar und wenn es eines gibt, was Wölfe nicht können, dann ist das bestimmt verletzt werden! Es gibt allerdings alles an Tieren in Systemen. Bisher haben wir gehört von Schlangen, Spinnen, Hunden, Katzen, Füchsen und Wölfen, aber im Prinzip ist alles möglich. Sogar Drachen! Natürlich verhält sich die Person trotzdem als Mensch und hat auch menschliche Eigenschaften. Anders würde das Leben im Köper ja gar nicht funktionieren. Ihr Selbstbild ist eben nur das eines Tieres.
Es kann sein, dass Gespenster entstehen, vermehrt durch Nahtoderfahrungen, von Dämonen und Engeln hören wir oft (im Kontext mit stark religiösem Missbrauch, da in diesem Glauben sowohl Dämonen als auch Engel unbesiegbare, unberührbare Wesen sind), Vampire, Feen, Magier, ... Jedes System ist individuell und hat demnach auch individuelle Gründe, warum solche Anteile entstehen.
Es gibt sogar auch gegenständliche Innenpersonen, zum Beispiel Bäume oder Züge oder sogar Stürme, Seen, Vulkane - darüber wissen wir allerdings sehr, sehr wenig, deshalb fühlen wir uns nicht qualifiziert, darüber irgendetwas zu sagen. Dass sie existieren, sei trotzdem erwähnt!
Tatsächlich bestehen aber die meisten Systeme, die wir kennen, überwiegend aus menschlichen Anteilen.

Als letzte Anteilart hätten wir Introjects. In der englischen Community begegnet man dort häufig einer Unterscheidung zwischen Fiktiven und Faktiven. Diese konnten wir bisher in der deutschen Community nicht beobachten.
Introjects sind Innenpersonen, die einer anderen Person nachempfunden sind - beispielsweise einem fiktiven Seriencharakter (Fiktives) oder auch einer realen Person (Faktives). Dies kann zum Beispiel passieren, wenn das Kind eine Lieblingsfernsehserie hat, in der es einen superstarken Charakter gibt - dieser Charakter könnte vielleicht mit dem Trauma besser umgehen, also wird er als Beschützer introjected. Ein anderes Beispiel wäre, dass das Kind eine supernette Erzieherin im Kindergarten hat, die dann zu einer Mutterperson im System (introjected) wird.
In den meisten Systemen scheint es eher wenige Introjects zu geben. Zumindest ist das bisher unser Eindruck.

In unserem speziellen Fall entstehen Introjects durch Verluste. Eine geliebte Person stirbt? Introject. Unser bester Freund, den wir nur übers Internet kannten, existiert eigentlich gar nicht? Introject. Wir sind deshalb sehr froh, dass wir (zumindest mit solchen permanenten Verlusten) bisher kaum Erfahrungen machen mussten.

Samstag, 4. Juli 2020

#2: Leben mit dissoziativer Identitätsstörung

Für uns, oder an dieser Stelle eher für mich, fühlt sich die DIS so an:

Früher habe ich das nie verstanden. Dadurch, dass bei uns (zumindest im Alltagsteam) keine kompletten Amnesien bestehen, fühlten wir uns dennoch als eine Person, oder vielleicht sollte ich eher sagen: wir dachten, wir wären eine Person. So angefühlt hat es sich nie, aber wir wussten nicht, dass etwas anderes überhaupt existiert, also dachten wir das eben.

Ich wusste: meine Hobbys sind Ernährung, Kochen, Lesen, Schreiben. Ich mag es, mit Menschen zu reden, sie kennenzulernen, mich mit ihnen anzufreunden.
Also warum fühlte es sich so schlimm für mich an, mich mit Ernährung zu beschäftigen? Und warum hasste ich es so, zu kochen? Und warum fiel es mir so schwer, mit Menschen zu reden, warum hatte ich nie Worte, warum hatte ich manchmal sogar Angst?
„In der Uni bin ich ein komplett anderer Mensch“, sagte Melanie mal zu ruru, weil sie erklären wollte, dass „sie“ dort plötzlich total kommunikationsunfähig wird. Aber jeder Mensch ist doch anders in verschiedenen Umfeldern. Das ist doch ganz normal. Aber eben nicht so anders. Niemand verliert oder gewinnt Fähigkeiten, je nach Umfeld.

Regelmäßig brach ich zusammen, weil ich mich mit Ernährung beschäftigen „musste“. Meine Gedanken waren doch essgestört genug. Warum war das mein Hobby? War ich denn völlig von Sinnen? Das konnte doch gar nicht gesund sein! Ich sollte mir ein neues Hobby suchen. Kochen mochte ich doch ohnehin auch nicht.

Aber Melanie mochte dieses ganze Zeug, ohne Essstörung, also blieb es. Und ich blieb dabei, mich zu fragen, warum ich alle meine Hobbys hasste. Und manchmal fühlte Melanie sich, als wäre sie 12 (das war Mina). Oder sie hatte Zusammenbrüche, weil sie irgendeinen Menschen vermisste, mit dem wir vor fünf Jahren mal Kontakt gehabt hatten (das war Dawn).
Oder ich fragte ruru, ob es denn okay wäre, wenn ich ihn nie wieder küssen würde, weil das alles mich anwiderte, aber drei Minuten später kam Dawn raus und küsste ihn fünf Minuten lang. Was sich für mich dann total übergriffig anfühlte. Ich hatte das doch gar nicht gewollt! Warum kommunizierte ich immer, dass ich so was wollte, wenn das doch gar nicht der Fall war?

Man muss verstehen, das alles nahmen wir als eine Person wahr - die Handlungen, die Gefühle dazu nicht. Ich wusste, dass „ich“ Dinge getan hatte, die ich eigentlich niemals wollen würde. Ich wusste, dass „ich“ mir Hobbys ausgesucht hatte, die ich hasste, Freunde, die ich nicht mochte, denen ich misstraute, dass „ich“ „meinen“ Kühlschrank mit Dingen vollgestellt hatte, die ich gar nicht essen mochte. Ich erinnerte mich daran, sie gekauft zu haben! Was war falsch bei mir?
„Manchmal habe ich das Gefühl, als lebe ich zwei verschiedene Leben“, schrieb ich. „Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich zwei verschiedene Personen.“ Aber das alles erfuhr nie ein Psychologe. Was war das auch für ein dummer Gedankengang?
Die Probleme mit Sexualität sprach ich an, mehrfach. Dass ich Dinge tat, die ich nicht tun wollte und mich hinterher fühlte, als wäre ich missbraucht worden. Aber niemand erkannte, was das war. Ich glaube, sie alle dachten, das wäre meine Art mir einzureden, dass meine Exfreunde mich nicht alle missbraucht hätten (was sie nicht haben! jedenfalls nicht alle).

Und der erste Mensch, der die DIS erkannte, sagte es uns nicht, sondern nutzte es lieber aus.
Als wir überhaupt von der DIS als Traumafolgestörung erfuhren, war es 2019. Sechs, fast sieben Jahre nach dem ersten Besuch beim Psychologen. Vier Jahre nach den ganzen „ich fühle mich wie zwei Menschen“-Tagebucheinträgen.
Wur erfuhren davon, weil ein Freund von uns damit diagnostiziert wurde und wir uns ein Video darüber ansahen, weil wir nicht einmal wussten, was das eigentlich war.
Aber nach dem dritten Video wussten wir: das war, was bei uns falsch war (nur ohne Amnesie). Genau das.
Also schrieben wir eine Mail an unseren Psychologen (wo wir ein halbes Jahr nicht gewesen waren, weil die Therapie einfach nichts brachte) und erzählten ihm, dass wir das vermuteten und bekamen einen Termin, einen Monat später, wo der Psychologe mir erzählte, er hatte das bereits seit 1.5 Jahren als Verdachtsdiagnose. (Was mich immer noch wütend macht. Wenn ich das seit 1.5 Jahren vermute, warum erwähne ich dann nicht zumindest, dass solche Gefühle existieren oder mache präventiv den Fragebogen für dissoziative Störungen? Wir hätten sofort gewusst, was wir haben und nicht noch mehr Zeit verschwendet!)

Zwei Monate später stand die Diagnose. (Wir hatten inzwischen rausgefunden, dass Amnesien doch existieren, nur eben nicht 100%. Wir dachten einfach, Amnesie wäre gleich komplette Blackouts zu haben.)
Und es ist so unglaublich angenehm, es endlich zu wissen. Weil ich jetzt Ich sein kann und nicht mehr all meine Energie darauf verwenden muss, Melanie zu sein, was ich nie erreichen können werde.

Manchmal vermisse ich sie.
Melanie war unsere Hostin, zu der ich kaum Amnesie hatte, bis sie mit einer Traumaträgerin integriert ist, weil diese nicht mehr mit ihren Erinnerungen alleine klar kam.
Jetzt gibt es Lana und ich erinnere mich an nichts. Also fühlt es sich für mich so an, als wäre Melanie verschwunden. Und das tut weh, immer wieder. Manchmal ganz leise und dann wieder so laut, dass es den gesamten Raum ausfüllt.

Eine DIS zu haben ist grauenvoll, wenn man nicht versteht, was es ist. (Für uns war es das zumindest - ich weiß nicht, wie es anderen geht). Und selbst wenn man es weiß, ist eine DIS stellen- und auch zeitweise grauenvoll. Aber sie ist auch schön, manchmal. Weil man nicht alleine mit seinem Trauma sein muss. Weil man nicht mit irgendetwas alleine sein muss. Weil es immer jemanden gibt, der mitträgt. Mitlebt. Mitleidet. Mitbebt.

Donnerstag, 2. Juli 2020

#1: Dissoziative Identitätsstörung, multiple Persönlichkeitsstörung - Was ist das?


Laut der Theorie der strukturellen Dissoziation hat ein Kind keine feste Persönlichkeit, sondern mehrere Persönlichkeitszustände, die im Laufe der ersten Lebensjahre (spätestens des siebten Lebensjahrs, nach aktuellen Forschungen) zu einer einzelnen Persönlichkeit verschmelzen.
Erlebt ein Kind in dieser Zeit allerdings immer wieder extremen Stess (Traumata), kann es sein, dass die Existenz dieser Persönlichkeitszustände für das Überleben zu wichtig ist, als dass sie verschmelzen (integrieren) könnten. Stattdessen werden Amnesiebarrieren zwischen den einzelnen Persönlichkeitszuständen erschaffen, sodass ein Persönlichkeitzustand ganz normal zur Schule gehen kann, ohne auch nur eine Ahnung darüber zu haben, dass ein anderer Persönlichkeitszustand im selben Körper ständig schwerstem Missbrauch ausgesetzt ist.
Durch die Amnesien erlebt jeder Persönlichkeitszustand nur einen Teil des Lebens, hat nur einen Teil der Erinnerungen, Erfahrungen, etc. Dadurch entwickeln all diese Persönlichkeitszustände eine eigene Persönlichkeit (mit einem eigenen Identitätsgefühl), die sich stark von den anderen unterscheiden kann.

Vereinfacht kann man sagen, dass die Persönlichkeitsentwicklung ist, als würde man einen Kuchen backen. Die Basiszutaten für einen Kuchen sind Mehl, Milch und Eier.
Es gibt allerdings tausende Möglichkeiten einen Kuchen zu backen. Je nachdem, welche Zutaten einem das Leben gibt, entsteht im Endeffekt ein ganz anderer Kuchen! Zum Beispiel eine Erdbeertorte oder ein Schokokuchen. Selbst einen Basiskuchen kann man anders backen, es gibt zum Beispiel eine vegane Variante.
Unser Rezept für Schokokuchen beinhaltet folgende Zutaten: Weizenvollkornmehl, Leinsamen, Backpulver, Natron, Vanille, Zucker, Bananen, Kakao, Sprudelwasser, Haselnussmilch, Kakaobutter, Puderzucker, Kokosflocken.
Wir sind aber nie ein Schokokuchen geworden.

Bei der DIS funktioniert das Kuchenbacken nämlich nicht, weil das Trauma die Rührschüssel kaputtmacht. Dadurch bleibt jede Zutat erstmal alleine, aber wird dann im Endeffekt zu etwas eigenem, wenn das Leben ihm weitere Zutaten dazugibt. Zum Beispiel wird das Mehl (durch Hefe + Wasser) zu einem Brot, der Kakao wird (durch Milch + Honig) zu einer heißen Schokolade, die Bananen + Kokosflocken werden vielleicht mit Joghurt zu einem tollen Frühstück. So sind alle Zutaten Teil eines neuen großen Ganzen geworden und sie wissen (vermutlich) auch gar nicht, dass sie ursprünglich mal ein (Schoko)Kuchen werden sollten.

Der Begriff „multiple Persönlichkeitsstörung“ ist einfach nur ein sehr veraltetes Wort für dasselbe Phänomen: eine Dissoziation des Bewusstseins und ein anschließendes Dissoziiertsein verschiedener Identitäten. Die Diagnose wurde 1994 umbenannt.
In Deutschland wird sie, mit dem ICD-11, tatsächlich erst 2022 offiziell umbenannt werden, allerdings ist auch hier schon die Bezeichnung „dissoziative Identitätsstörung“ geläufiger, da die DIS keine Persönlichkeitsstörung ist und der alte Begriff somit zu Verwirrung führen kann.