Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Mittwoch, 30. Dezember 2020

#33: Trauma, DIS und Sexualität III

Ja. Das Trauma und die Sexualität. Wie oft ich mir gewünscht habe, meinen Körper einfach abschalten zu können, der an jeder Ecke Sex erwartet. Aber wisst ihr, was auch schön ist? Es wird besser. Es geht weg. Bei ruru sind wir sicher. Auch der Körper weiß das inzwischen. ruru können wir nah sein ohne dass irgendetwas sexuelles passiert, auch stunden-, tage- oder wochenlang.

Und weil ich es immer wieder höre, möchte ich es an dieser Stelle ansprechen: wenn ihr traumatisiert seid und Sex/sexuelle Dinge mit eurem Partner tun wollt und es funktioniert nicht, obwohl ihr kommuniziert habt, dass ihr traumatisiert seid und darüber gesprochen habt, was das konkret für diese Situation bedeutet. Dass euch beispielsweise Nein sagen schwerfällt. Dass ihr anfangt, in eine Rolle zu schlüpfen, in der ihr Consent vorspielt, weil ihr das Gefühl habt, dass es so erwartet wird.
Dann liegt es nicht an euch.
Ich weiß, dass niemand mir glauben wird, weil ich mir selbst nicht geglaubt hätte in derselben Situation. Dabei will ich nicht mal sagen, dass euer Partner euer Trauma ausnutzt. Auch wenn ich glaube, dass das in den allermeisten dieser Fälle so ist. Vielleicht versteht er es einfach wirklich nicht. Oder sie. Si:er. Partner:in. Who knows.
Aber es funktioniert, irgendwo auf der Welt. Und es gibt Verständnis, irgendwo, wenn nicht hier. Das weiß ich, weil ruru existiert. Und ruru ist nicht mal traumatisiert. ruru kennt nichts davon; nicht mal die schlimmen Gedanken. ruru kann sogar Sachen falsch machen ohne sich zu hassen. Das ist für mich immer wieder befremdlich.
Und trotzdem hat ruru Verständnis. Selbst ohne meine Worte. Hört er jeden kleinen nicht komplett erfreuten Laut und fragt sofort, ob alles in Ordnung ist. Hört er jedes stumme oder überdeckte Nein, ohne dass irgendjemand es sprechen muss. Und niemals würde er von sich aus irgendetwas sexuelles anfangen, bei dem nicht vollkommen klar ist, dass wir es auch wollen.

Manchmal entschuldige ich mich, weil es mir wirklich, wirklich leidtut. Dass ich keinen Sex haben kann. Dass ich ihn manchmal nicht mal anfassen kann. Dass ich manchmal wochen- oder sogar monatelang keinen Sexualtrieb mehr habe. Dass, was auch immer gerade nicht geht, schon wieder kaputt ist. Und dann nimmt er mich in seine Arme und sagt mir, dass das nicht meine Schuld ist. Und überhaupt muss ich gar nichts, selbst wenn alles in Ordnung wäre. Und außerdem liebt er mich. Und außerdem muss ich nie wieder irgendwen anfassen, wenn ich das nicht möchte.
Und weil ruru existiert, weiß ich, dass niemand einen Partner haben muss, bei dem Grenzüberschreitungen existieren. Denn es gibt bestimmt genug rurus auf dieser Welt. Für all die Menschen, die ihre eigenen Grenzen nicht einfordern können.

Eine (traumatisierte) Freundin hat mir mal gesagt, wenn ich die richtige Person finde, dann funktioniert das alles. Dann kann ich sogar Sex haben, ganz ohne Probleme.
So einfach war das nicht. So einfach ist das nicht. Aber Recht hatte sie trotzdem: bei der richtigen Person funktioniert es. Irgendwie. Vielleicht ganz langsam, vielleicht dauert es Jahre, aber es ist nicht mehr schlimm. Bei anderen funktioniert es eben nicht. Dafür ist es eigentlich auch egal, ob diese einen missbrauchen oder nicht.
Und ich weiß: niemand, der in einer ähnlich kaputten Beziehung ist, wie wir bevor wir ruru kannten, wird das, was ich gerade gesagt habe, überhaupt annehmen können. Denn: 'diese Beziehung ist anders - da liegt es wirklich einfach an meiner eigenen Kommunikationsfähigkeit - mein Partner gibt sich definitiv Mühe, aber ich bin eben einfach unfähig.'
Aufschreiben tue ich es trotzdem. Für die eine Person, der es vielleicht doch hilft. Und sowieso gilt, auch für jede andere Situation:
Es ist nie eure Schuld.
War es nie und wird es nie sein.

Montag, 28. Dezember 2020

#32: (Mit)Schuld

Zusätzliche Triggerwarnung für: relativ grafische Darstellung von psychischem Missbrauch
durch Androhung von Gewalt.

"Wenn ein Kind missbraucht wird, tragen beide Eltern, egal ob sie es persönlich missbrauchen oder nicht, immer eine Mitschuld", meinte unsere Psychologin irgendwann vor einigen Wochen zu uns. "Weil man so etwas merkt. Und wenn man nichts merkt, dann hat man mindestens weggesehen."
In uns gab es sehr viel Empörung für diese Aussage. Nicht, weil unsere Mutter so toll wäre. Das ist sie wirklich nicht. Aber sie war nie Täterin. Sie war eben einfach nur überfordert.
"Dass man sein eines Kind nicht so beachtet, wenn das andere gerade die ganze Zeit fast stirbt, finde ich extrem verständlich", entgegneten wir. Da stehen wir auch weiterhin hinter. Es ist, unserer Meinung nach, unglaublich arrogant, eine andere Handhabung in so einer Situation zu erwarten. Es gibt einen Grund, warum Geschwisterkinder von sehr kranken Kindern beinahe immer an Vernachlässigungstrauma leiden und der ist nicht, dass alle Eltern dieser Welt so furchtbar schrecklich sind.
Ja. Es ist falsch, ein Kind zu vernachlässigen. Aber leider, leider ist es auch kaum zu verhindern, alles zu vernachlässigen, wenn man ein Kind hat, das ständig beinahe stirbt. (Vorausgesetzt natürlich, man liebt dieses Kind.)
Und dann ist es trotzdem traumatisch. Aber von 'Schuld' kann man einfach nicht sprechen.

Mittlerweile sprechen wir trotzdem von Schuld.
Neulich wurden bei uns durch ein Gespräch einige Erinnerungen getriggert.
Bei uns "mussten", als wir sehr klein waren, öfters medizinische Eingriffe gemacht werden. Das mussten setzen wir extra in Anführungszeichen. Es hätte nämlich Alternativen gegeben. Es war nur einfacher. Einfacher, als uns beizubringen, Tabletten zu nehmen oder aufgelöste Tabletten zu trinken. Einfacher, als uns jemals zu erklären, dass wir krank sind und warum wir all diese Sachen machen müssen, obwohl sie zum Beispiel eklig schmecken.
Es wurde nämlich nie erklärt. Dass wir krank sind, haben wir rausgefunden, als wir alt genug waren, um festzustellen, dass andere Kinder all das nicht machen müssen und dann unsere Eltern gefragt haben, warum. Da wussten wir schon, was Unendlichkeit ist, konnten bis 100 zählen und Rechnen hatten wir auch schon gelernt.

Jedenfalls fanden wir diese Eingriffe schlimm. Sehr schlimm. (So schlimm, dass wir das Wort nicht benutzen können.) Wir haben geweint und das Haus zusammengeschrien bis Nachbarn nachgefragt haben, ob alles okay bei uns ist. Aber es war okay, weil man uns ja festhalten konnte, während man uns Dinge in Körperöffnungen steckt. Es war okay, weil man kaum Zeit aufwenden musste.
Es wurde wie eine Bestrafung gehandhabt. Wenn du nicht dies tust, müssen wir. Wenn du nicht das tust, müssen wir. Wenn du nicht brav bist, werden wir wieder ganzschlimmedinge machen.
Natürlich waren das alles wichtige Sachen. Ja. Hätten wir unsere Tabletten nicht genommen, hätte man uns eben zwingen müssen, sonst wären wir gestorben. Aber dadurch, dass davon nie irgendetwas erklärt wurde, hätte man genauso gut sagen können: "Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst, schlage ich dich."
Wir wussten ja nicht mal, dass wir krank sind.

Irgendwann (in den letzten Jahren) erzählte unsere Mutter uns, dass diese Eingriffe immer unser Vater machen musste. Sie selbst hätte das nicht gekonnt. Es wäre zu schlimm gewesen, zu sehen, wie schlimm das für uns war, also war sie in ein anderes Stockwerk gegangen, damit sie bloß nicht hören musste. Bloß nicht sehen, wie man gerade wissentlich und ohne medizinische Notwendigkeit das eigene Kind traumatisiert.
Weil es einfacher ist. Als sich einmal hinzusetzen und einem Kind zu erklären, was Krankheiten sind und was der Sinn von Tabletten ist.

Irgendwann, nach einem erneuten solchen Trauma, verlernten wir, zu laufen. Beziehungsweise ist die Theorie hier momentan, dass einfach ein Anteil draußen war, der noch nicht laufen gelernt hatte, aber das können wir nicht sagen, weil wir natürlich nicht so genau wissen, seit wann wir die DIS eigentlich haben. Vielleicht war es auch einfach nur ein Traumasymptom.
Aber niemand kümmerte sich darum. Wir würden simulieren, weil wir nicht in den Kindergarten wollten, hieß es. Erst nach über einer Woche meinte unsere Mutter, wenn wir nicht jetzt sofort mit dem Unsinn aufhören würden, müssten wir am nächsten Tag zum Arzt gehen. Bedrohlich. Ärzte kannten wir. Das waren die Menschen, bei denen meistens schlimme Sachen passierten.
Natürlich konnten wir am nächste Tag wieder laufen. Vielleicht war jemand anders draußen, vielleicht hatten wir nur ganz fleißig geübt aufgrund der Angst.
Niemand hatte je in Erwägung gezogen, es könnte vielleicht ein neurologisches Problem geben. Es war ganz klar, dass es alleine unsere Schuld sein musste.

Als wir klein waren, aßen wir zu wenig. Und tranken zu wenig. Und redeten zu wenig.
Wir lebten zu wenig.
"Wenn du weiterhin so wenig isst, müssen wir dir eine Magensonde legen", wurde der persönliche Lieblingsspruch unserer Mutter. Im vollen Wissen darüber, wie schlimm wir diese Vorstellung fanden. Im vollen Wissen darüber, dass wir selbst bei Rachenabstrichen die gesamte Klinik zusammenschrien als müssten wir sterben. Wenn du nicht brav bist, stecke ich dir noch mehr Zeug in den Körper.
Zu diesem Zeitpunkt wurden wir schon regelmäßig vergewaltigt.

In uns hat sich etwas verändert. Seitdem diese Erinnerungen hochkamen, können wir nicht mehr sagen, dass unsere Mutter einfach nur überfordert war. Man bedroht sein Kind nicht mit dessen schlimmsten Albträumen, nur weil man überfordert ist.
Es ist so einleuchtend, wie sie nicht merken konnte, dass unser Vater uns missbrauchte. Es gab keine Verhaltensänderungen mehr, die man hätte feststellen können. Wir waren schon komplett traumatisiert.

Ich habe diesen Post angefangen, um darüber zu schreiben, wie sie eben doch Mitschuld daran trägt, dass nicht gemerkt wurde, dass wir missbraucht werden. Aber nachdem ich das alles aufgeschrieben habe, wird mir selbst klar, dass sie selbst Täterin war. Für jeden Grundstein, der erlaubt hat, dass wir kein Wort darüber verlieren, zu was wir ständig gezwungen werden.
Also ist Mitschuld gar nicht das richtige Wort.
Und eigentlich ist die Schuld auch egal, solange sie nicht bei uns liegt.
Aber es war gerade wichtig. Für mich und für uns. Deshalb schreibe ich es hauptsächlich auf.

Trauma passiert nicht in einem Vakuum.

Sonntag, 20. Dezember 2020

#31: Systemverantwortung

Es gibt eine Regel, dass man eine gemeinsame Verantwortung als System hat. Wenn X aus meinem System etwas falsch macht, habe auch ich für ihren Fehler gerade zu stehen.
Man kann sich das wie in einem Kommunalrat vorstellen: dort sitzen verschiedene Leute, die verschiedene Sachen wollen und wenn einer von ihnen etwas falsch macht, trifft der Fehler alle und alle müssen dafür gerade stehen. Richtig?
Nur, dass das nicht ist, wie die Welt funktioniert. Politiker, die Fehler machen, müssen in der Regel zurücktreten und dann bemühen sich alle anderen darum, zu erklären, warum sie mit dem Fehler nichts zu tun hatten.

Wir haben eine sehr andere Einstellung zum Thema Verantwortung innerhalb von Systemen.
Wenn X etwas falsch macht, dann gab es für mich keinen Weg, es zu verhindern. Ich kann nicht entscheiden rauszugehen und den Fehler zu verhindern. Ich kann nicht entscheiden, co-bewusst zu sein und X ihre Tat auszureden (oder selbst wenn hat mein Versuch keine Erfolgsgarantie). Ich kann nicht mal entscheiden, überhaupt etwas von X Verhalten mitzubekommen.

Wenn ich jetzt zu der verletzten Person gehe und mich im Namen Cirrus Floccus entschuldige, was hindert X dann daran, sich weiter grauenvoll zu verhalten? Sie muss nie mit ihren Fehlern umgehen. Sie kann einfach im Innen verschwinden und darauf warten, dass sich jemand anders um ihre Fehler kümmert, nur um dann erneut rauszukommen und weitere zu begehen, weil sie nie die Konsequenzen ihrer Handlungen spürt.
Deshalb gehen wir anders damit um.

Wenn X jemanden verletzt, behandle ich das so, als wäre die Person von Y aus unserem Freundeskreis verletzt worden - weil ich nichts gemacht habe. Wenn X nicht selbst einsieht, dass sie etwas falsch gemacht hat, werde ich mit X reden und versuchen, zwischen ihr und dem verletzten Freund zu vermitteln. Aber ich kann keine Verantwortung übernehmen. Dann fehlt sie nämlich bei X.
Und natürlich kann es sein, dass besagter Freund danach keinen Kontakt mehr zum gesamten System haben mag. Schließlich könnte X rauskommen und ihn erneut verletzen! Das muss ich akzeptieren, weil X immer noch ein Teil unseres großes Ganzen ist. Genauso wie ich die Strafe akzeptieren muss, wenn X eine Straftat begeht, weil wir in dem Moment eine Gefahr darstellen würden. Immerhin könnte X nochmals rauskommen und wieder eine Straftat begehen.
Aber das ist etwas anderes als Verantwortung und Schuld. Die gehört nämlich nicht mir und deshalb werde ich sie auch nicht nehmen. Dann fehlt sie nämlich da, wo sie eigentlich hingehört.

„Aber Lana“, höre ich irgendjemanden sagen. „Dann könnt ihr das doch total ausnutzen! Wenn X etwas falsch macht, kann sie einfach sagen, es war Z, die total selten draußen ist! Und wenn du etwas falsch machst, kannst du einfach sagen, es war X, weil die ja ohnehin scheinbar die ganze Zeit Fehler begeht!“
Ja. Ja, das könnten wir machen.
Wenn wir von jedem gehasst werden wollen, können wir das machen. Immerhin fällt es auf, wenn man Verantwortung immer nur von sich schiebt.
Wenn wir das dysfunktionalste System werden wollen, das wir jemals getroffen haben, weil sich alle untereinander hassen, können wir das machen.
In welchem Szenario wäre das eine wünschenswerte Zukunft?

Die Innenperson zu benennen, die die Verantwortung zu tragen hat, ist nicht seine Krankheit als Freifahrtsschein für schlechtes Verhalten zu nehmen. (Auch wenn das eine Möglichkeit ist.)
Sich selbst von einer Mitschuld freizusprechen, weil man nicht anwesend war, ist nicht sich als unfehlbar darzustellen. (Auch wenn das eine Möglichkeit ist.)
Sich selbst nicht die Schuld an Fehlern zu geben, mit denen man nichts zu tun hatte, ist richtig und wichtig, und heißt nicht, eigene Fehler von sich abzuweisen. (Auch wenn das eine Möglichkeit ist.)
Seine Krankheit als Freifahrtsschein zu benutzen wäre, jegliche Konsequenz für innersystemliches Fehlverhalten für sich abzulehnen.
Aber die Verantwortung? Gehört nur X.

Donnerstag, 17. Dezember 2020

#30: break free and leave us in ruins

Blyth,

in meinem Handy ist ein Text an dich gespeichert, den ich nicht zuordnen kann und der nie abgeschickt wurde. Aber ich kenne deine Worte und ich verstehe nicht, wie ich eine Beziehung mit deiner Wortwahl führen konnte, ohne zu realisieren, dass nichts an uns in Ordnung war.
In meinem Kopf ist der Wunsch, nach [Stadt, wo er wohnt] zu fahren.
In meinem Kopf sind Erinnerungen und Gefühle und Gedanken an dich.
Eine Gewissheit von Dingen, die ich inzwischen weiß, aber immer noch nicht fühlen kann.
Deine Ignoranz für ein System, das du selbst benutzt hast.
"[Stadt] war zehn Jahre lang mein Lieblingsort und mein Zuhause", sage ich zu ruru, mehr an einem Wunsch hängend, als an einer tatsächlichen Erklärung. "Vielleicht will ich einfach deswegen dorthin fahren." Auf die Frage, ob ich ihn denn mitnehmen wollen würde, schweige ich, bis der Wunsch auf eine schönere Erklärung in mir mitschweigt.

Die Welt scheint weiter weg zu sein als jemals und ich versuche, nach Innen zu erklären, warum du keine gute Idee bist. Irgendjemand sagt, dass er oder sie oder wir dir gehören. Ich hole das Tagebuch raus, das wir nicht umsonst 'Missbrauchsdokumentationsbuch' genannt haben, um in unser Gehirn zu hämmern, was tatsächlich passiert ist und zu unterscheiden von dem, was du darin vergraben hast. 'Gaslighting' steht als Überschrift auf der ersten Seite von Silvester 2016. Diese Seite existiert nicht mehr; irgendjemand hat sie rausgerissen, aber ich erinnere mich weiterhin daran, sie geschrieben zu haben.

Ich weiß, dass jemand aufpasst, dass wir nichts mehr mit dir zu tun haben, aber trotzdem ist das Bedürfnis, dir zu schreiben oder zu dir zu fahren, dauerhaft anwesend. Vielleicht ist das, was passiert, wenn man versucht, ein System kennenzulernen, von dem die Hälfte aus dir besteht. Vielleicht ist das, was passiert, wenn man in Therapie geht, nachdem man bei dir in Therapie war.
Also schicke ich die Seiten aus dem roten Buch mit der schwarzen Spitze nach Innen.

'Warum willst du [Zuhause] bleiben?' Weil ich dich nicht sehen will, Blyth. Das kann ich wohl kaum sagen. Die Wahrheit in mir ist gestorben. Ich kann dich anlügen.
'Was ist denn los?' Du bist mein Albtraum. Ich will nicht von dir angefasst werden. Ich bin taub. Vielleicht hasse ich deswegen alles. Mein Körper existiert nicht mehr.

Wenn alles, was ich sage, nicht genug ist, vielleicht sollte ich dann einfach aufgeben. Dich nie mehr wiedersehen. 'Gehört das hier noch zu kuscheln?' Nein, aber wen interessiert das? Also Ja, weil du sowieso weitermachst. Ja, weil es dich ohnehin nie interessiert hat. Du glaubst ohnehin nur, was du glauben willst. Dann kannst du dir einreden, dass das alles nicht schlimm ist. Und du kannst mich berühren und küssen bis ich kotzen möchte, weil ich das ja insgeheim will. Wenn ich dir dein Verhalten vorwerfe, habe ich eben nicht genug gesagt. Weil 'Ich will dich nicht küssen' nur für eine Minute gilt. Da kommt es ja gelegen, dass ich nicht Nein sagen kann.

Wir sind nicht stabil genug für eine ambulante Therapie, hat irgendwann irgendeine Therapeutin bei irgendeinem Vorgespräch gesagt. Wir sollten lieber stationär irgendwo hingehen. Oder zumindest in eine Tagesklinik.
Mittlerweile sehe ich den Ursprung dieser Aussage.
Ja. Nichts ist mir mehr zuwider, als irgendwo in Therapie zu gehen. Und nichts ist mir mehr zuwider, als ewig dieses Leben zu führen, ohne dass sich irgendetwas verbessert. Aber an irgendeinem Punkt dachte ich, in einer Therapie fängt man mit Stabilisation an. Inzwischen begreife ich, dass das nicht ist, wie unser Leben funktioniert. Inzwischen weiß ich, dass alleine in Therapie zu gehen, Traumakonfrontation ist.
Aber auch jede Psychiatrie oder Tagesklinik würde dieses Problem nicht ändern.

Ich zähle die Tage bis zum Therapiebeginn, als wäre dieser mein persönlicher Weltuntergang. Ich habe keine Angst vor einer Vergewaltigung. Ich habe Angst vor dir.
Ich glaube, keiner der Therapeuten versteht so wirklich, was für einen riesengroßen Unterschied es macht, dass du unser Therapeut warst. Und die, die es verstehen, wollen uns nicht behandeln - weil, wie behandelt man das? Wenn ich Angst vor der Therapie aufgrund ihrer bloßen Existenz habe?
Aber es wird nicht besser, je länger wir suchen. Wir werden nicht weniger traumatisiert davon, vor jeder Therapie wegzurennen, weil sie Flashbacks macht und Instabilität und Chaos. Wir finden nicht irgendwann eine richtigere Therapeutin, bei der du plötzlich einfach nicht mehr existierst.
Das muss ich mir eingestehen, selbst wenn den Antrag für die Krankenkasse zu unterschreiben sich anfühlt wie ein Vertrag, mit dem ich bestätige, dass ich jetzt wieder nicht mehr mir selbst gehöre, sondern irgendeinem Therapeuten und in erster Linie wohl immer noch dir.

"Manchmal muss man ins kalte Wasser springen", sagt unsere Therapeutin, weil ich mir noch nie so unsicher war, die richtige Entscheidung zu treffen. Aber wir springen nicht in Wasser. Wir springen in Scherben und Trauma und Feuermeer.

there is another world in your eyes and I still live there,
sometimes. I still love you and I still feel you and I still hate
how everything turned out to be. I still feel your fingertips like raindrops, but somehow
you were poison.
My heart doesn't beat like it used to anymore and I can't breathe,
I can't breathe, I can't breathe and

there is another world in your eyes and it is on fire.
I got burned, but I still long to be touched by you.
Somehow we were lovers and somehow we were friends and
somehow we were not enough, gone,
never again.

We were slowly dying but
I still loved you till the end.

Montag, 14. Dezember 2020

#29: Wortkleid

Es war einmal ein kleines Mädchen, das sehr gerne sang. Sein Gesang war nicht besonders schön, nicht so wie bei den Leuten, die es oft auf CD oder im Radio hörte, aber das störte es nicht. Es war ja noch klein und die Leute im Radio waren schon ganz groß. Bis es so alt war wie die, konnte es noch ganz viel lernen!

Einmal fragte die Mutter des Mädchens es, ob es gerne ein Instrument lernen würde. Neben der Schule, auf die es ging, hatte eine Musikschule aufgemacht und seine Mutter würde ihm gerne ermöglichen, Musik zu machen, falls das sein Wunsch war.
Freudestrahlend antwortete das Mädchen: "Ich würde gerne singen lernen!"
Die Mutter aber sagte: "Deine Stimme ist nicht gut genug, um Singen zu lernen. Singen lernt man nicht wie ein Instrument - es gibt Menschen, die werden mit einer schönen Stimme geboren und die können ihre Stimme dann durch Unterricht noch schöner machen. Aber du wurdest leider mit einer schlechten Stimme geboren, deshalb kannst du nie singen lernen."
Was die Mutter dem Mädchen nicht sagte, und vielleicht war das der eigentliche Grund, war, dass sie nicht viel Geld hatte und Gesangsunterricht viel teurer war als der Unterricht für die meisten Instrumente.

Das Mädchen war sehr traurig über diese Absage.
Aber im Radio hörte sie jemanden, dessen Stimme auch nicht besonders schön war. Seine Texte waren aber sehr schön, auch wenn das kleine Mädchen sie noch nicht ganz verstand. Mit der Erlaubnis ihrer Mutter besuchte sie sogar ein Konzert von diesem Sänger und er füllte ein ganzes Stadion! So viele Menschen waren gekommen, um diesem Mann zuzuhören, dessen Stimme nicht besonders schön war, weil seine Texte so schön waren.
Also dachte sich das Mädchen, obwohl seine Mutter ihm jeden Tag sagte, dass es doch endlich aufhören sollte zu singen, weil es nervig war, seine grauenvolle Stimme zu hören: wenn ich schon nie schön singen können werde, werde ich einfach wunderschöne Texte schreiben! Dann werden mir alle wegen meiner Worte zuhören, schöne Stimme oder nicht.
Und so begann das Mädchen zu schreiben. Anfangs waren seine Texte nicht sehr schön, aber schon bald begann es, sehr stolz auf die geschriebenen Texte zu werden. Auch wenn sie längst nicht so toll waren wie von dem Menschen von dem Konzert. Aber der ist ja auch schon alt, dachte sich das Mädchen. Ich bin erst 12. Ich habe noch sehr viele Jahre Zeit, um sehr viel zu lernen!

Das Mädchen hatte eine sehr gemeine Schwester. Einmal fand seine Schwester einen der Texte und fragte es, was das für ein Text war.
"Das ist ein Liedtext", antwortete das Mädchen voller Stolz. "Den habe ich geschrieben! Es geht darin um ein Mädchen aus einem Buch, das ich neulich gelesen habe, die von ihrem besten Freund betrogen wird."
Die Schwester sah es skeptisch an. "Aber du weißt schon, dass du gar nicht singen kannst, oder?", fragte sie das Mädchen.
"Ja", antwortete das Mädchen. "Aber ich werde so tolle Texte schreiben, dass das niemanden interessieren wird, genau wie bei dem Sänger aus dem Radio!"
Die Schwester blickte spöttisch. "Sing mir doch das Lied mal vor", bat sie.
So sang das Mädchen und als es geendet hatte, sagte die Schwester: "Die Stimme von dem Sänger aus dem Radio ist einfach nur nicht gut. Von deiner bekommt man Ohrenkrebs."

Fortan sagte die Schwester des Mädchens jedes mal, wenn sie es singen hörte, ähnliche Worte: "Von deiner Stimme bekommt man Ohrenkrebs. Es ist einfach nur nervig, wenn du singst, hör auf damit."
Das Mädchen nahm all seinen Mut zusammen und fragte seine Mutter nochmal nach Gesangsunterricht. "Ich möchte gerne singen und ich schreibe auch echt tolle Texte", sagte es. "Aber meine Stimme klingt ganz schrecklich. Ich möchte machen, dass meine Stimme nicht mehr so schrecklich klingt."
Die Mutter aber sagte: "Deine Stimme ist so nervig und grauenvoll, dass niemand dir jemals freiwillig zuhören wird. Mit dem Talent zu Singen wird man geboren, also gibt es dort nichts für dich zu lernen. Du kannst lernen, Noten zu treffen, aber davon wird deine Stimme nicht weniger grauenvoll."
Und fortan sagte auch die Mutter dem Mädchen jedes mal, wenn sie es singen hörte - was oft war, denn das Mädchen sang gerne - dass es nervig war und es damit aufhören sollte.

Und so hörte das Mädchen, das eins so gerne gesungen hatte, auf zu singen. Es schrieb weiter seine Texte und manchmal, ganz selten, wenn alle Hausbewohner bis auf es außer Haus waren, sang es noch.
Einmal war doch die Schwester Zuhause, aber das Mädchen hatte es nicht gemerkt.
"Ich hab dich gerade singen gehört", sagte die Schwester. "Und ich glaube, das klang gar nicht mehr so schlimm wie früher. Magst du mir nochmal etwas vorsingen?"
Das Mädchen verneinte, doch die Schwester redete immer weiter, dass es ja dieses mal eigentlich ganz gut geklungen hätte und so sang das Mädchen ihr doch etwas vor.
Als es geendet hatte, grinste die Schwester hämisch. Sie sagte: "Es klingt immer noch genauso grauenvoll. Aber jetzt habe ich es mit meinem Handy aufgenommen und kann mich jederzeit darüber lustig machen."
Natürlich klaute das Mädchen ihr Handy, um das Video zu löschen. Aber Singen tat es danach nie wieder.

Einige Monate später lernte das Mädchen ein anderes Mädchen kennen, das schon bald seine beste Freundin wurde. Einmal sah diese Freundin es einen seiner Texte schreiben und fragte, was das war.
"Das ist ein Liedtext", sagte das Mädchen. "Ich kann leider nicht singen, aber ich schreibe sehr gerne Texte."
Die Freundin war begeistert über den Text. Sie sagte: "Du solltest mir das mal vorsingen, dann könnte ich ein Instrumental dazu machen. Ich spiele nämlich Klavier."
Das Mädchen fand diese Idee ganz wundervoll. Wenn es ein Instrumental hatte, würde sich vielleicht jemand anders finden, der sein Lied singen wollen würde. Jemand mit einer schöneren Stimme. Es hatte sogar eine Freundin im Kopf, die sehr gerne sang.
Doch dann stellte das Mädchen fest, dass es sich nicht dazu überwinden konnte, vor seiner besten Freundin zu singen. "Man hört keine Melodie bei dir", hatte seine Schwester mal gesagt, und wenn man keine Melodie hörte, dann konnte man ja auch kein Instrumental schreiben, davon abgesehen, dass es seiner besten Freundin seine grauenvolle, ohrenkrebserregende Stimme ersparen wollte. Also sang es nicht.
Seine beste Freundin war sehr enttäuscht und es selbst fast noch mehr. Was nützten denn die tollsten Texte, wenn niemand sie je hören würde, weil es selbst dazu zu unfähig war, jemandem die Melodie zu zeigen?

Und so hörte das mittlerweile nicht mehr ganz so kleine Mädchen, das einst so gerne gesungen hatte, auf, seine Liedtexte zu schreiben.
Vergessen wanderten sie erst für mehrere Jahre in seine Schreibtischschublade und schließlich, als sie es wiederfand, auf den Müll. Es hatte keine Verwendung mehr dafür. Und gut hatten sie auch nur für sein 14jähriges Ich geklungen.

Eines Tages, als es schön längst komplett alleine wohnte, lernte das Mädchen eine Sängerin kennen, die eine sehr interessante Ansicht hatte: jeder Mensch konnte singen lernen.
Das Mädchen erklärte ihr, dass es definitiv nicht singen lernen konnte. Dass seine Stimme komplett grauenvoll war und es auch gar keine Melodien singen konnte. Aber die Sängerin gab nicht auf, es vom Gegenteil zu überzeugen und schaffte es schließlich, das Mädchen zu überreden, aufzunehmen, wie es etwas sang und ihr zu schicken, damit sie ihm Feedback dazu geben konnte.
Entgegen aller Erwartungen des Mädchens sagte die Sängerin ihm nicht, dass es komplett grauenvoll, nervig und ohrenkrebserregend klang. Stattdessen erklärte sie dem Mädchen, was es beim Singen besser machen konnte, um schöner zu klingen. Und auch wenn das Mädchen nicht ganz verstand, was sie meinte, stimmten ihre Worte das Mädchen sehr glücklich. Und es beschloss: eines Tages werde ich Gesangsunterricht nehmen, wenn ich genug Geld dafür habe. Zudem fing es wieder an, Texte zu schreiben.

Das ist mittlerweile drei Jahre her und das überhaupt nicht mehr kleine Mädchen ist fast 25. Seit über einem halben Jahr kann es sich inzwischen Gesangsunterricht leisten, aber noch immer kann es nicht vor anderen Menschen singen.
"Es gibt bestimmt auch Gesangsunterricht auf Youtube", sagte der Freund dem Mädchen, nachdem es ihm endlich von diesem Problem erzählt hatte, das es so sehr quälte. "Dann kannst du das alleine in deiner Wohnung machen."
Aber die Wohnung hat zentimeterdünne Wände. Es kann jedes Gespräch seiner Nachbarn hören und sie jeden Ton, den es singt.
Und es kann doch nicht sein,
dass irgendjemand auf der Welt
seine ganz grauenvolle Stimme ertragen muss.

Sie renn' weiter und ich zerfall,
falle tief, tief, tief, tief.
Von allem, was ich wollte, gibt es nichts,
das mir noch erhalten blieb.

Alle gehen
und ich bleibe hier und sing allein für
diese Welt, in der mich niemand hört
und ich weiß genau, das wird genug für mich sein.
...

Donnerstag, 10. Dezember 2020

#28: Warum Du (k)eine DIS haben möchtest

„Ich wünschte, ich hätte auch eine DIS“, sagte mir mal jemand, kurz nach unserer Diagnose, als wir davon erzählten und gerade erklärten, was das ist. „Dann wäre ich nie alleine.“
Mir war schon vorher erzählt worden, dass es so etwas gab: ignorante Unos, die sich 'einfach so' eine DIS wünschten, weil ihnen langweilig war und sie gar nicht wussten, was traumatisiert sein eigentlich bedeutet! Deshalb machte mich das sehr wütend und ich erzählte ihm, was er sich da gerade wünschte: schwerste Traumata in der frühsten Kindheit. So etwas wollte doch niemand. Richtig respektlos, das einfach so zu sagen! Der hatte scheinbar meinen Text über die Ursachen der DIS gar nicht erst gelesen und dachte jetzt, das wäre ein lustiges Rollenspiel!

So viel Ignoranz in einer einzelnen Person.
Mir.
Denn er erzählte: von einer Kindheit voller Trauma. Jugend voller Trauma. Alles und überall Trauma - von den Eltern, den Mitschülern, den Lehrern, dem nie Sichersein, Isoliertsein, den Flashbacks, der PTBS, den ganzen Problemen, die ich selbst kannte.
Wie schön es doch wäre, das zumindest nicht alleine erlebt haben zu müssen!

Danach hörte ich auf, auf Menschen, die sagten, sie hätten gerne eine DIS, wütend zu werden und fragte stattdessen: warum?
Und in 90% der Fälle hörte ich von Misshandlungen, schwersten Kindheits- und Jugend- und Alles-Traumata, einem Leben voller Flashbacks und PTBS und sonstigen psychischen Erkrankungen.
Wie schön das doch wäre, nur für eine Sekunde vergessen zu können!

Und ich weiß doch selbst: wir alle (in unserem System) sind uns gegenseitig so unglaublich dankbar. Dafür, einen Teil der Erinnerungen zu halten, nur einen Teil des Grauens, das ich selbst nicht erlebt haben muss, nur eine Sekunde, für die ich abschalten kann, weil jemand anders übernimmt, für die Innenpersonen, die bei Flashbacks aufpassen, da sind, beruhigen, die Personen, die vor Angst beschützen, die Personen, die die Dinge tun, die ich selbst nicht sein kann.
Wie schlimm das sein muss. Ein einzelner Mensch zu sein, mit genauso viel Trauma.
Ganz alleine in der Hölle.
Und ja: die DIS hat sehr unschöne Seiten. Amnesien oder Körperdysphorien oder einfachverschwinden, einandervermissen, nicht einfach dem Trauma entkommen können, weil irgendjemand immer zurückrennt.
Aber wir alle, als Systeme, haben doch eins gemeinsam: wir haben keine Ahnung, wie es sich anfühlt, eine schwertraumatisierte Einzelperson zu sein. Also woher nehmen wir das Recht so wütend zu sein, dass jemand sich unsere Realität wünscht? Wir haben doch keine Ahnung, ob sie vielleicht erträglicher ist.

Und ja,
es ist etwas anderes, wenn jemand wirklich nicht versteht und die DIS tatsächlich für ein lustiges Rollenspiel hält.
Aber in den wenigsten Fällen kennen wir diese Menschen überhaupt.
Also warum verurteilen wir so schnell? Wenn wir selbst uns doch Akzeptanz wünschen.
Warum machen wir so schnell zu? Wenn alles, was die Welt braucht, mehr Offenheit ist.
Warum reagieren wir mit Wut? Ablehnung? Zurückweisung?
Wenn wir doch einfach fragen könnten: Warum?