Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Mittwoch, 28. Oktober 2020

#25: Trauma, DIS und Sexualität

Riesige Triggerwarnung für's Thema Sex/Sexualität an dieser Stelle.
Falls jemand sich fragt, warum wir 'Sex' ständig mit * schreiben: es gibt halt ziemlich viele sexuelle Dinge, die man machen kann, die nicht direkt Sex sind, aber dafür gibt es irgendwie kein Wort oder zumindest haben wir keins, also schreiben wir halt 'Sex*'.

Die meisten anderen Systeme, mit denen wir bisher über das Thema Sexualität geredet haben, sind fast durchweg asexuell. Damit meine ich, dass 90% des Systems asexuell ist - in fast jedem System gibt es 'sexuelle Anteile'. Das liegt daran, dass so gut wie jedes System massive sexuelle Gewalt erfährt, deren Erleben oft dadurch überlebt wird, einen Anteil zu erschaffen, der das alles tatsächlich "mag". Ich setze dieses Mögen in Anführungszeichen, weil ein sexueller Anteil bei uns nur einmal einvernehmlichen Sex* brauchte, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Vergewaltigungen eigentlich überhaupt nicht schön waren und sie diese gar nicht wirklich mochte.
Dafür, wie das in anderen Systemen ist, kann ich natürlich nicht sprechen. Und vielleicht sind auch gar nicht wirklich so viele Systeme asexuell, wie es für uns den Anschein macht. Vielleicht wird einfach nur nicht viel darüber geredet.

Wir waren lange Zeit darüber verwirrt, ob wir asexuell sind oder nicht, als wir noch dachten, wir wären eine einzelne Person. Die Trauma-Anteile, wie sexuelle Anteile, nahmen wir als Alltagsteam nicht wahr - zu viel Amnesie. Aber Dawn war sehr offensichtlich nie asexuell. Während ungefähr der Rest des Alltagsteams die Vorstellung von Sex entweder widerlich fand oder Angst davor hatte. (Ja. Das ist nicht, was Asexualität ist. Darauf gehe ich gleich ein.)
Tatsächlich schwankten wir lange dazwischen, uns als 'grey-asexuell' oder 'demisexuell' zu bezeichnen. Dabei wussten wir nicht mal, mit Ausnahme von Dawn, ob wir überhaupt sexuelle Anziehung empfinden. Und noch schwieriger war es, zwischen sexueller Anziehung und dem Wunsch, Sex zu haben, zu unterscheiden. Es war alles sexuell. Es war alles grauenvoll. Ende des Gedankengangs.

Das erste mal positive Sexualität haben wir in unserer zweiten Beziehung erlebt, wenn auch nur für kurze Zeit. Dann wurden immer mehr Grenzen missachtet, bis es auch zu Vergewaltigungen kam.
Trotzdem hat uns das nachhaltig geprägt - ja, auch das Positive. Wir sind wesentlich offener für das Thema geworden. Wir haben uns, soweit unserer Möglichkeiten, sogar damit beschäftigt: verschiedene Sexualitäten. Verschiedene Fetische. Verschiedene Menschen.
Unsere eigene Sexualität wurde aber durch die sexuelle Gewalt immer weiter zerstört. Wir waren alle akut traumatisiert. Niemand wollte mehr irgendetwas damit zu tun haben.

Das hielt an bis Melanie sich ein Jahr nach Ende der Beziehung in jemanden verliebte.
Zu dieser Person entstand zuerst eine Freundschaft+ und, nach ein paar Monaten, auch eine Beziehung.
Am Anfang war es schrecklich. Ich weiß nicht, wer damals in diesen Situationen eigentlich draußen war, aber es wurde ständig dissoziiert und traumatisierte Innenkinder kamen raus. (Das war immer noch alles vor der Diagnose.) Irgendwann lernte Melanie zu bemerken, wenn sie anfing zu dissoziieren - was noch nichts brachte, weil sie nicht Stopp oder irgendetwas sagen konnte. Fast niemand von uns konnte das.
Aber ruru gab uns Zeit. Er hörte uns zu und lernte uns kennen und sah all die kleinen Neins und Stopps, die immer wieder missachtet worden waren. Und vor allem fing er an, bei allem zu fragen, ob das okay war, ob wir das wollten und kein einziges mal nahm er unser Schweigen als Ja. Auch kein 'ich mag dich' war ein Ja für ihn. Weil 'ich mag dich' nicht Ja heißt sondern 'Nein, aber ich habe Angst, dass du mich nicht mehr magst, wenn ich das sage'. Zumindest bei uns. Ich weiß nicht, wie das bei nicht traumatisierten Menschen ist.

Ganz langsam lernten wir auch selber Nein zu sagen.
Das ist immer noch ein Prozess, auch über zwei Jahre später. Nicht immer schaffen wir es. Hören tut er es trotzdem immer. Fast immer.
Ich erinnere mich an eine Situation, die sehr uneinvernehmlich war, was er aber nicht gemerkt hat. Das wollte ich ursprünglich nicht erwähnen, weil es ihm unglaublich leid tat und es definitiv nicht seine Absicht war.  Aber irgendwie ist es trotzdem wichtig. So etwas wird es geben, wenn man selbst nicht ausreichend kommunizieren kann, was man möchte, selbst wenn der Partner sich noch so viel Mühe gibt.
Es war nur eine Minute, vermutlich sogar weniger, dann hat er selbst gemerkt, dass irgendetwas fundamental falsch ist. Das ist nichts im Vergleich zu sexuellem Missbrauch. Es ist trotzdem eine Minute, in der man überzeugt ist, es passiert jetzt wieder.

Ich würde mich immer noch als asexuell definieren, denke ich. Wir machen uns inzwischen wenig Gedanken um solche Schubladen. Sexuelle Anziehung spüre ich definitiv nicht und Sex* fühlt sich für mich 99% der Zeit widerlich an. Auch wenn ich inzwischen akzeptieren kann, dass es anderen Innenpersonen anders geht.
Aber viele Innenpersonen, also 80% der Erwachsenen, würde ich sagen, haben das inzwischen (kennen)gelernt: einvernehmliche Sexualität. Mit jemand anderem. Alleine ist ein ganz anderes, viel größeres, Problem. Da hat man selber Kontrolle. Und das geht irgendwie nicht.
In unser Gehirn ist eingebrannt, dass Sexualität mit Kontrollverlust einhergeht. Ein kurzes 'Stopp' ist vielleicht noch okay, da behält trotzdem jemand anders die Kontrolle darüber, was er damit macht. Sich selbst die Kontrolle zu geben? Unmöglich. Zumindest bisher.

Tatsächlich Sex kann noch niemand von uns haben. Vor einiger Zeit hat es jemand versucht, aber wir haben sofort massive Bauchkrämpfe bekommen, was wohl ist, wie unser Körper uns sagen möchte, dass wir das lieber nicht machen sollten.

Und jetzt dissoziiere ich.
[Teil 2 folgt.]

Freitag, 23. Oktober 2020

#24: Wie man Vertrauen lernt

Es gibt eine traurige Wahrheit, die immer wieder vergessen wird: man lernt Dinge nur, indem man sie immer wieder versucht und versucht und darin versagt, versagt, versagt, Fehler begeht, Rückschläge erleidet, um schließlich am Ziel anzukommen, das man sich eigentlich ganz anders vorgestellt hatte.
Es gibt bei uns eine Wahrheit, die (gefühlt) in unsere DNA einprogrammiert ist: nicht jeder Mensch ist böse!
Und trotzdem fragte ich ruru, nach all der langen Zeit, die ich nicht draußen war, ob er mir jetzt wehtun würde. Und ich frage ihn immer noch, ob er mir auch wirklich nicht wehtut und ob er mich auch wirklich beschützt und lieb hat und ob ich wirklich nie wieder so schlimme Dinge tun muss. Jeden Tag.
Vertrauen ist nämlich gar nichts hübsches oder bedingungsloses. Man kann vertrauen und trotzdem Angst bekommen sobald jemand ein wenig genervt klingt, ein wenig wütend klingt, man einen Fehler begeht. Vertrauen ist nicht, grundsätzlich immer zu wissen, dass mir jemand nichts tut, sondern es ist, zu fragen „aber du tust mir doch nichts, oder?“ und sich ein klein wenig besser zu fühlen, nachdem man ein „ich tue dir nichts, versprochen“ als Antwort bekommt.
Aber um zu sehen, dass einem nichts getan wird, muss man erstmal in eine Situation gehen, in der einem etwas getan werden könnte, um dann zu sehen: es passiert gar nichts.
Und dass gar nichts passiert, ist auch eine Lüge.
Nicht jeder Mensch will einem wehtun. Aber ruru hat Mina schon mal gesagt, dass es nervig ist, dass sie immer fragt, ob sie nervig ist. Da hat sie ganz viel geweint und gesagt, aber sie denkt es doch und fühlt sich doch so und er meinte doch, Gefühle sind nie falsch, aber scheinbar findet er ihre falsch, weil er sie nervig findet. Und da hat er sich entschuldigt und sie ganz doll umarmt. Und als Melanie einem Freund von der DIS erzählt hat, hat der gesagt: aber was ist denn, wenn ich die richtige Melanie jetzt gar nicht mag? Weil er das einfach nicht richtig verstanden hatte mit der DIS!
Vertrauen heißt nämlich gar nicht, dass die Person einen nicht verletzen wird, sondern dass man versteht, ob die Person einen verletzen wollte und dass es nichts (am Vertrauen) kaputtmacht, wenn die Verletzung nicht die Absicht war.
Aber natürlich gibt es auch Menschen, die einem absichtlich wehtun, wenn man ihnen vertraut. Aber wenn man es immer und immer und immer wieder macht, merkt man, dass das eigentlich gar nicht so viele sind. Es gibt sehr viel mehr nette Menschen als gemeine! Die tun einem auch ganz oft weh, nur eben nicht absichtlich. Und das ist eigentlich ziemlich schön. Es geht nämlich nicht die Welt unter, weil jemand sich falsch ausgedrückt hat. Das lernt man irgendwann.

Montag, 19. Oktober 2020

#23: ein kurzer Abstecher in die Traumadiagnostik

Die (k)PTBS ist von einer Reihe Symptome aus verschiedenen Symptomkategorien gekennzeichnet, von denen je nach betroffenem Individuum verschiedene zutreffen. Es gibt Symptome, die für die Diagnose definitiv zutreffen müssen, andere, die nicht zwingend zutreffen müssen, aber sehr häufig sind und wieder andere, die zwar ebenfalls auftreten können, aber nicht ganz so häufig sind.

In der Vergangenheit haben wir immer wieder mit Menschen geredet (meist Psychologen), die uns Symptome einreden wollten, die wir gar nicht haben, weil doch aber 95% aller Leute mit PTBS diese Symptome haben oder die bestimmte Symptomausprägungen, die wir haben, übersehen haben, weil sie nicht der "Standardsymptomausprägung" entsprechen. Teilweise haben wir natürlich auch selbst Symptome nicht wahrgenommen, weil diese beispielsweise nur bestimmte Innenpersonen betrafen, zu denen aber starke Amnesie bestand oder teilweise auch aus dem Grund, dass sie uns falsch kommuniziert wurden. Letzteres haben wir vor ein paar Tagen festgestellt und daraus ist im Endeffekt auch dieser Post entstanden.
Vermutlich geht es jeder Person mit einer posttraumatischen Belastungsstörung ähnlich. Es gibt einfach Symptome, die im ICD-10 (oder 11) stehen, die man so einfach nicht unterschreiben kann. Und irgendwie scheinen "alle anderen" auch ganz andere Symptomausprägungen in diese Richtung zu haben. Nur dass es eben immer andere Symptome betrifft.

Deshalb folgt heute eine Liste an Annahmen, die andere Menschen ständig über unsere PTBS machen (oder teilweise auch über die PTBS allgemein), die so einfach nicht stimmen; mit dazugehöriger Erklärung natürlich. Und zudem der erwähnten Falschannahme, die wir selbst jahrelang hatten.

  1. "Bei einer PTBS hat man immer Flashbacks."
    Falsch. Aber tatsächlich sogar vom Fachpersonal häufig so kommuniziert. Die Realität ist allerdings, dass die Diagnoserichtlinien ausschließlich sagen, dass man das Trauma wiederholt nacherlebt - das kann in Form von Flashbacks sein. Es kann jedoch auch in der Form von Intrusionen sein (eine Art Mini-Flashback, bei der einem jedoch voll bewusst ist, dass es sich um eine Erinnerung handelt und gerade nichts passiert). Selbst ein Wiedererleben in der Form von Albträumen ist für die Diagnose absolut ausreichend.

  2. "Bindungsstörungen bedeuten grundsätzlich, dass man misstrauisch gegenüber allen Menschen ist und (nahezu) niemanden an sich heranlässt."
    Ebenfalls falsch. Zwar scheint es bei der Mehrheit der betroffenen Bevölkerung so zu sein (zumindest nach unseren Beobachtungen), aber es gibt auch ein genau gegenteiliges Verhalten, das ebenfalls manchmal bei Bindungsstörungen auftritt: man schmeißt jedem Menschen sein Vertrauen entgegen, als hinge das eigene Leben davon ab. Das mache ich. Herzlich willkommen in meiner Welt voller Liebe und Verletzlichkeit. Ich freunde mich innerhalb von Minuten mit Menschen an, entwickle Gefühle für sie nach ein paar Stunden und muss mich die ganze Zeit zurückhalten, nicht jeden Menschen, den ich treffe, total mit Zuneigung zu überschütten, weil ich gelernt habe, dass das die meisten Menschen vollkommen überfordert. Und wenn ich dann damit anfange, ist es für die meisten Menschen trotzdem immer noch zu früh. Oder sie denken, ich muss in sie verliebt sein, sonst könnte ich mich gar nicht so verhalten. Oder andere Menschen denken das.
    Ich bin nicht naiv. Meine Menschenkenntnis ist größtenteils ziemlich gut, würde ich behaupten. Aber ich binde mich definitiv schneller an Menschen als ich ihre Vertrauenswürdigkeit einschätzen kann - und das ist auch eine Bindungsstörung. Wenn jemand nach drei Tagen sagt, dass er doch kein Interesse an der Freundschaft hat und man sich fühlt, als hätte man einen langjährigen Freund verloren. (Zum Glück halten meine Freundschaften selten lange genug, dass ich tatsächlich langjährige Freunde verlieren könnte, das war bisher in der Regel tatsächlich [re]traumatisierend.)
    Und generell kommt diese Form der Bindungsstörung bei uns auch deutlich häufiger vor als grenzenloses Misstrauen in andere Menschen. Wirklich misstrauisch sind nur eine handvoll von Innenpersonen.

  3. "Bei einer PTBS ist man grundsätzlich dissoziiert von seinem Körper oder hat zumindest ein sehr schwieriges Verhältnis dazu."
    Ich glaube, das ist tatsächlich in den aller-, allermeisten Fällen so; wobei ich mich auch irren könnte. Den Eindruck bekomme ich nämlich nur, weil gefühlt nahezu niemand (positiv) darüber redet. Aber vielleicht wird auch einfach das Thema nicht gemocht.
    Bei mir (und da kann ich an dieser Stelle wirklich nur von mir reden, bei vielen Innenpersonen ist es komplett anders) ist es so: mein Körper und ich, wir sind ein perfektes Team. Er ist echt super. Selbst mit kaputter DNA gibt er sich unendlich viel Mühe.
    Ich kann intuitiv den allermeisten Fällen sagen (ich würde sagen, ich liege so zu 98% richtig), ob Schmerzen, die ich habe, psychisch bedingt sind oder aufgrund einer körperlichen Verletzung/Krankheit auftreten. Letztes Jahr, als mein Immunsystem sich verabschiedet hat und mir von allen Seiten, allen Ärzten, allen Psychologen gesagt wurde: das passiert halt bei komplexen Traumafolgestörungen irgendwann. Das ist normal. Selbst da wusste ich, auch nach einem Jahr noch, dass die Ursache nicht psychisch ist (und siehe da: eine Schimmelbelastung in rurus Wohnung, spezifisch der Matratze, auf der ich bei ihm geschlafen habe, wurde gefunden, nachdem ich monatelang akribisch meine Symptome beobachtet habe). Ich stelle fest, welches Essen mir gut tut und welches nicht, ohne aufwendige Ernährungstagebücher zu führen. Und so weiter und so fort. Mein Körper und ich sind ein tolles Team. (Außer Hungersignale. Die habe ich nicht. Das ist sehr traurig.)

  4. "Vermeidung geschieht bewusst und willentlich."
    Vermeidung ist ein Symptom der (k)PTBS. Es werden Aktivitäten, Situationen oder Menschen vermieden, die einen an das Trauma erinnern, teilweise auch Gedanken daran, insofern das geht. Für uns klang Vermeidung immer nach einer Entscheidung. Natürlich in dem Gedanken getroffen, dass man bei einer bestimmten Aktivität vielleicht einen Flashback oder ähnliches haben könnte, also sehr nachvollziehbar, aber eben nie etwas, was wir gemacht haben. Das haben wir Psychologen auch immer gesagt - dass wir nicht vermeiden. Wir reden über unser Trauma, weil es wichtig für uns ist. Wir machen Dinge, von denen wir wissen, dass sie uns triggern könnten, weil wir sie für die Möglichkeit machen wollen, dass sie das vielleicht nicht tun. Das erste Mal, das wir uns aktiv zu Vermeidung entschieden haben, war Ende 2018, als wir beschlossen haben, dass wir nie wieder nach Hannover fahren würden. Davor nicht. Und niemand hat uns jemals erklärt, wie beschränkt unser Bild von Vermeidungsverhalten ist, bis wir neulich (wie so oft) irgendetwas nicht machen konnten, das wir eigentlich machen wollten, weil wir aus welchem Grund auch immer (ich erinnere mich nicht mehr an das Ereignis) so starke Panik davor hatten, dass es schlichtweg nicht möglich war, überhaupt das Haus zu verlassen, weil wir so doll geweint haben. Und plötzlich haben wir verstanden: das ist auch Vermeidung. Und das haben wir ständig. Wir wollen etwas machen, aber können es einfach nicht. Und hinterher ist Selbsthass, hinterher ist Frustration, hinterher ist Traurigkeit. Aber wir schaffen es eben einfach nicht. Vielleicht bei einem späteren Versuch.
    Im Endeffekt fühlt sich einfach das Wort falsch an. Etwas zu vermeiden klingt so, als würde man es freiwillig tun: ich will das nicht. Dann geht es mir schlecht. Und niemand redet darüber, dass es einfach schlichtweg nicht möglich ist. Dass man einfach auch schlichtweg nicht in der Lage ist, sich zu zwingen. Selbst wenn man die Dinge, die so viel Angst machen, trotzdem gerne machen würde.

    Mir war es wichtig, das insbesondere aufzuschreiben, weil ich nicht weiß, ob es nicht anderen traumatisierten Menschen genauso geht wir uns und sie jahrelang ständig denken: aber ich vermeide ja nichts.
    Vielleicht hatten wir auch einfach besonders viel Pech damit, dass uns nie vernünftig erklärt wurde, was genau mit Vermeidung eigentlich gemeint ist. Vielleicht ist unser Verständnis des Wortes grundsatzfalsch.

    Aber auch wenn es an dieser Stelle bloß ein Missverständnis war:
Euer Trauma ist mehr als Symptome. Davon abgesehen, dass man von einem Trauma nicht zwangsläufig eine PTBS entwickeln muss, um darunter zu leiden - es gibt viele Traumafolgen, die keine posttraumatische Belastungsstörung, aber trotzdem unglaublich belastend sind.
Gleichzeitig sind aber nicht nur wir sondern auch jedes Trauma individuell. Ihr müsst nicht die genau gleichen Symptome haben wie irgendjemand anders, um "richtig" traumatisiert zu sein. Jeder hat seine eigenen Symptome. Seine eigenen Folgen.
Bitte vergleicht eure nicht mit anderen oder andere mit euch und versucht, daran abzuleiten, wie (wenig) valide irgendeine Erfahrungsreaktion ist. Es führt zu nichts.

Sehr viel Kraft & Licht an euch.

Freitag, 16. Oktober 2020

#22: Erste Person Plural II

Und ich denke, wenn man in einer Situation verstanden werden will, die für andere Menschen nicht einfach zu verstehen ist, weil sie eben nicht in der normalen Erlebenswelt eines Menschen vorkommt, muss man oft auch Wünsche äußern. Denn manche Menschen fragen nach, aber andere auch wieder nicht und das liegt nicht zwangsläufig daran, dass es sie nicht interessieren würde, sondern oft auch an der Angst, etwas falsch zu machen oder eigenen traumatischen Erfahrungen, aufgrund derer sie sich ohnehin wie eine Belastung fühlen. Damit möchte ich nicht sagen, dass man für das Verhalten anderer Menschen zuständig ist. Aber es kann vieles einfacher machen, wenn man direkt auf sie zugeht.
Also schreiben wir an dieser Stelle auf, wie wir uns wünschen, dass andere Menschen mit uns umgehen.

Wir sind ein System - das bedeutet für uns, dass wir eine große Familie sind. Nur teilen wir eben ein Leben. Das heißt, uns bekommt man nur zusammen - aber gleichzeitig existieren wir auch alle einzeln. Wir möchten gerne alle als einzelne Personen behandelt werden, zumindest in einem Moment. Wenn man allgemein über uns spricht, ist es total schön, wenn Pluralpronomen benutzt werden und wir auch sonst im Plural angesprochen werden, eben durch Sachen wie "Flauschis" (man kann sich auch was anderes ausdenken, uns ist selbst einfach noch nichts eingefallen). Aber wenn man direkt in einem Gespräch mit uns ist, dann wollen wir (also die Person, die gerade draußen ist) als eigene Person gesehen werden. Das äußert sich dann sowohl in so Sachen wie, dass der Name der Person verwendet wird, die gerade draußen ist (oder dass nach dem Namen gefragt wird, wenn man ihn nicht kennt), als auch, dass man Dinge an die richtige Person adressiert. Also, wenn man zum Beispiel etwas sagen möchte, das spezifisch an eine Person geht (beispielsweise Lana, weil man mit ihr bisher am meisten zu tun hatte) und man weiß aber, dass gerade eine andere Person draußen ist, dass man dann sagt: "Hey, könntest du Lana sagen, dass ...", anstatt die Person anzusprechen mit: "Lana, ich wollte dir sagen, dass ..." Weil die Person eben nicht Lana ist. Und ständig Lana genannt zu werden, obwohl man jemand ganz anderes ist, tut eben weh.
Es äußert sich aber auch in Sachen wie, die Person altersgerecht zu behandeln. Dawn redet beispielsweise gerne über erwachsene Themen. Und natürlich kann man diese dann auch bei ihr ansprechen. Wenn dann stattdessen Skye draußen ist, die ebenfalls erwachsen ist, kann man natürlich fragen: "Kann ich auch mit dir über dieses Thema sprechen?" Aber wenn gerade ein fünfjähriges Kind draußen ist, sollte man es eben einfach lassen. Alles andere ist meistens sehr verängstigend.

Dazu zählt ebenfalls, dass man auf das individuelle Verhältnis, das man mit der jeweiligen Person hat, eingeht. Es reicht eben nicht aus, den richtigen Namen zu benutzen. Wenn man bisher nur mit Lana Kontakt hatte, selbst wenn man sie schon jahrelang kennt und richtig gut mit ihr befreundet ist, ist es einfach unglaublich befremdlich, eine andere Person, die gerade draußen ist, die man noch nie getroffen hat, wie eine jahrelange Freundin zu behandeln. Oder weibliche Pronomen oder Bezeichnungen zu benutzen, bei einer Person, deren Gender man nicht mal weiß, nur weil der Körper und ein Großteil des Systems weiblich sind.
Oft bekommen wir auch Aussagen, die definitiv an eine bestimmte Innenperson gerichtet sind (in der Regel Lana), aber dann einfach systemweit angewendet werden. Es ist einfach verletzend, gesagt zu bekommen "ich finde es schön, dass du immer so gefühlsübersprühend bist", wenn man das gar nicht ist und man weiß, es ist mal wieder Lana gemeint und man selbst wird einfach nicht gesehen und in den Lana-Topf geworfen. Weil Lana die meiste Zeit da ist, werden wir dann kollektiv als sie gesehen und auch so behandelt. Menschen benutzen dann vielleicht den richtigen Namen, aber sie verstehen eben nicht wirklich, was das gerade bedeutet - dass sie wirklich mit jemand anderem sprechen.
Aus demselben Unverständnis heraus werden Lana und Melanie in den allermeisten Fällen entweder als ein und dieselbe oder als zwei vollkommen getrennte Personen gesehen. Aber das ist beides nicht richtig. Lana ist aus den geteilten Erinnerungen zweier Innenpersonen entstanden - Melanie und Caomhe. Das bedeutet, dass 95% von Lanas Charakter auf den Lebenserfahrungen von Melanie aufbaut (Caomhe war ziemlich selten draußen). Dadurch sind auch ihr Charakter und ihre Gefühle so ähnlich. Aber sie ist eben nicht Melanie. Gleichzeitig ist Melanie aber auch keine andere Person. (Dasselbe gilt natürlich für Caomhe.)

ruru erkennt oft einfach am Verhalten oder an der Stimme, wer draußen ist, meistens aber auf jeden Fall, wenn ein Wechsel passiert ist oder wenn jemand anders co-bewusst ist. So etwas kann man nicht erwarten. ruru verbringt eben nur unglaublich viel Zeit mit uns und dann lernt man solche Kleinigkeiten eben. Dann merkt man, dass Fólan ein bisschen tiefer redet, dass Skye weniger Emotionen in der Stimme hat, Dawn überall ein Ausrufezeichen setzt (auch wenn sie redet). Man erkennt den Unterschied zwischen Lanas Stimme, die sehr kindlich klingt und tatsächlichen Innenkindern, die erstens noch kindlicher klingen und zweitens ein anderes Vokabular haben. Man weiß, welche Kinder viel reden und welche wenig und die bestimmten Sätze oder Wörter, die so nur ganz bestimmte Innenpersonen sagen. Oder die Verhaltensweisen, die nur bestimmte Innenpersonen haben. So was kann niemand erkennen, der uns nur selten sieht oder fast ausschließlich schriftlich mit uns kommuniziert.
Aber manchmal werden wir stiller, obwohl wir gerade noch viel geredet haben. Oder unsere Stimme wird kindlicher, selbst dann, wenn man Lanas Tonfall gewohnt ist. Und es wäre unglaublich schön, dann gefragt zu werden: "Wurde gerade gewechselt?" oder "Bist du noch [Name der Person, die vorher draußen war]?"
Manchmal ist das auch gar nicht so. Aber es könnte ja sein.

Gleichzeitig wäre es sehr schön, wenn nicht einfach angenommen werden würde, dass eine bestimmte Person draußen ist (zum Beispiel Lana). Auf Discord ist das okay, weil dort in der Regel im Wechsellog steht, wer gerade draußen ist und falls die Information dort mal falsch sein sollte, dann ist das komplett unser Fehler und man kann da niemandem einen Vorwurf machen.
Wenn man uns jedoch IRL oder in einem Voice Chat antrifft, dann werden wir vermutlich keine Wechsellogs aktualisieren (dann ist unsere Aufmerksamkeit wo anders). Und man selbst schaut dann vermutlich auch gar nicht nach. Also wäre es schön, wenn gefragt werden würde, wer gerade da ist.
So ein Wechsel kann schnell passieren. Mitten in einem Gespräch merkt man es vermutlich, wenn man weiß, dass so etwas existiert, aber wenn man nicht gerade mit der Person redet, ist es sehr unwahrscheinlich, dass man irgendetwas merkt. Vielleicht wäre es ein bisschen viel nach jedem Gang aufs Klo neu zu fragen: "Und, wer ist jetzt draußen?" (auch wenn es definitiv kein Problem wäre und vermutlich sehr schön). Aber wenn einem etwas anders oder komisch vorkommt, wäre es schön, gefragt zu werden. Wir werden in solchen Situationen nämlich oft gefragt, ob alles in Ordnung ist (weil wir uns plötzlich anders verhalten). Und meistens ist alles in Ordnung. Es gab dann eben nur gerade einen Wechsel.

Man könnte jetzt berechtigterweise fragen: warum sprecht ihr das nicht einfach selber an, wenn es einen Wechsel gab, wenn es euch so wichtig ist? Tatsächlich ist das auch der langfristige Plan. Viele von uns handhaben das auch so. Aber es gibt eben gleichzeitig unglaublich viele traumatisierte Anteile, die sich so etwas einfach nicht trauen. Die denken, sie müssen jetzt beispielsweise Lana spielen, sonst sind alle enttäuscht. Und das kann man nur lösen, indem man von sich aus auf sie zugeht und ihnen die Chance gibt, sie selbst sein zu können.

Ein weiterer Punkt wäre Körperkontakt.
Lana liebt Körperkontakt. Sie umarmt nahezu jeden, hält mit nahezu jedem Händchen, headpattet Menschen, wird gerne zurückgeheadpattet und, und, und. Das ist aber längst nicht bei jedem so. Mit ruru wird bei den allermeisten gekuschelt und ebenso Händchen gehalten, weil er Sicherheit bedeutet. Aber wenn dann einfach unsere Hand genommen wird oder wir umarmt werden (weil vermutlich mal wieder davon ausgegangen wird, dass Lana da ist), dann kann das unter Umständen sehr schlimm sein. Denn die meisten traumatisierten Anteile haben große Probleme damit, aber gleichzeitig können sie keine Grenzen setzen. Und dann machen sie eben mit. Weil es wenigstens "nichts richtig schlimmes" ist. Und wenn sie die Person wegschieben, dann tun sie ihr vielleicht weh. Und dann passiert vielleicht doch etwas richtig schlimmes.
Im Endeffekt gehört das natürlich zu dem Punkt, dass man nicht einfach annehmen sollte, dass irgendjemand bestimmtes draußen ist. Aber es geht noch einen Schritt weiter. Denn nur weil dieselbe Person letzte Woche deine Hand gehalten hat, ist es heute vielleicht nicht okay. Also sollte gefragt werden. Weil es auch einfach ist. Nach Berührungen kann man nämlich sogar ohne Worte fragen. Zum Beispiel, indem man die Arme zu einer Umarmung ausbreitet und wartet, was die andere Person tut. Oder indem man die Hand in die Nähe hält und abwartet, ob sie genommen wird. (Natürlich kann man auch einfach fragen. Ich wollte nur veranschaulichen, dass es noch mehr Möglichkeiten gibt, falls man nicht so viel nachfragen möchte.)

Wir haben extra versucht, in dem Text herauszukristallisieren, was einfach nur schön wäre, wenn es gemacht werden würde und was tatsächlich notwendig ist - also, was verletzend oder triggernd ist, wenn es nicht gemacht wird. Weil wir extra betonen möchten, dass nicht alles ein Fehler ist, nur weil man etwas hätte besser machen können. Wir benutzen ja zum Beispiel selbst nicht die ganze Zeit Pluralpronomen, obwohl es sich schöner anfühlen würde, weil wir einfach wissen, dass nicht alle Menschen das verstehen und man manchmal auch einfach keine Lust hat, es zu erklären. Oder weil man einfach so sehr an etwas anderes gewöhnt ist, dass man automatisch singuläre Pronomen verwendet.
Und wenn ihr ein anderes System kennt: bitte fragt dort nach. Dieser Text drückt nur unsere Wünsche aus. In anderen Systemen kann das alles ganz anders aussehen.

Mittwoch, 14. Oktober 2020

#21: Erste Person Plural

In letzter Zeit überlegen wir vermehrt, wie man Menschen so wirklich begreiflich machen kann, was eine DIS zu haben bedeutet. Nicht das Trauma - das versteht in unserem Freundeskreis beinahe jeder nur allzu gut. Sondern das Viele-sein.
Dass wir uns vor allen unseren Freunden und Bekannten "geoutet" haben, ist mittlerweile zehn Monate her. Wir alle sind immer wieder sehr begeistert von einer Freundin (hi!), die ganz natürlich dazu übergegangen ist, Pluralpronomen zu benutzen, wenn sie uns erwähnt und uns den Namen "Flauschis" gegeben hat, um uns irgendwie kollektiv bezeichnen zu können ("Flauschi" war vor der Diagnose unser Spitzname, also wohl am ehesten Melanies und jetzt eben Lanas). Oder von einem Freund (ebenfalls hi!), der oft, wenn er uns anschreibt in unseren Wechsellog schaut (wo wir eine Übersicht darüber führen, wer wann ungefähr draußen ist oder war) und dann die Person namentlich anspricht, die gerade draußen ist. Mit ihm haben wir uns sogar dadurch angefreundet, dass er so viele Fragen über die DIS gestellt hat! Und natürlich von ruru, der für uns alle so viel ist - Beziehungspartner, großer Bruder, bester Freund. Er hat zu jeder Innenperson (die er kennt) ein eigenes Verhältnis.

Natürlich gibt es Unfluffs, die die DIS komplett ignorieren und uns alle mit Lana ansprechen und jede Innenperson, die nicht Lana ist, komplett ignorieren, aber mit denen haben wir gar nicht erst viel zu tun. Stattdessen soll es heute um die Menschen geben, die die DIS einfach nicht richtig verstanden zu haben scheinen, aus welchem Grund auch immer. Die sich viel Mühe geben, aber trotzdem immer wieder dieselben Fehler machen, wie beispielsweise eine Innenperson mit 'Lana' anzusprechen, selbst wenn diese gerade gesagt hat, dass sie nicht Lana ist, oder bei Innenkindern Themen anzusprechen, die definitiv nicht für Kinder geeignet sind. Denen es wirklich leidtut, wenn sie diese Fehler machen, es aber dadurch nicht ändern können, dass die Fehler eben nicht aus Ignoranz entstehen, sondern aus einem grundsätzlichen Nicht-Verstehen der DIS.
"Die Welt ist nicht barrierefrei", hat ruru neulich dazu gesagt: Etwas an einem wird zwar akzeptiert, aber es wird gleichzeitig absolut nicht mitgedacht.

Also versuchen wir an dieser Stelle eine verständlichere Erklärung zu geben, die die DIS eher veranschaulicht als irgendetwas zu erklären. Weil das oft mehr bringt (diese Erklärung richtet sich explizit an Nicht-Systeme):

Stell dir vor, du bist in einer Arbeitsgruppe. So etwas hatte hoffentlich jeder schon, mindestens in der Schule.
Manche Arbeitsgruppen arbeiten gut zusammen, andere überhaupt nicht. Manchmal machen alle ihr eigenes Ding, weil sie die anderen für unfähig halten. Manchmal interessieren sich Teile der Arbeitsgruppe gar nicht für die Arbeit. Manchmal funktioniert auch alles prima, die Arbeit ist gleichmäßig aufgeteilt, alle haben eine Aufgabe.
Alle Arbeitsgruppen haben aber zwei Gemeinsamkeiten: sie haben eine definierte Aufgabe und sie bestehen aus verschiedenen Menschen, mit verschiedenen Ansichten und Meinungen, Persönlichkeiten und Vorlieben, Erinnerungen und Erfahrungen, die alle in die Erfüllung der Aufgabe mit einfließen. Das ist gleichzeitig gut und schlecht, denn jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Wenn ihr es schafft, die Aufgaben optimal aufzuteilen und jeder seine Stärken verwenden kann, dann könnt ihr eure Aufgabe vermutlich sehr gut und ohne Probleme bewältigen. Wenn nicht, dann ist das Ergebnis vermutlich nicht so gut.

Eure Arbeitsgruppe hat ein Problem: zu jeder gegebenen Zeit kann ausschließlich eine(r) von euch an eurem Projekt arbeiten. Andere Personen können maximal Ratschläge geben - allerdings dürft ihr euch nicht in demselben Raum aufhalten. Deshalb habt ihr zum Kommunizieren ein kaputtes Telefon bekommen, welches ihr erst reparieren müsst. Niemand in eurer Gruppe weiß, wie man Telefone repariert und generell wissen das nur sehr wenige Menschen auf der Welt, bei denen man dann lange Wartezeiten hat, um das Telefon zu reparieren. Zudem fällt das Telefonsignal in eurer Stadt regelmäßig aus. Ansonsten könnt ihr über Notizzettel kommunizieren, diese kann jemand anders aber erst dann lesen, wenn er sich selbst im Projekt-Raum befindet.
Leider dürft ihr auch nicht entscheiden, wer gerade an dem Projekt arbeiten darf. Dies wird per Zufall ausgewählt. Zwar ist die Chance, dass eine geeignete Person ausgewählt wird, über 50%, aber ihr könnt euch eben nie sicher sein. Wenn ihr Pech habt, arbeitet eine Person an dem Projekt, die überhaupt nicht gut für den Teil, den ihr gerade machen wolltet oder müsst, geeignet ist.
Das macht natürlich eure abgesprochene Aufgabenverteilung zunichte. Jetzt muss immer derjenige, der gerade da ist, an der Aufgabe arbeiten, egal, ob er die Sachen gut kann oder nicht. Viele Sachen bleiben auch liegen, wenn jemand sie einfach überhaupt nicht kann; die muss dann jemand anders nachholen.

Um das Ganze zu erleichtern, dürft ihr Freunde fragen, ob sie euch helfen. Aber dadurch, dass ihr ja nicht wisst, zu welcher Zeit ihr euch gerade um das Projekt kümmern könnt, muss manchmal einer eurer Arbeitspartner mit euren Freunden reden. Leider sieht dieser für sie aber immer aus wie ihr. Und weil das so seltsam ist, verstehen eure Freunde manchmal nicht, dass ihr das nicht seid.
Auf der anderen Seite seht ihr, immer wenn ihr mit den Freunden eurer Arbeitspartner redet, stattdessen aus wie diese. Also nennen euch manche die ganze Zeit Paul, weil eurer Arbeitspartner so heißt. Dabei heißt ihr gar nicht Paul. Das sagt ihr ihnen auch, aber beim nächsten Treffen haben sie es scheinbar schon wieder vergessen. Und dann behandeln sie euch außerdem, als wärt ihr seit Jahren die besten Freunde - dabei habt ihr euch gerade erst vor fünf Minuten kennengelernt. Und alles nur, weil ihr ausseht wie ihr Freund Paul. Das ist echt frustrierend.
Manche verstehen es aber auch und am Ende freundet ihr euch sogar miteinander an und dadurch ist es dann irgendwie egal, wer gerade da ist, weil ihr euch ja ohnehin alle super versteht.

Die Hälfte eurer Arbeitsgruppe ist übrigens schwer traumatisiert, die andere Hälfte hat andere psychische Krankheiten und mindestens ein Drittel ist unter 10 Jahren alt.
Viel Spaß.
Euer Projekt heißt Leben.

Freitag, 9. Oktober 2020

#20: Platzeinnahme

Ich hasse mich ein wenig dafür, diesen Post zu schreiben, weil ich die Gedanken hasse, die ich habe, aber gleichzeitig empfinde ich es als wichtig, darüber zu sprechen, weil ich vermute, dass es vielen in anderen Situationen ähnlich geht und es auch eigentlich gar keinen Grund gibt, sich dafür zu hassen.

Neulich haben wir dem Teil unserer Familie, mit dem wir noch Kontakt haben, davon erzählt, was unser Vater gemacht hat (unser Vater war Haupttäter bei unserem Ursprungstrauma). Sie haben uns sofort alle geglaubt, womit wir überhaupt nicht gerechnet hatten.

Nachdem wir unserer Schwester einen Katalog an Fragen beantwortet hatten, fing sie an, darüber zu reden, dass sie sich an Dinge erinnerte.
Zuerst waren das sehr harmlose Sachen, die auch sehr viel Sinn machten. Zum Beispiel, dass man ein fremder Mann abends in unsere Wohnung gekommen war, um irgendetwas mit unserem Vater zu besprechen. Oder dass sie uns mal mit unserem Vater zusammen von irgendwo abgeholt hatte, wo sie noch so dachte, dass dort ja aber gar keine Freunde von uns wohnen und sie es dann damit abgetan hatte, dass wir vielleicht eine neue Freundin haben oder jemand umgezogen ist.

Für den nächsten Teil muss ich dazu sagen, dass unsere Schwester ihre halbe Kindheit im Krankenhaus verbracht hat und zahlreiche Operationen und andere Eingriffe hatte, dementsprechend also ebenfalls traumatisiert ist. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass sie vor ein paar Jahren eine Traumatherapie angefangen hat, die mittlerweile seit einiger Zeit abgeschlossen ist und dass sie nahezu keine traumabedingten Probleme mehr im Alltag hat.

Plötzlich erzählte sie uns, dass sie sich auch an andere Sachen erinnerte. Wir hatten ihr erzählt, dass ein Großteil des Missbrauchs in einem großen weißen Haus mit schwarzen/dunkelgrauen Ziegeln und einem großen Garten, durch den ein Steinweg zur Eingangstür des Hauses führte, stattgefunden hatte. Man könnte es wohl fast schon Anwesen nennen - die Familie, die dort gewohnt hatte, war sehr reich gewesen. Sie hatten außerdem eine Tochter gehabt.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie sie mit unserem Vater vor dem Haus gestanden hatte, wo sie uns hingebracht hatten, und dass er angefangen hatte zu weinen, als sie weggingen.
Dieses Bild macht hier kollektiv alle wütend und wir wird schlecht dabei. Es passt nämlich nur allzu gut in ihr Narrativ, dass es ihm leidtun muss. Sie hat es uns selbst gesagt: sie wollte ihn damit, was er getan hat, konfrontieren und wir hatten sie gefragt, was sie sich denn davon erhofft. Sie meinte: "Dass er dann anfängt zu weinen und es ihm voll leidtut."
Zudem erinnerte sie sich daran, ein Gespräch zwischen unserem Vater und seinem Vater mitbekommen zu haben, das angedeutet hätte, dass unser Opa unseren Vater sozusagen dazu 'gezwungen' hatte, uns zu verkaufen. Um genau zu sein, hatte er wohl gesagt "ich kann das jetzt nicht länger aufschieben", worauf unser Vater geantwortet hatte "aber nicht [unsere Schwester], sie wurde gerade operiert."

Plötzlich waren angeblich Sachen passiert, während wir noch in einer bestimmten Wohnung gewohnt hatten - als wir dort ausgezogen sind, waren wir 2. Natürlich ist das nicht unmöglich. Aber soweit wir mittlerweile aufdröseln konnten, hat der eigentliche Missbrauch angefangen, als wir 5 waren. In den Jahren davor sind, soweit wir wissen, ausschließlich medizinische Eingriffe passiert, die natürlich ebenfalls sehr traumatisch waren, aber eben kein Missbrauch.
Es kam uns komisch vor, dass sie sich auf einmal an so viele Sachen erinnerte, aber natürlich ergab es auch Sinn - es waren ja alles einfach Erinnerungen, die in dem Moment vermutlich total unwichtig erschienen waren und so etwas vergisst man dann eben einfach und erinnert sich erst wieder daran, wenn es irgendeinen Sinn ergibt.

Dann fand sie das Haus, das wir beschrieben hatten und meinte, sie würde sich erinnern, dass erwähnte erinnerte Szene vor diesem Haus stattgefunden hatte. Nur dass sie uns ein Foto schickte und das Haus passte absolut 0 zu unserer Beschreibung - es war nicht nur ein bisschen anders, sodass man vielleicht hätte sagen können, dass in den letzten 15 Jahren eben Dinge verändert worden waren. Es war schlichtweg ein komplett anderes Haus.
Trotzdem meinte sie sich plötzlich daran zu erinnern, wie wir dort im Garten mit dem Kind der Hausbesitzer gespielt hatten. "Vermutlich war das diese [Name], von der du erzählt hast."

Seitdem sind wir misstrauisch, teilweise wütend, dass sie es einfach so wagt, ganz nebenbei, ihren Namen in den Mund zu nehmen.. Denn wir haben nie mit ihr gespielt. Wir hatten zwar Kontakt zu ihr, aber ausschließlich in Missbrauchskontexten. Sie durfte nämlich nicht mit anderen Kindern spielen. Sie durfte überhaupt nichts. Und dann hat sie sich umgebracht.
Und es tut so weh, das zu lesen. Diese angenommene Wahrheit, die unsere Realität begräbt. Dass unser Trauma plötzlich unserer Schwester gehört - sie ist der Mittelpunkt. Denn sie war eindeutig, ganz ganz eindeutig, auch irgendwie dabei.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie unser Vater sie auch zu einem fremden Mann gebracht hatte, allerdings an nichts mehr, was dort geschehen war. Sie war aber mit einem mal sehr überzeugt davon, dass sie dort ebenfalls sexuell missbraucht worden war.
Man kennt das ja auch. (ironie) Wenn man sich plötzlich an Trauma erinnert, das bisher 0 Einfluss auf das eigene Leben hatte, nach einer abgeschlossenen Traumatherapie, seit der man kaum noch Symptome hat, bei der nie nur ein Funken Amnesie festgestellt wurde, nicht mal für das eigentliche Krankenhaustrauma (außer natürlich für die Situationen, in denen Betäubungsmittel verabreicht worden waren). Obwohl man mittlerweile seit Jahren in funktionierenden Beziehungen ist, in denen man auch ganz normal und problemlos Sex hat. (Man mag sich erstmal fragen, woher wir das so genau wissen können, aber sie erzählt uns tatsächlich gefühlt jedes kleinste Detail ihres Lebens, schickt uns regelmäßig ihre Tagebucheinträge und Sonstiges.)

Vor ein paar Tagen fing sie dann plötzlich an mit: "Du hattest ja erzählt, dass da so religiöse Rituale stattgefunden haben. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass wir bei [Nonne aus unserer Familie] in diesem Kloster waren und sie bei diesem Ritualskram dabei war und so Sachen vorgemacht hat, die wir nachmachen sollten." Natürlich handelte es sich dabei um ganz normale Kirchenrituale. Weil eben niemand an Tieropferungen und Exorzismusrituale denkt, wenn man "komische religiöse Rituale" sagt. Sondern an Brot essen und Traubensaft trinken und lauter solche Dinge, die wir früher in tatsächlichen Kirchen gemacht haben.

Der Höhepunkt ist, dass ihre Psychologin eine ganz neue Idee hatte: die DIS, das ist doch diese Störung, die aus ritueller Gewalt entsteht. Und so etwas gibt es ja meistens familiendurchlaufend. Und außerdem hatten wir ja erwähnt, dass wir glauben, dass unser Vater Amnesie hat. Also hat er bestimmt auch eine DIS. Also ist die Realität bestimmt folgende: dieser Klosterorden ist in echt Teil eines rituellen Gewaltnetzwerks. Unsere gesamte Familie (väterlicherseits) ist tief in diese Strukturen verwickelt. Vermutlich wurden schon unser Vater und seine Schwester in ihrer Kindheit massiv missbraucht. Und so erstreckt es sich nun durch unsere Familie.
Falls irgendjemand uns hier schon lange folgt, wird derjenige wissen, was für eine große Ironie diese Theorie ist. Für alle anderen eine Zusammenfassung: die Theorie hatten wir selber schon, vor über einem halben Jahr. Weil wir extrem uninformiert waren und dachten, viele der Sachen, die wir erlebt haben, finden ausschließlich im Kontext von ritueller Gewalt statt. Wir waren dann sogar eine Zeit lang inaktiv, weil wir durch viele unserer Aussagen darüber andere Menschen verletzt hatten und uns erstmal ausführlicher damit beschäftigen mussten. Im Endeffekt sind dann zu dem Schluss gekommen, dass wir definitiv nicht im Kontext ritueller Gewalt missbraucht wurden, sondern eben nur innerhalb eines "ganz normalen" Kinderpornografierings.
Gleichzeitig möchte unsere Mutter, die sich nie mit der DIS beschäftigt hat, obwohl sie seit März weiß, dass wir sie haben, nun ein Buch über die DIS im Kontext ritueller Gewalt lesen, weil sie der Meinung ist, unseren Vater besser verstehen zu müssen. Ich denke, wir müssen nicht erklären, warum das auf unglaublich vielen Ebenen total falsch ist.

Das Schlimmste für uns ist aber, wie unsere Schwester den Namen von dem Kind der Besitzer des Hauses in den Mund nimmt. So beiläufig. Als wäre sie irgendjemand, einfach irgendein Kind, das zufälligerweise zur selben Zeit am selben Ort war. Als wäre sie nicht genau dort und genau deswegen gestorben.
Wir wissen nicht mehr, was man darauf entgegnet.
Wir wissen nur, dass es sich schrecklich anfühlt, wie unser Trauma plötzlich zur Geschichte des Lebens aller anderen Menschen gemacht wird außer uns - wir sitzen wieder nur am Rand und sind kaum existent, dürfen maximal Fragen beantworten.

Mittlerweile hat unsere Schwester uns das 21. Foto 'des Hauses' geschickt. Natürlich ist es nicht das Haus. Es wird vermutlich nie das Haus sein, weil man nach so vielen Fehlversuchen schlichtweg nicht mehr glauben kann, dass sie tatsächlich jemals dort war (vor allem, da es unglaublich starke Unterschiede zwischen allen Häusern, die sie uns schickt, gibt - und überhaupt nur eins davon annährend unserer Beschreibung entspricht).
Natürlich will aber niemand sagen: "Du lügst."
Weil das die grauenvollste Aussage ist, die man treffen kann.

Im Endeffekt glauben wir auch nicht mal wirklich, dass sie lügt. Wir glauben, dass sie das wirklich glaubt; dass diese Erinnerungen (wie die Gespräche) teils bestimmt auch stimmen und sie teils Erinnerungen hat, die sie dann vollkommen aus dem Kontext reißt und in einen anderen einfügt. Sie 'muss' immer der Mittelpunkt sein, das wissen wir, kann es gar nicht ertragen, wenn es mal länger als ein paar Minuten um jemanden anderen geht, aber gleichzeitig glauben wir auch, dass sie das unbewusst macht und es ihr selbst gar nicht so klar ist. Zudem besteht natürlich die Möglichkeit, dass all diese Erinnerungen eben doch echt sind.

Ich will aber eigentlich etwas sagen: man hat keinen Einfluss darauf, ob man Menschen irgendetwas glaubt. Das haben wir inzwischen gelernt. Man hat nur einen Einfluss darauf, ob man das nach Außen trägt, wogegen wir uns entschieden haben, weil es wenig Schlimmeres gibt, als einer Person ihre tatsächlichen Erfahrungen abzusprechen - und man kann eben nie zu 100% wissen, ob es nicht doch stimmt, was diese Person sagt.
Aber weil wir eben selber einige Zeit lang öfter zu hören bekommen haben, dass wir lügen (inzwischen hat das tatsächlich seit Monaten, glaube ich, niemand mehr gesagt), war meine erste Reaktion auf diese Gedanken, mich zu hassen. Weil es ja nicht sein kann, dass mich das selbst so belastet hat, dass Menschen das gesagt haben und jetzt denke ich einfach selber etwas ähnliches.
Ich glaube, dass es vermutlich vielen Betroffenen so geht, wenn sie selbst zum ersten mal jemandem nicht glauben. Man hat das Gefühl, man würde der Person irgendetwas antun. Dabei macht man eigentlich gar nichts. Man hat nur ein Gefühl. Und auf Gefühle hat man eben wenig Einfluss. Also darf man das auch denken und fühlen - und man darf es auch an anderen Stellen ansprechen, insofern man der Person eben nicht schadet. Das macht einen nicht zu einem schlechten Menschen. Es geht jedem manchmal so.

Wir haben uns persönlich entschlossen, unserer Schwester einfach nichts mehr über unser Trauma zu erzählen. Damit können wir dann selbst einen Beweis haben, falls sie sich jemals an Dinge erinnert, die wir nicht erzählt haben, während wir ihr gleichzeitig nicht mehr Material geben, aus dem sie sich weitere Erinnerungen basteln kann (falls so etwas überhaupt funktioniert - das wissen wir nicht).
Vermutlich ist es auch gut, dass sie jetzt wieder in Therapie ist und diese Dinge mit ihrer Psychologin bespricht (abgesehen von deren Theorien).

Ich möchte nur mir und euch sagen, dass es okay ist, solche Gedanken zu haben.
Niemand ist ein schlechter Mensch deswegen.