Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Freitag, 24. Dezember 2021

#85: Weihnachten, Familie und Kontaktabbrüche

Seit Ewigkeiten liegt hier ein Post rum, dessen einziger Inhalt ist „Kontaktabbruch Eltern = Leben besser“, im Prinzip ist das nur ein Notizzettel, weil ich irgendwann darüber schreiben wollte. Und wir haben hier zwar gerade eine Menge (fast) fertige Posts zu diversen Themen rumliegen, aber es ist Weihnachten und es fühlte sich seltsam an, diese Tatsache einfach zu ignorieren, vor allem, da wir dieses Jahr selbst deswegen etwas Probleme haben.

Vor 3.5 Jahren sind eine Menge Dinge passiert, die dazu geführt haben, dass wir endlich etwas gelernt haben, Nein zu sagen, unsere Grenzen zu kommunizieren und auch unsere Grenzen/Bedürfnisse durchzusetzen. Wir hatten eine kleine Familie, für eine kurze Zeit, die uns das beigebracht hat. Wir haben ruru kennengelernt. Wir haben realisiert, dass Blyth uns missbraucht hat.

Irgendwann im Herbst ist unsere Tante gestorben (wir kannten sie kaum), aber unsere Mutter hat uns angeschrieben und uns mitgeteilt, wann die Beerdigung ist, damit wir da nach Hannover fahren können. Da es uns aber gerade so schlecht ging und wir wirklich nicht nach Hannover fahren wollten, haben wir nicht geantwortet und so getan, als hätten wir die Nachricht nicht gesehen - was dazu führte, dass wir mit Nachrichten von allen Familienmitgliedern bombadiert wurden, Telefonanrufe, was auch immer, einfach aufgrund der Tatsache, dass wir nicht innerhalb von 48 Stunden geantwortet haben. Nach vier Tagen oder so (wo die Beerdigung auch schon vorbei war) haben wir uns dann gemeldet und gesagt, wir wären bei ruru gewesen und hätten unser Handy Zuhause vergessen gehabt. (Oder irgendetwas ähnliches - es war und ist absoluter Standard bei uns, unsere Familie anzulügen.)
Uns wurde gesagt, wir müssten ja erreichbar sein, also, vielleicht nicht unbedingt sofort, aber eben schon innerhalb von 24 Stunden, man müsse dann unbedingt der Familie rurus Nummer geben, falls wir mal wieder unser Handy Zuhause vergessen, es könnte ja einen Notfall geben und außerdem würde man sich ja auch Sorgen machen, wir hätten tot sein können, das kann man ja nicht wissen, wenn man uns vier Tage lang nicht erreicht.
Wir waren zu dem Zeitpunkt an einem Punkt, wo wir gemerkt haben, dass wir auch unser Handy und unser Festnetztelefon abschaffen könnten und nur noch per Brief erreichbar sein könnten und es wäre okay - und unsere Familie müsste sich damit abfinden. Weil es unser Leben ist und nicht ihrs.

Ich weiß nicht mehr genau, was für Gespräche wir danach geführt haben, aber wir haben auf jeden Fall unserer gesamten Familie gesagt, dass sie unsere Privatsphäre gefälligst zu respektieren haben und wenn sie das nicht wollen, können sie gehen. In dem Zusammenhang haben wir direkt auch noch gesagt, dass wir Weihnachten mit ruru verbringen werden.
Unsere Mutter hat dann (wie immer, wenn wir so etwas geäußert haben) angefangen, uns Schuldgefühle einzureden von wegen, dass es ja vielleicht das letzte Weihnachten für unsere Großeltern ist, vielleicht sterben sie ja bald und leider hat das ein bisschen funktioniert, zumindest haben wir uns darauf geeinigt, dass wir Anfang Dezember für ein Wochenende dort hinfahren und dann eine kleine Mini-Weihnachtsfeier mit der Familie machen.
Aber eigentlich wollten wir gar nicht dorthin und dass wir die heftigste depressive Episode seit Jahren hatten, hat auch nicht unbedingt geholfen. Im Endeffekt hat ruru uns hingebracht, aber wir haben schon Tage davor nur darüber geredet, dass wir da nicht hin wollen, wie schlecht es uns gehen wird, wenn wir da sind, wie scheiße wir immer behandelt werden und so weiter und so weiter. Wir waren dann irgendwann da und unsere Mutter musste den Abend nochmal weg, zu einer Freundin oder so, also saßen wir dann alleine in der Wohnung, wo wir nicht sein wollten und haben geweint, weil es so scheiße ist, dass wir diese Familie haben, die uns nicht gut behandelt und weil es scheiße ist, dass wir trotzdem da sein müssen und sie trotzdem sehen müssen und es für immer so sein wird und plötzlich fiel uns auf: moment mal, das muss es ja gar nicht. Das ist alleine unsere Entscheidung!

Und dann sind wir nach Hamburg gefahren. Zu ruru.
Und haben unserer Familie gesagt, dass wir sie erstmal (als harte Grenze) das gesamte Jahr 2019 nicht sehen wollen. Weil sie immer nur wollen, dass wir Rücksicht auf jeden und alles nehmen und unser ganzes Leben dafür aufwenden, dass es niemandem schlecht geht, aber wie es uns geht, ist nicht wichtig und Rücksicht auf uns selbst dürfen wir nie nehmen.
Ein paar Monate später haben wir den Kontakt zu unserem Vater abgebrochen, was uns jahrelang von unserer Mutter ausgeredet worden war. Und dann haben wir den Kontakt zu unseren Großeltern väterlicherseits abgebrochen, weil sie darüber gelästert haben, dass unsere Cousine seit dem Tod ihrer Mutter unzuverlässig geworden ist.

Und dann ist neulich passiert.
Wir haben unsere Familie 2019 nicht gesehen und 2020 dann den Kompromiss gefunden, dass wir nicht mehr nach Hannover fahren, aber sie uns in Hamburg besuchen können oder wir uns in einer Stadt in der Mitte treffen.
Neulich schrieb unsere Mutter uns dann, unser Opa kam jetzt zu dem Schluss, dass er diese Strecke nicht mehr schafft, es ginge ihm in letzter Zeit auch echt schlecht und ob wir nicht doch wieder nach Hannover kommen könnten.
Es war schon wieder so nah an: „Hey, ignorier doch bitte deine Grenzen für die Familie, immerhin könnten deine Großeltern bald sterben.“
Und trotzdem hab ich mir Gedanken gemacht. Weil es ja vielleicht wahrscheinlicher ist, dieses mal. Und ich dachte: ich hab zwar keine Bindung zu dieser Familie, genau wie jede Innenperson, die ich kenne, aber vielleicht existiert ja Innenperson X, die eine Bindung hat und wenn ich jetzt nicht hinfahre und dann unsere Großeltern sterben, ist diese Innenperson vielleicht sehr traurig. Und dann saß ich da, alleine mit zerbrochenen Gedanken und keiner Möglichkeit, einen Kompromiss zu finden.

Bis unsere Psychologin uns darauf hingewiesen hat, dass wir mal wieder überhaupt nicht mitgedacht wurden. Weil, erstens hatten wir eine harte Grenze gesetzt, dass wir nie wieder nach Hannover fahren, weil die Stadt uns triggert - und es wurde nicht mal gefragt, wie man vielleicht machen könnte, dass es weniger schlimm für uns ist, wenn wir hinfahren. Zweitens könnten wir das gesamte letzte Jahr auch nicht wirklich (nur unter Schmerzen) laufen und das ist zwar in den letzten paar Monaten besser geworden, aber es wurde überhaupt nicht danach gefragt. Und drittens saßen wir jetzt alleine mit der Aufgabe da uns einen Kompromiss zu überlegen, über den unsere Familie sich schon vorher hätte Gedanken machen können, weil sie ja (theoretisch) wissen, wie schlimm es für uns ist, in Hannover zu sein. (Zumindest wissen sie, was unser Vater gemacht hat.)
Also hab ich das angesprochen.
Und bekam nur Schuldzuweisungen. Man würde sich ja den ganzen Tag Gedanken darüber machen, wie es uns geht, aber nicht nachfragen, weil man nicht nerven möchte. „Ich versuche ja nur eine gute Mutter zu sein.“ Worauf ich tatsächlich unserer Mutter sagte, dass sie eben nicht unsere Mutter ist, der Zug ist abgefahren, aber sie kann gerne versuchen, ein Mensch zu sein, den wir nicht hassen, in unserem Leben zu haben. Und es kam gar nichts. Keine Einsicht, keine Entschuldigung, nichts, nur mehr Schuldzuweisungen, mehr „ich weiß, dass ich viel falsch gemacht habe, aber das ist ja Vergangenheit“, als würden wir nicht immer noch scheiße behandelt werden, als würde nicht weiterhin auf unsere Grenzen getrampelt werden. „Es ist nicht wirklich eine große Leistung, dass du aufgehört hast, mich zu missbrauchen“, habe ich gesagt.
Und dann habe ich beschlossen: ich will diesen Kontakt nicht mehr.

Noch besteht er, weil wir gerade sehr viele behördliche Dinge zu klären haben, für die wir teilweise Unterlagen von unserer Mutter brauchen. Außerdem sind ein paar unserer Sachen noch dort, weil sie in unserer kleinen Hamburger-1-Zimmer-Wohnung keinen Platz fanden, aber es ist geplant, dass wir 2022 umziehen, wo wir diese Sachen dann zu uns holen werden (selbst wenn sie keinen Platz in der Wohnung finden, es gibt Abstellräume). Es ist nur notwendig für uns, den Kontaktabbruch gegenüber unserer Familie geheim zu halten bis er passiert (und demnach alles, was bis dahin geklärt sein muss, unter anderem Vorwänden wie einem Umzug zu klären), damit wir nicht aus unserer Entscheidung hinaus manipuliert werden.

Seit 2019 ist dennoch so vieles besser geworden. Weil es Vergangenheit ist, dass unsere Grenzen durchgehend mit Füßen getreten werden. Dass wir behandelt werden wie ein Objekt, dessen Liebe man einfordern kann, indem man nur genug Übergriffigkeiten in es hineinstopft.
In dieser Familie sind wir kein Mensch. Wir sind die Idee einer Tochter, einer Schwester, einer Enkelin, und wir durften nie Zeit oder Raum haben, darüber hinaus zu existieren.
Aber wir verdienen Zeit und Raum - das haben wir gelernt. Wir nehmen sie uns. Und trotzdem bleibt es zurück, dass wir an demselben unsichtbarmachenden Ort sind, wann immer wir mit unserer Familie reden. Aber je weniger wir es tun, desto sichtbarer werden wir.
Je weniger wir es tun, desto mehr können wir heilen.

Umso weiter wir rennen, umso näher kommen wir einem Ort, an dem wir existieren können.
Ganz. Und ehrlich. Wichtig und richtig und als mehr als die Idee einer Person, die wir nie sein werden.
Und hoffentlich können wir 2023 sagen, dass wir keine Familie mehr haben. (Außer ruru.)

Ich wollte das schreiben, weil so viele Menschen, gerade an Weihnachten, immer sagen, dass man seine Familie lieben muss. Dass man da sein muss, zumindest an Weihnachten und an Geburtstagen oder an was auch immer für Tagen im Jahr man irgendetwas feiert. Egal wie man behandelt wird. Egal wie viel Missbrauch passiert ist. Egal wie viel Kleinreden und Nichtbeachten und Verletztwerden und Unsichtbarsein jedes mal passiert, wenn man da ist.
Aber es ist nicht so.
Ich liebe meine Familie nicht. Ich habe sie nie geliebt. Niemand von uns hat eine Bindung zu diesen Menschen. Innenperson X existiert wahrscheinlich nicht. Und wir sind gegangen oder werden noch gehen und die Welt ist nicht untergegangen, wir sind nicht für immer alleine und traurig geblieben, wir hatten ein paar Wochen noch schlimmere Depressionen als vorher schon und nächstes Jahr, wenn wir ganz gehen, werden wir vermutlich auch Depressionen und Schuldgefühle und Suizidgedanken und alles, was man haben könnte, haben, aber es wird vorbeigehen. So wie wir letztes mal schon nicht einsam und traurig waren, sondern endlich alleine und danach glücklich.
Und frei. Frei. Frei. Frei.

Man ist niemandem seine Liebe schuldig. Oder seinen Kontakt. Oder seine Zuneigung, seine Worte, seine Zeit, seine Nähe, sein Irgendetwas. Ihr nicht und wir nicht und auch niemand sonst.

Dienstag, 21. Dezember 2021

#84: Head above water

Ein Atemzug bevor es stürmt,
schließ alle Fenster, alle Tür'n.
Nicht weniger, nicht mehr will ich,
als dass der Wind sich legt um mich.

Das Wasser steht mir bis zum Hals.
Kein Land in Sicht und ich begreif,
wenn ich kämpfen will, dann jetzt, für mich,
meine Stimme treibt mich an und ich

halt meinen Kopf über Wasser.
Die Zeit vergeht,
kann kaum atmen.
Doch mit der Luft,
die ich habe,
kann ich noch um Hilfe fleh'n.
Lass mich nicht untergeh'n.
Lass mich nicht, lass mich nicht untergeh'n.

Wenn ich mich fast im Sog verlier,
kann ich dann deine Nähe spür'n?
Nur eine Pause, halt mich fest,
ich brauch dich so, ich brauch dich jetzt.

Halt meinen Kopf über Wasser.
Die Zeit vergeht,
kann kaum atmen.
Doch mit der Luft,
die ich habe,
komm ich sicher noch ein Stück.
Lass mich nicht untergeh'n.
Halt mein' Kopf über Wasser, über Wasser.

Und ich seh nichts in diesem Sturm vor mir, der
mich zerbricht. Viel länger kann ich nicht mehr.
Und ich, ich kann nicht für immer durch dieses Meer schwimm.
Denn ich versink.

Ein Atemzug voller Wasser.
Keine Luft. Ich geh unter.
Doch irgendwas
in mir sagt, dass
ich den Himmel noch erreich.

Ein letztes mal über Wasser.
Zeit vergeht,
doch ich atme
und mit der Luft,
die ich habe,
kann ich laut um Hilfe schrei'n.

Ich will leben.

[Übersetzung von uns. Original: Avril Lavigne.]
CN: Religion/Gott.
Da wir selbst nicht (in die Richtung) gläubig sind und aufgrund des Triggerpotentials, haben wir versucht, dass Thema in der Übersetzung in den Hintergrund zu rücken.

Donnerstag, 16. Dezember 2021

#83: Wahrnehmung und Einbildung

Unsere Psychologin ist immer wieder überrascht davon, dass wir unserer eigenen Wahrnehmung so sehr vertrauen. Denn normalerweise ist das nicht so, wenn man traumatisiert ist. Man wächst immerhin in einer Welt auf, in der man ständig nur hört, man würde sich anstellen, man würde lügen, man würde sich Dinge nur einbilden, spürt, die eigenen Gefühle sind nicht wichtig, man selbst ist nicht wichtig, aus jeder Ecke dröhnt es „deine Wahrnehmung ist falsch“.
Wir sind natürlich nicht vollkommen unbehelligt davon. Blyth hat das wunderbar ausgenutzt.
Aber wir sind schon verhältnismäßig frei davon, können uns selbst vertrauen und oft auch durchsetzen, dass unsere Wahrnehmung nicht falsch ist. Zumindest uns selbst gegenüber.
Und immer wieder kommt die Frage auf, wie wir das behalten konnten, trotz allem. Dass es ja irgendwas gegeben haben muss, das uns gesagt hat, dass unsere Wahrnehmung richtig ist.
Aber umso mehr ich darüber nachdenke, desto weniger glaube ich das.
Ich glaube, ich denke einfach zu mathematisch, um mein eigenes Erleben in Frage zu stellen.
Denn es gibt Meinungen und es gibt Fakten.
Eine 4 ist immer eine 4.
Wenn ich Schmerzen fühle, fühle ich Schmerzen.
Die 4 kann auf verschiedene Arten entstanden sein - es gibt viele Möglichkeiten, auf eine 4 zu kommen. Zum Beispiel 2 + 2. Oder 2 * 2. Oder 20 / 5. Oder  7 - 3. 8 * 0.5. Aber es ist trotzdem alles eine 4.
Schmerzen können auf unterschiedlichste Arten entstehen. Wenn ich zum Arzt gehe und sage, ich habe Schmerzen und er stellt nichts fest und sagt mir „bei Ihnen ist alles in Ordnung“, dann heißt das (vorausgesetzt er hat nichts übersehen), dass es keine medizinisch relevante Ursache für die Schmerzen gibt. Ich fühle aber trotzdem Schmerzen. Das ist einfach ein Fakt. Es ist keine Meinung - sonst könnte ich ja einfach meine Meinung ändern und die Schmerzen wären weg.
Also könnten die Schmerzen vielleicht eine psychische Ursache haben. Dann ist natürlich nicht wirklich mein Knie kaputt, sondern es tut einfach nur weh.
Selbst wenn wir den beliebten Satz nehmen: „Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein.“ Was anderes ist denn die Einbildung eines Sinnesreizes als eine Halluzination? Und eine Halluzination entsteht auch irgendwie. Hat also eine Ursache. Es ist halt nicht wirklich mein Knie kaputt, aber es tut trotzdem weh.
Man kann einfach nicht etwas fühlen, ohne dass man es tatsächlich fühlt. Das ist nicht, wie Biologie funktioniert. Eine 4 ist eine 4 und Schmerzen sind Schmerzen.

Okay, aber was ist mit komplexeren Sachen wie der DIS, fragt man sich jetzt vielleicht. Das ist ja kein klar fühlbarer Zustand. Bei so etwas kann die eigene Wahrnehmung vielleicht falsch sein.
Nehmen wir das mal auseinander.
Ich habe eine bestimmte Persönlichkeit. Ich verhalte mich in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art und Weise. Das ist ein Fakt - das tut jeder Mensch. Manchmal war es bei uns jedoch ganz anders - „ich“ war dann einfach anders und „ich“ konnte auch nichts dagegen tun. Es fühlte sich an, als wäre „ich“ eine andere Person.
Das ist ein Fakt. Ich war anders - kann man feststellen. Ich konnte nichts gegen tun - sonst hätte ich es ja, denn ich wollte. Es fühlte sich so an - Gefühle sind Fakten. Sie sind Biologie. Es sind hormonelle Reaktionen. Man kann das irgendwie messen, wenn man möchte. Mathematik. Eine 4 ist eine 4 und ein Gefühl ist ein Gefühl.
Aufgrund von Fakten, die ein Psychologe interpretiert hat, wurde uns eine DIS diagnostiziert.
Wenn die Diagnose falsch ist? Dann wurde falsch interpretiert.
Man kann sich keine Fakten einbilden.
Einbildung existiert nicht. Also, wirklich. Wenn ich aus dem Augenwinkel einen Schatten sehe und ich drehe mich um, aber da ist nichts, ich habe ihn mir also „eingebildet“. Das geht halt gar nicht. Dass ich einen Schatten gesehen habe, ist ein Fakt. Es war halt nur nichts da, vielleicht war es eine Halluzination, vielleicht irgendein komisches Lichtphänomen, irgendeine Fehlfunktion meiner Augen, was weiß ich. „Einbildung“ ist nur ein Wort für Fakten, die nicht erklärbar sind (für die man nicht sofort eine Ursache finden kann).

Wahrnehmung ist auch einfach ein Fakt. Alles, was man denkt, fühlt, was auch immer ist ein biologischer Prozess. Biologische Prozesse kann man messen. Vielleicht noch nicht jetzt, aber in der Theorie ist es möglich. Wenn ich Schmerzen empfinde, ist das ein biologischer Prozess in meinem Gehirn. Wenn ich Angst habe, ist das ein biologischer Prozess in meinem Gehirn. Existieren ist ein biologischer Prozess.
Fakten sind einfach keine Meinungen.
Und Existieren auch nicht.

Mittwoch, 15. Dezember 2021

#82: Weihnachten, Geschenke und Consent

Ich hasse Geschenke. Und ich hasse Weihnachten und Geburtstage alleine deswegen, weil es für die meisten Menschen was mit Geschenken zu tun hat und ich hasse Geschenke einfach unglaublich sehr, ich verbinde Geschenke mit Übergriffen, mit Trauma und mit allem, was auf der Welt scheiße ist.

Aber von Vorne.
Seitdem wir unsere Familie endlich größtenteils aus unserem Leben geschmissen haben, ist Weihnachten eigentlich eine schöne Zeit. Wir verbringen sie immer mit ruru. Da geht's auch nicht um Geschenke sondern darum, eine schöne Zeit miteinander zu verbringen.
Aber dieses Jahr fing es an, dass ich mich schlecht fühle, weil ich ihm nichts schenke. Obwohl er es gar nicht schlimm findet.
Und jetzt macht es mich total fertig, dass ich dieses Gefühl in erster Linie überhaupt habe, weil es nicht da sein sollte. Es ist nur da wegen gesellschaftlichen Erwartungen und weil unsere Familie scheiße ist.

Nachdem ich irgendwann mal ein Ticket zu einer Veranstaltung geschenkt bekam, zu der ich zwar eigentlich gehen wollte, aber nicht mit der Person, die mir das Ticket geschenkt hatte (sie hatte natürlich auch eins), habe ich beschlossen, dass ich in Zukunft keine Geschenke mehr erhalten möchte.
Denn natürlich habe ich mich nicht getraut, der Person zu sagen, dass ich viel lieber alleine dort hin möchte. Und so war meine Veranstaltung, auf die ich mich monatelang gefreut hatte (ich hatte mir nämlich später selbst ein Ticket kaufen wollen), für mich kaputt.
Ich verkündete also meiner Familie, dass ich in Zukunft keine Geschenke mehr haben wollen würde. Nein, auch kein Geld. Nein, auch keine Schokolade. Gar nichts.
Anstatt einfach meine Wünsche zu respektieren, wurden mir Schuldgefühle eingeredet, weil mir ja Menschen gerne was schenken würden und wenn ich denen das jetzt verbiete, dann sind die bestimmt traurig oder freuen sich zumindest nicht so doll, wie, wenn sie an Weihnachten sehen können, wie ich mich über ihre Geschenke freue.
Seitdem beschäftige ich mich immer mehr damit, wie verdammt übergriffig Geschenke einfach teilweise sind - aufgrund der gesellschaftlichen Erwartungen, die damit verknüpft sind.
Weil, an sich ist ein Geschenk ja eine tolle Idee. Man möchte jemandem eine Freude machen. Aber manchmal verschenkt man eben aus Versehen etwas, das aktiv schlecht für die Person ist. Und es wäre auch okay, wenn die Person dann einfach sagen könnte: „Leider ist das nichts für mich“, es eben ablehnen könnte.
Leider ist das aber nicht so - meistens. Es wird von einem erwartet, dass man sich über Geschenke freut. Wenn man sie ablehnt, ist man undankbar (es sei denn, man hat einen richtig guten Grund wie eine tödliche Allergie oder so etwas) und am besten wird auch noch von einem erwartet, dass man etwas zurückschenkt, obwohl man eventuell gerade total gestresst ist und finanzielle Probleme hat und krank ist und demnach weder das Geld hat, etwas zu kaufen, noch die Zeit und Energie, etwas selbst zu machen.
Und so bekommt man allerhand Übergriffe geschenkt.

Beispiel: [CN: Essen.]
Wir müssen bei allem, was wir essen, wissen, wie viel Fett es hat, weil wir Fett nicht verdauen können und demnach Tabletten dafür nehmen müssen. Wenn uns jetzt jemand Kekse schenkt, können wir sie entweder nicht essen oder wir essen sie und raten, wie viel Fett sie haben, und bekommen im Endeffekt eventuell Schmerzen, weil wir falsch geraten haben.
Demnach müssen Menschen, wenn sie uns Kekse schenken wollen, auf eine Nachkommastelle genau berechnen, wie viel Gramm Fett ein Keks hat - oder eben wie viel Fett der gesamte Teig hatte und demnach wie viel Fett in der gesamten Dose Kekse sind, den Rest können wir dann selbst berechnen. (Letzteres funktioniert natürlich nur, wenn sie keine Kekse selbst gegessen haben und auch nichts vom Teig.)
Dazu kommt, dass in den Keksen außerdem keine Milch sein darf, weil wir Milch nicht vertragen. (Ebenfalls Schmerzen.)
Wenn uns nun also jemand Kekse schenkt, der das alles nicht weiß, müssten wir eigentlich sagen, dass er seine Kekse leider behalten muss.
Der Teil mit „ich vertrage keine Milch“ wird sogar oft noch verstanden. Der Fett-Teil wird meistens zu „das ist doch nicht normal, du hast eine Essstörung, du musst mehr Kekse essen“.
Und wenn man einfach ablehnt, weil man keine Kekse mag?
Dann ist man unhöflich und undankbar und warum ist man so scheiße, die Person hat sich extra Mühe gemacht, einem Kekse zu backen und dann lehnt man sie einfach ab, wie kann man es wagen, man ruiniert Weihnachten, Geburtstag, was auch immer, dies, das, keine Ahnung.

Und wenn ich es wage, enttäuscht zu sein, weil mir Leute seit Jahren nicht vegane Schokolade schenken, obwohl ich seit Jahren ständig sage, dass ich keine Milch vertrage und davon Schmerzen bekomme?
Dann bin ich eh der schlechteste Mensch der Welt und wie kann ich es wagen, verletzt zu sein, jemand wollte mir eine Freude machen, jetzt hab ich nicht nur Weihnachten, sondern die gesamte Weihnachtszeit und außerdem unsere Freundschaft ruiniert.

Vielleicht tue ich Menschen Unrecht und nur meine Familie ist so.
Aber ich weiß es nicht. Es ist nicht sicher, ein Geschenk abzulehnen, wenn es nicht gerade von ruru kommt (weil ich weiß, dass er nicht so reagieren würde).
Leute sind wegen allen möglichen Dingen beleidigt, was Geschenke betrifft. Leute sind beleidigt, wenn man ihnen sagt, sie sollen einem nichts schenken, wo Milch drin ist (wegen Unverträglichkeit), dann aber mitbekommen, wie man selber etwas isst, wo Milch drin ist. Leute sind beleidigt, weil man sagt, dass man Geschenke nicht mag, sie dann aber mitbekommen, dass ruru uns etwas geschenkt hat und wir uns darüber gefreut haben. Leute sind beleidigt, weil sie einem was schenken und man sich nicht sichtbar genug freut. Leute sind beleidigt, weil sie einem was schenken und man sich so doll freut, dass man ein zweites Geschenk irgendwie vernachlässigt. Und die Menge an Leuten, die beleidigt sind, weil man keine Blumen annimmt, selbst wenn man erklärt, dass Blumen tatsächlich gefährlich für einen sind aufgrund einer Krankheit, einfach, weil sie's nicht verstehen, ...
Es ist einfach nie sicher.
Geschenke sind hübsch verpackte Übergriffe so, so, so, so, so, so oft.

Consent ist wichtig, auch bei Geschenken und auch an Weihnachten.

Dienstag, 14. Dezember 2021

#81: Hinterhererklären

Ich hab meine Regeln gebrochen. Mich wieder in Frage gestellt und wegerklärt für eine andere Person, die Liebe nur in manipulierenden Sätzen sprechen kann.
Ich weiß, du liest das.
Dieser Text ist nicht für dich.

Nachdem ich verstanden hatte, dass Blyth uns missbraucht hat, habe ich mir geschworen, nie wieder dem Verständnis von jemandem hinterherzulaufen. Ich kann Sachen, die nicht verstanden werden, nur endlich erklären - und das heißt konkret einmal zum Ansprechen und ein weiteres mal, um anzumerken, dass es nicht verstanden wurde. Wenn sich dann nichts ändert, ich keine Nachfragen erhalte, nicht das Gefühl bekomme, dass es wichtig ist, muss ich davon ausgehen, dass es Absicht ist.
Weil es Absicht war. Und ich mir viel zu lange eingeredet habe, es wäre meine Schuld.
Aber es war plötzlich so wichtig.
Weil, wenn ich nach zwei mal erklären und nicht verstehen beschließe, dass es absichtlich nicht verstanden wird, dann lande ich an dem Punkt, wo das Konsequenzen haben muss. Weil, wenn jemand mich verletzt und das Problem nicht verstehen will, dann ist das niemand für unser Leben.
Also saß ich da mit meiner Regel.
Und ich dachte: „Aber dass kann es doch jetzt nicht gewesen sein. Dass ich verletzt bin und dann zerbricht alles daran, dass ich im schlimmsten Fall einfach nur nicht erklären kann.“
Und hab sie gebrochen. Meine wichtigste Grenze.
Als wäre immer noch 2017. Und Blyth immer noch hier.
„Es ist deine Schuld“, kam zurück, auch wenn es nie gesagt wurde. „Du bist nur verletzt, weil du die falschen Erwartungen hast.“
Mein erster Gedanke war, dass man nicht Schuld daran sein kann, verletzt zu werden. Und mein zweiter.
Mein dritter mit fragendem Unterton.
Ist das wirklich eine so große Erwartung? Erwarte ich zu viel? Ich meine, mir ist ja selbst schon aufgefallen, dass ich zu wenig mit anderen Menschen über meine Probleme rede... vielleicht liegt es dann wirklich an mir, dass ich das Gefühl habe, dass sich andere Menschen gar nicht dafür interessieren, wie es mir geht.

„Du bist mir wichtig, sogar mehr als unsere Freundschaft. Denn wenn du den Kontakt abbrechen willst, akzeptiere ich das.“
Es ist mir erst nicht aufgefallen.
Ich wusste nicht, warum der Satz so widerlich ist für mich.
Und dann habe ich gemerkt: wie eine vollkommen normale Sache genommen wird wie das Akzeptieren von Grenzen. Und als Liebesbeweis dargestellt wird.
„Du bist mir wichtig, guck mal, ich akzeptiere sogar deine Bedürfnisse.“

Und immer noch will ich erklären, klären, reparieren, zurück, nichts gesagt haben oder dass Oktober nie existiert hat
und wenn es dir jetzt leidtut, bitte schreib mir nicht. Es ist kein Liebesbeweis, dass du meine Grenzen respektierst. Das ist absolut widerliche, manipulative Missbrauchsdynamik.
Und man kann nicht Schuld daran sein, verletzt worden zu sein.
Nur falls du zuhörst. Dieser Text ist trotzdem nicht für dich.

Er ist dafür, dass ich zu Blyth zurückgegangen bin.
Mich durch den Dreck gezogen habe für die Liebe von jemand anderem.
Unsere Grenzen getreten habe.
Mich hinterhererklärt habe.
Unsere Gefühle abgesprochen.
Manipulation geglaubt.
Mir die Schuld gegeben.

Und trotzdem noch hier sitze und mich frage, was ich hätte anders machen können. Hätte mehr tun können. Weniger tun können. Ob meine Erklärung in einem zu wütenden Tonfall war. Ob nicht klar genug war, dass ich verletzt bin.
Vielleicht habe ich mich nicht genug in Stücke gerissen, nicht genug Worte gefunden für die Leere zwischen uns.

Sonntag, 12. Dezember 2021

#80: I can't see in this stormy weather,
I can't seem to keep it all together and
I can't swim the ocean like this forever.
And I can't
breathe.

Irgendwann neulich habe ich beschlossen, dass ich mehr über meine Probleme reden sollte. Weil ich mich so weit weg fühle von der Welt und nicht behandelt wie ein Mensch, sondern wie irgendeine Art von öffentlicher Persönlichkeit.
Als wäre ich nur positiv.
Vollkommen abseits der realen Welt.

Inzwischen sitze ich hier und frage mich, wie das überhaupt geht.
Meine Probleme sind viel zu abstrakt. Deshalb hatte ich in erster Linie damit aufgehört.
Vielleicht ist dafür Therapie da. Weil, dass ich Blyth vermisse, was soll dazu jemand sagen? Dass es eine bescheuerte Idee wäre, zurückzugehen? Ach.
Also existiert Blyth lieber nicht. Alle paar Wochen schreibe ich mal einen Blogpost über die Schwierigkeiten, die wir wegen ihm haben oder einen Brief direkt an ihn, niemand sagt irgendetwas dazu, ich verschließe den Raum in meinem Kopf wieder.
Es gibt nicht Mehr, das ich erreichen könnte.
Ich wünschte, irgendwer hätte uns geholfen in einer Situation, in der man uns noch hätte helfen können.
Ich wünschte, ich könnte irgendetwas verändern.
Aber was soll ich dazu sagen?
Mir fehlen Worte.
Es tut einfach weh, aber es gibt keine Beschreibung dafür.

Mir fehlen Worte für Anfang Oktober.
Manchmal haben wir Therapie und ich erwähne, dass Anfang Oktober
etwas
passiert ist.
Und wir reden nicht darüber.
Ich fühlte mich alleine, weil erst [ ] passiert ist und es mir schlecht ging und niemand nachgefragt hat, wie es mir geht oder ob sie irgendetwas machen können oder -
und dann sind wir krank geworden und es hat ebenfalls niemand nachgefragt,
vielleicht auch, weil niemand versteht, dass es einen Unterschied gibt zwischen 'eine dolle Erkältung haben' und 'eine chronische Lungenerkrankung und dann eine dolle Erkältung haben'.
Vielleicht hätte ich irgendwen anschreiben können,
hey,
ich fühle mich, als hätte ich die Pest, weil, ich hab zwar nicht Corona, aber jeder, der mich hört, geht davon aus und
hey,
ruru hat ein Problem mit lauten Geräuschen, also mit mir, ich bin ein lautes Geräusch und wie gehe ich eigentlich damit um, wenn die Person, die ich liebe, gestresst ist von meiner bloßen Existenz,
vielleicht wäre es dann verständlicher gewesen.
Aber man kann mir doch eh nicht helfen.
Und wenn ich sage, dass ich das Gefühl habe, als wäre mein Leben vorbei, dann ist das zu abstrakt, weil
was zur Hölle soll irgendjemand dagegen machen? Und wenn es nichts gibt, warum rede ich dann, was erwarte ich dann, was ich zurückbekomme?
Mehr als Nichts
kann man mir nicht geben, wenn von mir nichts kommt.

Es ist Anfang Oktober und ich habe keine Worte.
Es ist Anfang November und
vielleicht
sterbe ich.
Es ist Anfang Dezember. Vielleicht habe ich nur Depressionen, weil bald Weihnachten ist.
Wie war das letztes Jahr? Das Jahr davor? Ich erinnere mich nicht.
Es ist Anfang Oktober
und irgendjemand hat ein bisschen zu sehr nicht verstanden, was Trauma ist
und mein Leben ist in Scherben.

Und ich hab keine Worte
dafür
traumatisiert zu sein.

Freitag, 10. Dezember 2021

#79: richtige und falsche Systeme

Gestern hatten wir Therapie und ich bin immer noch wütend. Ich bin wütend, weil ich gefühlt die Hälfte meiner Zeit damit verbringe, mir von anderen Menschen, die über die DIS Bescheid wissen sollten (Fachpersonal, Therapeuten, andere Betroffene) unsere Existenz absprechen zu lassen. Wobei es natürlich selten um uns spezifisch geht, sondern um die „richtige“ Art und Weise, eine DIS zu erleben. Darum, wie es „immer“ ist. Und es ist einfach falsch. Es stimmt nicht.
Ich weiß nicht, ob unser Gehirn irgendwie total „besonders“ funktioniert oder ob einfach nur niemand darüber redet, weil sich alle, die es ähnlich empfinden, von der Welt kleingeredet fühlen, aber es ist mir wichtig darüber zu schreiben.
Jedes System ist anders. Ich wiederhole: Jedes System ist anders.

Konkret geht es um Folgendes:
Meistens ist es wohl so, dass irgendwann erkannt wird, dass jemand eine DIS hat, daraufhin erfährt dies der Host (oder das Alltagsteam) und kommt erstmal nicht damit klar. Denn erstmal ist es natürlich gruselig, dass da „andere Personen im eigenen Körper“ sind, die Dinge machen, an die man sich eventuell gar nicht erinnert. Und dazu kommt dann noch, dass die DIS-Diagnose ja bedeutet, dass man sehr viel Trauma in der Kindheit erlebt hat, an das man sich aber bisher ebenfalls höchstwahrscheinlich nicht erinnert hat. Und das ist schwer zu verarbeiten. Und was vermutlich noch schwerer ist, ist, wenn sich dann herausstellt, was vermutlich öfter passiert, dass jemand, zu dem man eigentlich ein gutes Verhältnis hatte, in Wahrheit ein Täter ist. Der einen missbraucht hat. Nur dass man sich eben nicht daran erinnert, sondern nur gute oder neutrale Momente mit dieser Person im Gedächtnis hat.
Unsere Psychologin hat es mit den Worten irgendeines DIS-Forschers, dessen Namen ich vergessen habe, beschrieben: im Endeffekt haben die Innenpersonen alle eine Art „Phobie“ voreinander, weil sich mit den anderen Innenpersonen zu beschäftigen auch bedeutet, mehr über das eigene Trauma zu erfahren und mehr Zugang zu den traumabedingten Gefühlen zu erhalten. Und erstmal ist das vor allem sehr schlimm. Und eventuell lehnt man die Innenpersonen ab und leugnet einfach direkt, dass man überhaupt eine DIS oder auch nur Trauma haben könnte. Weil es zu schlimm ist.
Und es ist absolut einleuchtend, dass viele Systeme das so empfinden würden.
Aber es ist einfach das komplette Gegenteil von allem, was wir jemals empfunden haben.
Und das macht uns nicht weniger ein System.
Es macht nicht, dass unsere DIS nur erfunden sein kann, weil wir nicht dem „Standard“ entsprechen oder weil es noch kein Fachbuch gibt, das über unsere Erfahrungswelt geschrieben hat.
Darüber kann man auch mal nachdenken. Wenn uns unsere DIS abgesprochen wird, weil wir sie nicht empfinden wie die anderen Systeme, von denen in Fachbüchern berichtet wurde... hm, woran könnte es dann liegen, dass in Fachbüchern nicht über Systeme berichtet wird, die die DIS empfinden wie wir? Es ist wirklich ein Mysterium. Ganz sicher liegt es daran, dass wir keine DIS haben. Einen anderen Grund könnte es niemals geben! /s
Nur so als Gedankenmaterial.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle berichten, wie wir (und damit meine ich übrigens konkret das Alltagsteam, weil es darum ja immer geht) unsere Diagnose und alles danach und davor empfunden haben.

Wir wurden im April 2015 mit einer PTBS diagnostiziert, nachdem wir Anfang 2014 aufgrund unserer ersten Beziehung sehr viele PTBS-Symptome „entwickelt“ haben (wir haben sie zum ersten mal so konkret wahrgenommen). Zu dem Zeitpunkt bestanden keinerlei Kenntnisse über irgendwelches Trauma. Es gab die Vermutung, dass wir irgendwann in der Kindheit mal vergewaltigt wurden eventuell (aufgrund sehr spezifischer Albträume mit diesem Inhalt) und die ziemliche Gewissheit, dass wir in unserer Kindheit von unseren Eltern vernachlässigt wurden, weil diese sehr stark mit unserer Schwester beschäftigt waren, die ständig im Krankenhaus war. (Vernachlässigungsbedingtes Trauma kommt sehr häufig bei Geschwisterkindern von chronisch kranken Menschen vor - und wir waren damals in einer Rehaklinik für chronisch kranke Menschen und deren Angehörige. Dort war das also bekannt.)
Wir hatten außerdem Amnesie für die ersten 14 Jahre unseres Lebens - das sprach also auch dafür (auch wenn es niemand „Amnesie“ genannt hat).
Das war auch die Zeit, wo wir erstmalig wahrgenommen haben, dass wir eine DIS haben, auch wenn wir natürlich absolut keine Worte dafür hatten oder auch nur wussten, dass so etwas überhaupt existiert. Aber es gibt mehrere Tagebucheinträge aus dieser Zeit, in denen Dinge geschrieben stehen wie „ich fühle mich, als wäre ich mehrere Personen“ und Ähnliches.
Nachdem dann später sogar einige Trauma-Erinnerungen hochkamen (von Missbrauch durch unsere Schwester) war somit klar, dass wir tatsächlich eine PTBS haben. Es war für jeden Psychologen klar. Es war für uns klar. Es wurde nie angezweifelt. Die einzige Frage, die blieb, war: „Warum haben wir Albträume von Vergewaltigungen, weil unsere Schwester uns geschlagen hat?“ Aber das haben wir dann auch irgendwie wegerklärt und es war somit gut.

Dann hat Blyth uns missbraucht.
Auch wenn ich nur ungefähr 5% der Erinnerungen des Missbrauchs hatte, war mir immer klar, dass die Beziehung, in der ich mich befinde, traumatisch ist. Mir war immer klar, dass Dinge passieren, die ich nicht will. Mir war nur nicht klar, dass es Missbrauch ist, weil ich dachte, dass Blyth nicht weiß, dass ich diese Dinge nicht will. Ich war nämlich nicht in der Lage, es vernünftig zu kommunizieren. Ich bin dageblieben, weil ich mir eingeredet habe, dass ich es eines Tages vernünftig kommunizieren können würde und sich dann alles ändern würde.
Ich bin nicht dageblieben, weil ich dachte, dass es normal ist, was passiert.
Mir war klar, dass ich Übergriffe erlebe.
Mir war klar, dass ich traumatisiert werde.
Am Ende haben wir die Beziehung beendet, weil wir nach zwei Jahren den Gedankengang hatten, dass er es vielleicht einfach nur nicht verstehen will (es also Missbrauch ist) und nach 2.5 Jahren die Gewissheit hatten, dass, selbst wenn es daran liegt, dass wir nichts kommunizieren können, es niemals besser werden wird. Ein Jahr später, nachdem ich gelernt hatte, meine Bedürfnisse etwas zu kommunizieren, habe ich mit Blyth geredet und ihm gesagt, dass er mich traumatisiert hat, auch wenn er das vermutlich nicht wollte, weil ich eben weiß, dass es nur daran lag, dass ich nicht gut kommunizieren konnte.
Ich war überzeugt davon, das würde ein totaler Schock für ihn sein.
Stattdessen hat er abgestritten, dass wir jemals zusammen waren. Ab dem Punkt war mir klar, dass es Missbrauch war und dass er es absichtlich ignoriert hatte, weil, warum zur Hölle hätte er sonst abstreiten sollen, dass wir zusammen waren. Ich war ja überzeugt davon, dass er das nicht gewollt hatte.

Ein Jahr später haben wir zufälligerweise mitbekommen, dass ein Freund von uns (mit dem wir nicht mehr viel Kontakt hatten) mit der DIS diagnostiziert wurde und haben uns ein paar Videos darüber angeschaut, weil wir gar nicht wussten, was das ist.
Und ich hab diese Videos geschaut und dachte nur: „Achso.“ - „Ach, das ist falsch bei mir.“
Und ab dem Punkt war klar, ich habe entweder eine DIS oder irgendetwas Ähnliches, das ich nicht kenne oder Wahnvorstellungen, dass ich eine DIS habe. Also bin ich zu unserem damaligen Therapeuten gegangen und er hat uns eröffnet, dass er die DIS schon seit Monaten als Verdachtsdiagnose hatte. Dann haben wir noch ein paar Fragebögen gemacht und geredet, aber im Endeffekt war schon vor der Diagnose sonnenklar für mich, dass wir eine DIS haben.
Weil, wir hatten ja schon jahrelang gewechselt und das auch wahrgenommen. Wir hatten ja sogar darüber gesprochen - deshalb hatte unser Therapeut überhaupt erst die Verdachtsdiagnose. Wir hatten eben einfach nur nie ein Wort dafür gehabt oder überhaupt gewusst, dass das eigentlich überhaupt geht, dass man nicht „eine Person“ ist. Ich bin dann einfach nur zu ruru hingegangen und habe ihm das mitgeteilt, weil ich dachte, das hilft bestimmt dabei, das andere Innenpersonen nicht die ganze Zeit das Gefühl haben, eine Rolle spielen zu müssen (also, die Melanie-Rolle).
Und so war es auch.
Und natürlich habe ich schon relativ früh gehört, dass eine DIS nur durch sehr viel Trauma in frühster Kindheit entstehen kann. Und natürlich dachte ich auch, weil ich mich eben nicht erinnert habe, wir wären die Ausnahme und unsere DIS wäre durch Vernachlässigung entstanden. Aber ich war trotzdem ziemlich offen damit, habe nach der offiziellen Diagnose dann auch allen unseren Freunden das mitgeteilt (zu dem Zeitpunkt waren mir dann auch schon fünf Innenpersonen oder so bekannt) und das hat relativ schnell ein Umfeld entstehen lassen, in dem es sicher war für andere Innenpersonen, rauszukommen und auch Dinge zu sagen.
Und so habe ich dann auch relativ schnell erfahren, dass da eben doch noch mehr Trauma ist und Kinderpornografiedings (wobei das erstmal nur eine Vermutung war) und dass unser Vater eben Täter war (also, so nach einem halben Jahr). Und es hat mich nicht überrascht, weil, es hatte ja seit fünf Jahren die Vermutung gegeben, dass da mal irgendwas mit Vergewaltigung in unserer Kindheit stattgefunden hatte, also war es nur so: „Hm, macht Sinn.“
Und unser Vater ist einfach ein schlechter Mensch. Also, wirklich. Niemand mag ihn. Wir hatten zu dem Zeitpunkt schon lange keinen Kontakt mehr. Wir hatten auch nie eine Bindung zu ihm. Es war absolut keine Überraschung, dass er Kinder missbrauchen würde. (Oder uns.) Es war so wenig eine Überraschung, dass unsere gesamte Familie es sofort geglaubt hat. Jeder Mensch, der unseren Vater länger kennt, würde ihm zutrauen, Kinder zu missbrauchen. Er ist wirklich das Gegenbeispiel zu, dass man nicht merkt, wenn jemand ein Täter ist. Er ist zwar immer zu jedem freundlich und so, aber man merkt einfach, dass es nicht ernstgemeint ist. Also, jedenfalls, wenn man etwas mehr Zeit mit ihm verbringt. (Ohne, dass er jemals jemanden missbraucht, ihm scheinen Menschen nur einfach komplett scheißegal zu sein.)
Und ähnlich war es, als ich irgendwann erfahren haben, was Blyth noch so alles gemacht hat.
Ich meine, mir war schon klar, dass Blyth uns missbraucht hatte. Es war jetzt nicht so die mega große Überraschung, dass er uns vergewaltigt hat. Oder andere Sachen.

Natürlich gab und gibt es auch Sachen, die ich erfahre, die mich schockieren. Über die wir größtenteils auch nicht reden, weil das eben spezifischer ist als „wir wurden missbraucht“ und andere Menschen könnten es gut benutzen, um uns zu triggern und eben selbst zu missbrauchen. Das will man dann nicht unbedingt öffentlich auf einem Blog stehen haben. Aber die Innenpersonen, die diese Erinnerungen haben, haben ja nicht gemacht, dass dieses Trauma existiert.
Das haben die Täter gemacht.
Und in meinem Kopf ergibt es einfach keinen Sinn, dass ich sie deshalb irgendwie ablehnen würde.
Ich meine, wenn das bei euch anders ist, dann wisst ihr ja, dass das keine Entscheidung ist. Es ist dann einfach so, dass man eben diese Innenpersonen ablehnt aufgrund des Traumas, das sie mit sich bringen und man kann nicht einfach entscheiden, dass es nicht so ist, selbst wenn man weiß, dass sie ja nicht Schuld daran sind, dass dieses Trauma existiert. (Man kann sich nur entscheiden, daran zu arbeiten.)
Deshalb weiß ich nicht, warum es so schwierig zu verstehen ist, dass es bei uns eben einfach nicht so ist. Wenn klar ist, dass es ohnehin keine Entscheidung ist, dann können ja auch beide möglichen Seiten existieren.

Die DIS hat für mich einfach keinen negativen Aspekt. Sie ist nur da, weil wir traumatisiert sind und das anders nicht auszuhalten war. Das Trauma ist schlimm - aber das wäre auch da, wenn wir keine DIS entwickelt hätten. Könnte ich die DIS aus meinem Nervensystem entfernen, dann hätte ich einfach tausende extrem schlimme Erinnerungen und Gefühle und mein Leben wäre einfach schrecklich und vorbei oder ich würde in einem konstanten Nebel aus vollkommener Dissoziation leben.
Und wenn andere Leute das anders empfinden und richtig heftige Probleme mit ihrer DIS-Diagnose haben, dann ist das fein, aber...
warum müssen wir irgendeinem „Standard“ entsprechen, damit unsere Diagnose richtig sein kann? Es ergibt einfach absolut keinen Sinn für mich.

Dienstag, 7. Dezember 2021

#78: Donut Hole II

Aufmerksame Leser werden mitbekommen haben, dass wir in unserer Freizeit gerne Liedtexte schreiben, beziehungsweise eher übersetzen (tatsächlich selbst schreiben nicht so super viel - Melodien und Liedaufbau sind kompliziert) und ich bin zwar grundsätzlich immer sehr stolz auf fast alles, was wir da so fabrizieren, aber wir trauen uns extrem selten, irgendwas davon zu veröffentlichen, weil, sobald das im Raum steht, geht es Innen so los: „Aber eigentlich ist das ja voll schlecht, diese eine Zeile ist nicht perfekt, also ist das ganze Lied eigentlich Müll, das will man ja echt nicht irgendwo öffentlich haben.“
In letzter Zeit haben wir versucht, ein bisschen mehr von dem, was wir so machen, (semi-)öffentlich zu machen und da wir gerade einen Text geschrieben haben, auf den ich extrem stolz bin (vor allem, weil wir das Lied vor drei Jahren schon mal versucht hatten und absolut nicht hinbekommen haben), dachte ich, das wäre doch mal ein geeigneter Zeitpunkt, um die Abwesenheit von Liedtexten hier zu ändern.
An der Stelle möchte ich trotzdem anmerken: falls irgendjemand Aufklärungstexte vermisst, von denen wird es immer weniger geben. Weil, wir haben ziemlich viele Themen, über die wir schreiben wollten, bereits durch, dann gibt es ein paar Texte, die aber gewisse Innenpersonen schreiben müssen/wollten, die selten draußen sind (demnach wird das noch dauern) und ab und zu tauchen natürlich mal neue Sachen auf und wir werden auch in Zukunft mal den einen oder anderen alten Text neu schreiben (weil wir inzwischen teilweise natürlich Sachen besser verstehen und erklären können), aber es wird eben nicht sonderlich viel sein. Demnach wird es viel mehr einfach um unser Leben gehen. Und zu dem gehören auch Liedtexte!

So, jetzt habe ich aber viel geredet. Das Lied, um das es geht, heißt 'Donut Hole', es ist von Hachi (so heißt der Produzent), aber es ist ein Vocaloid-Lied „von“ Gumi ... ich weiß die korrekten Begriffe da nicht, wir hören eigentlich kaum Vocaloid. Wir kennen nur das Lied von einer Cover-Sängerin und fühlten uns dem Text sehr verbunden.
Die Original-Version (mit englischen Untertiteln) ist im letzten Post verlinkt, also verlinken wir an dieser Stelle mal eine wunderschöne, langsamere Cover-Version.

Woher kommen plötzlich diese Bilder, die
sich vollkomm' unerwartet durch meine Gedanken zieh'n?
Das ist nicht mein Leben, oder? Kann es sein,
dass dieses eine Bild mir irgendwie nicht fremd erscheint?

Versuch's nochmal, noch hundert mal, doch
bloß ein Gesicht erscheint in meinem Kopf.
Keine Informationen, nichts, niemand an
den ich mich durch dieses Bild wieder erinnern kann.

Um den Erdball laufen Schienen, die
es immer schneller weiter Richtung Morgensonne zieht.
Jedoch brauchen wir diese nicht auf der Jagd
nach unseren Wünschen, immer weiter dem Mondschein nach.

Versuch's nochmal, noch tausend mal, doch
bloß dein Gesicht erscheint in meinem Kopf.
Regen vermischt sich mit den Tränen, die ich
plötzlich weine, denn ob du überhaupt lebst weiß ich nicht.

Irgendwo tief in mir fühle ich, dass du mir nie
böse wärst, dass ich mich an nichts erinnere von dir.
Trotzdem raubt es mir Schlaf. Fast kann ich hör'n wie du lachst.
Doch wie ein Traum entgleitet mir, was ich verloren hab.

Ich zähle, was ich fühle. Ich liste es auf.
Nur so begreife ich, dass ich nicht weiß, ob ich 'Wärme' je gespürt hab.
„Leb wohl, niemals wieder werden wir uns seh'n.“
Zumindest ist das, was ich denke; ein Gefühl, das in mir nachhallt.
„Warum kann ich nicht lächeln?“ ist die Frage, die mich zerreißt.

Mein Leben fühlt sich wie ein Donut an:
ein Loch, in dem nichts fehlt, das ich je beweisen kann.
Niemand kann sagen, ob dort jemals war,
was ich jetzt sehe, denn du fehlst nicht, du bist nur nicht da.

Versuch's nochmal, noch hundert mal, doch
bloß dein Gesicht erscheint in meinem Kopf.
Eine weit're Nacht find ich keinen Schlaf,
gefangen frag ich mich, wo du in meinem Leben warst.

Kann es wirklich so sein, dass manchmal nichts mehr verbleibt?
Wartet man ewig bis man feststellt, dass sich nichts je zeigt?
Diese Hoffnung werd ich aus meinem Leben verbann,
stattdessen such ich etwas, was das Loch in mir füll'n kann.

Ich zähle, was ich fühle und was ich vergaß.
Nur so begreif ich: ich weiß nicht, ob ich deine Stimme je gehört hab.
„Leb wohl, niemals wieder werden wir uns seh'n.“
Zumindest ist das, was ich denke; ein Gefühl, das in mir nachhallt.
„Warum kann ich nur weinen?“ ist die Frage, die mich zerreißt.

War irgendwas von dir jemals wirklich real?
Das Loch in meinem Herzen schreit mich an, die einzige Stimme, die „Ja“ sagt.
Wenn nichts dort existiert hat, warum ist es dann leer?
Mein Herz in Scherben, es verbleibt nichts, man kann nicht zu Nichts zurückkehr'n.

Ich zähle, was ich fühle. Ich liste es auf.
Nur so begreife ich, dass ich nicht weiß, ob ich 'Wärme' je gespürt hab.
„Leb wohl, niemals wieder werden wir uns seh'n.“

Dennoch erreicht mich ein Gedanke, nur ein Wort, das in mir nachhallt,
ich öffne meine Augen für die Hoffnung, die mich antreibt,
Hoffnung, die mich antreibt, Hoffnung, die mich antreibt.

„Ich erinnere mich, du heißt -“

Montag, 6. Dezember 2021

#77: Donut Hole

Irgendjemand hat gesagt, was du gemacht hast, war okay, weil es mir hoffentlich gezeigt hat, dass man „Menschen im Internet“ nicht einfach so vertrauen kann, dass ich hoffentlich weniger naiv geworden bin, dass sie dasselbe bei ihrer Schwester in kleiner gemacht hat; das sei ein Liebesbeweis in dem Fall, weil sie in Kauf genommen hat, ihre Schwester zu verletzen, damit es niemand anders viel mehr tut.
Dass das nicht stimmt, weiß ich. Liebe kann nie eine Rechtfertigung für irgendetwas sein; erst recht nicht dafür, jemanden absichtlich zu verletzen, weil man selbst entschieden hat, dass das so besser für die Person ist. Das ist Täter-Dynamik. Man kann niemanden beschützen, indem man ihn verletzt. Das ist bloß Rechtfertigung des eigenen Missbrauchs.
Ich weiß das. Es war nur irgendeine fremde Person, mit der ich nichts zu tun habe.
Es fühlt sich an, als hätte jemand mich in tausend Teile zerschlagen.

Dass du nicht existierst, verschwindet nicht. Ich dachte, ich fühle dazu nichts mehr. Ich hab dich nicht mehr erwähnt - warum auch? Es fühlte sich nie wichtig genug an. Deine Nicht-Existenz macht nicht mehr, dass ich Wahnvorstellungen bekomme, jedes mal, wenn jemand mich verletzt. Ich suche dich nicht mehr in jedem falschen Wort einer anderen Person.
Aber es war nicht gut, dass du passiert bist. Es hat einfach nur wehgetan. Vielleicht tut es auch immer noch weh - vielleicht tut es nur jetzt weh, weil irgendjemand sich herausgenommen hat, zu entscheiden, dass so eine Situation jemals positiv sein könnte. Dass man das Menschen antut, als gute Lernmethode. Ich weiß es nicht.

Du existierst nicht. Es ist das Ungreifbarste, was jemals in meinem Leben war.

Ich zähle, was ich fühle und was ich vergaß.
Nur so begreif ich: ich weiß nicht, ob ich deine Stimme je gehört hab.
„Bye Bye, niemals wieder werden wir uns seh'n.“
Zumindest ist das, was ich denke; ein Gefühl, das in mir nachhallt.
„Warum kann ich nur weinen?“, ist die Frage, die mich zerreißt.

War irgendwas von dir jemals wirklich real?
Das Loch in meinem Herzen schreit mich an, die einzige Stimme, die 'Ja' sagt.
Wenn nichts dort existiert hat, warum ist es dann leer?
Mein Herz in Scherben, es verbleibt nichts,
man kann nicht zu Nichts zurückkehr'n.

[Übersetzung von uns. Original: Hachi.]

Donnerstag, 2. Dezember 2021

#76: Missbrauchsschleifen

Wir hängen in einer Missbrauchs-Schleife fest.
Wir werden nicht missbraucht, aber wir ignorieren jede Woche unsere Bedürfnisse.
Seit Tag 1 der Ergotherapie, wo es hieß, dass wir keine Therapie machen und nicht über Trauma reden, aber dann komplett über unseren Extherapeuten ausgefragt wurden, ob wir ihn angezeigt haben, wie er heißt, was alles passiert ist, wusste ich, dass unsere Grenzen mit Füßen getreten werden. Es hieß zwar „Sie müssen nicht darüber reden, wenn Sie nicht wollen“, aber es hieß auch:
„Also möchte Ihre Therapeutin Arbeit abgeben“, als hätten wir selbst keine Entscheidungsfreiheit.
Es hieß auch: „Oh, so akut ist das noch.“
Als wäre Trauma jemals nicht akut.
Warum sind wir nicht sofort gegangen?
Ich habe in mir selbst gerechtfertigt, dass ich das schon ansprechen werde, dass das so nicht geht, dass man solche Fragen nicht an Tag 1 stellt, dass wir sehr wohl über Trauma reden und Therapie machen, denn an jedem Ort, den wir besuchen, an dem ein:e Therapeut:in irgendeine Art von Machtposition hat, findet Traumatherapie statt.
Es findet so viel Angst statt.
Blyth ist überall.
Wir können es nicht totschweigen.
Aber irgendwie hat die Überraschung darüber, dass es uns so doll belastet, alle Worte zerschlagen.
Als könnte man einfach von seinem TherapeutenErsatzvaterFreund-Waszurscheißeauchimmer vergewaltigt werden und vier Jahre später wäre es einfach vorbei.
„Wir reden nicht über Trauma.“
Wir reden nicht über Übergriffe.
Denn Übergriffe sind böse.
Und sie finden bestimmt nicht hier statt.
In diesem traumafreien Raum.

„Wir reden hier nicht über Trauma.“
Stattdessen werde ich gefragt, ganz beiläufig, ob Corona eigentlich belastend für mich ist, so als Risikogruppe. Normalste Frage der Welt. „Hey, wie fühlt es sich eigentlich so an, in Lebensgefahr zu sein?“
Aber Trauma? Das hat hier keinen Platz.
Dass ich am meisten Angst vor den Tests habe, habe ich gesagt. Ich habe, aus Traumagründen, ein so heftiges Problem mit Stäbchen in irgendwelchen Körperöffnungen. „Also, wir lassen uns hier ja regelmäßig testen in der Praxis. Ich kann Ihnen versichern, das ist überhaupt nicht schlimm und tut auch überhaupt nicht weh, zumindest die Schnelltests.“
Gaslighting.
Denn es ist schlimm.
Es ist Trauma.
(Das hier nicht existiert.)
So verdammt viel davon.
(Aber darüber reden wir nicht.)
Und es ist eine Lüge. Es tut weh. Wir haben einen Test gemacht, vor vier Wochen.
(Und davor, danach und am nächsten Tag auch noch geweint.)

Wir wurden angelogen.
Denn am Telefon habe ich gesagt, dass wir eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung und eine dissoziative Identitätsstörung haben und deshalb gerne Ergotherapie möchten.
In der Praxis arbeiten drei Personen mit DIS-spezifischen Fortbildungen.
Dass wir bei keinem davon gelandet sind, ist okay.
Aber: es wurde nie kommuniziert. Ich hab in der ersten Stunde nochmal die DIS erwähnt. Und in jeder Stunde danach. Und es wurde nie gesagt: „Um ehrlich zu sein, ich kenne mich damit nicht so gut aus.“
In jeder Stunde habe ich andere Innenpersonen erwähnt. Weil wir wir sind. Und nicht ich. Und das wichtig ist. Und es Alltag ist. Und nicht einmal wurde gefragt: „Was genau ist eigentlich gemeint mit 'Innenpersonen'?“
Also nahm ich an, es wäre klar. Auch wenn ich uns nie als System gesehen fühlte. Ich dachte, das liegt daran, dass ein Bewusstsein darüber existiert, dass das teilweise schwierig für Alltagspersonen sein kann. Und dann habe ich erwähnt, dass ich in meinem Kopf mit anderen Innenpersonen rede. Und es wurde gefragt, ob das eine Psychose ist.
Und ich versteh nicht, ich versteh wirklich nicht, warum ich nicht aufgestanden und gegangen bin. Denn niemand von uns ist eine Halluzination. Das weiß man, wenn man sich mal fünf Minuten lang damit beschäftigt hat, was eine DIS ist.
Wir haben Ergotherapie seit Anfang Oktober.
In zwei Monaten waren wir nicht fünf Minuten wert.

Vielleicht kann man sich darüber streiten, ob es eine Lüge ist, etwas nicht zu sagen. Oder davon auszugehen, dass es nicht wichtig ist. Oder generell einfach nicht klar zu kommunizieren. Bestimmt sogar.
Aber in jedem Fall ist es ein Vertrauensbruch.
Nicht zu verstehen und trotzdem nicht zu fragen, als Therapeut.
Weil man denkt, dass man Dinge weiß - das unterstelle ich -,
von denen man absolut keine Ahnung hat.

Es ist glasklar offensichtlich für mich, dass wir nicht gut behandelt werden.
Und ich komme nicht weg.

Dienstag, 30. November 2021

#75: traumafreie Räume

[Das ist ein Brief an unsere Ergotherapeutin, zumindest so halb, also bitte nicht von den ganzen negativen Sätzen angesprochen fühlen.]

"Wir reden hier nicht über Trauma", ist ein Satz, der immer wieder all unsere Grenzen verstummen lässt. Es gibt keinen traumafreien Teil unseres Lebens, der uns in einem traumafreien Raum existieren lässt. Wir sind nicht traumafrei. "Wir reden nicht über Trauma" heißt immer auch:
Wir reden nicht darüber, wenn es euch schlecht geht.
Wir reden nicht darüber, wenn euch etwas triggert.
Und ganz vorne immer mit dabei: wir reden nicht über und vor allem nicht mit traumatragenden Innenpersonen.
Es verbietet uns jeden Satz über unsere Innenwelt, der unseren Mund verlassen könnte.
Denn ich kann nicht sagen, dass ich, seitdem unsere Lungenfunktion in den Keller gefallen ist, total Angst vor Corona habe. Denn dann müsste ich ja sagen, dass ich am meisten Angst vor Corona habe, weil ich dann einen Test machen müsste. Und dann müsste ich ja sagen, dass mich jegliche Tests mit Stäbchen in irgendwelchen Körperöffnungen am allermeisten von allen Dingen auf der Welt triggern. Und dann reden wir plötzlich doch über Trauma.
Aber hier ist ja kein Platz dafür.
Also reden wir lieber gar nicht.
Auch nicht darüber, dass der Satz deshalb übergriffig ist, denn das wäre über Trauma zu reden. Denn es ist ja nur übergriffig, weil wir nicht ganz sein dürfen in einem Raum. Weil wir nicht traumafrei sind.
Und ohnehin, das letzte mal, als wir gesagt haben, dass Stäbchentests uns unglaublich doll triggern, wurde uns gesagt: "Aber die sind ja wirklich nicht schlimm, die tun überhaupt nicht weh."
Von der Ergotherapeutin.
Das kann sie sagen, in ihrem traumafreien Raum, weil sie nicht in dem Raum sein musste, wo wir unsere gesamte Kindheit lang alle drei Monate von Pflegepersonal festgehalten wurden, während irgendjemand unseren Mund aufhalten musste, damit irgendein Arzt uns gewaltsam ein Stäbchen in den Rachen schieben konnte. Wo niemand je gefragt hat, warum wir das eigentlich so schlimm finden, obwohl es ja gar nicht wehtut.
Vielleicht wollten wir nur einfach nicht noch mehr oral vergewaltigt werden.

"Wir reden hier nicht über Trauma" ist auch meistens gar nicht der Satz, der überhaupt gemeint ist. Denn Menschen, die wirklich nicht über Trauma reden wollen, verschwinden aus unserem Leben. Das können wir nicht bieten. Eine traumafreie Sprache. Die einzige Grenze, die jemals funktionieren kann, ist gar nicht mit uns reden. Oder jedenfalls über nichts wichtiges.
"Wir reden hier nicht über Trauma" heißt oft viel eher:
Wir reden nur über Trauma, wenn ich eine Frage über euer Leben stelle.
Aber sonst bitte nicht. Und lass die Innenkinder im Innen. Die haben hier wirklich nichts zu suchen. Die sind viel zu anstrengend, haben zu viel Flashbacks und zu wenig Worte und vor allem viel zu viel Trauma für diesen unbefleckten Ort.
"Aber du scheinst das ja gut unter Kontrolle zu haben."
Keine Pluralpronomen, kein einziges mal.
Denn diese Stimmen im Kopf. "Die sind psychotisch, oder?"

Nein. Die sind: wenn Sie nicht die Dreistigkeit besäßen, jemanden mit einer DIS zu behandeln ohne zumindest anzumerken, dass Sie offensichtlich absolut keinen blassen Schimmer über diese Traumafolgestörung zu haben, wüssten Sie die Antwort.
Die sind: was mich vor übergriffigen Menschen wie Ihnen beschützt, danke.
Denn scheinbar war es ja wichtiger, uns darüber auszufragen, dass Blyth uns vergewaltigt hat, als mal in Erfahrung zu bringen, warum wir eigentlich immer von 'wir' reden - im Plural. Und es war wichtiger mal so beiläufig zu fragen, ob wir ihn eigentlich angezeigt haben, als mal in Erfahrung zu bringen, was eigentlich mit 'Innenpersonen' genau gemeint ist. Und es war scheinbar auch wichtiger, unsere Gefühle im Bezug auf Trigger kleinzureden, als sich mal eine Sekunde lang selbst zu fragen, was eigentlich passiert sein muss, dass jemand mit 57% Lungenfunktion mehr Angst vor einem Stäbchen hat als davor, an Corona zu sterben.

Freitag, 29. Oktober 2021

#74: Die wichtigste Frage

(CN: relativ grafische Benennung von Traumadetails.)

„Habt ihr euren Therapeuten eigentlich angezeigt?“, fragt irgendjemand, schon wieder; zum wievielten mal kann ich lange nicht mehr zählen. Unserer Ex-Psychologin habe ich vorgeworfen, was ich insgeheim jedes mal unterstelle: der Gedankengang von 'aber es ist eure Aufgabe, dass er seine Position nicht weiter ausnutzt'. Ob bewusst oder unbewusst zu dieser Frage führend, spielt keine Rolle.
„Er arbeitet nicht mehr in seinem Beruf“, rede ich Menschen oft gut zu. „Nein, wir haben ihn nicht angezeigt, weil wir erst zu spät verstanden haben, dass es überhaupt Missbrauch war“, verteidige ich mich regelmäßig.

„Ich hab das nur gefragt, weil ich wissen wollte, was der Stand der Beziehung ist“, hat unsere Ex-Therapeutin beteuert. Ich glaube ihr, dass sie niemals bewusst uns die Verantwortung für alles, was er noch machen könnte, geben würde. Das glaube ich generell, bei jedem Menschen. Und trotzdem weiß ich: niemand fragt jemals, ob wir unseren Vater angezeigt haben. Alleine das spricht Bände.

Manchmal denke ich, dass ich einfach jedes mal mit „Was zur Hölle geht dich das bitte an?“ reagieren sollte. Denn ja: was zur Hölle geht es Menschen an? Ob wir schon in einem Gerichtssaal sitzen und uns retraumatisieren lassen durften. Was an unserem nicht existenten Verhältnis verleitet sie dazu, sich einzubilden, das wäre überhaupt eine angemessene Frage?
Aber dann denke ich mir, dass ich Menschen nicht für Neugierde bestrafen möchte. Das ist es doch nur. Eine harmlose Frage. Ein kurzes 'Nein'. Oder selbst ein 'darüber möchte ich nicht reden'.
Aber ich möchte darüber reden. Ich möchte darüber reden, dass es alles ist, was jeder jemals wissen möchte. Nichts anderes interessiert Menschen an dem Verhältnis zwischen uns und Blyth. Nichts anderes fällt ihnen ein zu Schreiben oder Sagen, wenn wir unser Herz nehmen und es in irgendeinen Blogpost oder eine Therapiestunde quetschen. „Und, habt ihr euch schon so richtig schön retraumatisieren lassen?“

„Habt ihr schon mehreren, fremden Leuten erzählt, wo genau er, an welchem Datum, zu welcher Uhrzeit, genau seinen Penis an oder in euch hatte, wie oft er eure Hände festgehalten hat, um euch zu was genau, im Detail, zu zwingen, wie oft er euch wo genau gebissen hat und wann, wie oft ihr Nein gesagt habt, nur um euch sagen zu lassen, dass es kein Missbrauch ist, wenn ihr nicht wenigstens dieses Wort in den Mund genommen habt und dass ihr es ohnehin so wolltet und schön fandet?“
„Habt ihr euch schon euren hochoffiziellen Brief vorhalten lassen, in dem ihr beteuert habt, dass an den Gerüchten, dass er mit euch zusammen ist, definitiv nichts dran ist, dass es eine Frechheit ist, dass jemand so weit gehen würde, so etwas zu lügen, wo ihr betont habt, dass euer Verhältnis zu ihm definitiv rein familiär ist?“

Das alles fragt ihr und mehr.
Herzlich Willkommen in der Welt von Anzeigen, wo man jedes kleine Detail chronologisch irgendwo hinkotzen muss, um sich dann erneut zerstückeln zu lassen. Nein, wir sind noch nicht in den Genuss gekommen. Vielen Dank der Nachfrage.
Ich hoffe, dass jeder, der uns das schonmal gefragt hat (es sei denn, wir sind voll gut befreundet), darüber nachdenkt, ob diese Frage wirklich so wahnsinnig wichtig ist. Und wenn ja, warum. Vielleicht könnt ihr dann aufhören, andere Menschen dasselbe zu fragen. Es geht euch einfach schlichtweg nichts an. Es hat keine Relevanz. Nicht für euch.

Dienstag, 19. Oktober 2021

-

Ich möchte nicht in dieser Welt sein,
wo ich schreie

und schreie
und schreie

und es kommt nie
irgendetwas
zurück

Dienstag, 12. Oktober 2021

#73: aushalten

Wir müssen nichts aushalten. Das verstehen wir immer extrem spät.
2019 hatten wir einen Plan gemacht: wir ziehen in rurus Nähe, machen da Therapie, nach fünf Jahren der so ziehen wir zusammen, wenn es eben geht.
Aber nach 1.5 Jahren in Hamburg wohnten wir neulich eine Woche lang in rurus Wohnung, während er weg war und es war so unglaublich schön leise. Erst da wurde uns bewusst, wie sehr Hamburg uns eigentlich belastet. Es ist hell, es ist laut und es ist voll. Wir wohnen am Rand, im Dorfbezirk, der Teil der Stadt, wo Leute uns fragen „gehört das überhaupt noch zu Hamburg?“ Aber es wird trotzdem niemals Nacht. Die ganze Stadt lebt in der Dämmerung. Man kann nicht mit Sonnenuntergang schlafen gehen und mit der Sonne aufwachen, weil das Licht nie weggeht. Man muss es aussperren. Die Welt aussperren. Alle Fenster schließen, weil man sonst durchgängig Autos und Menschen hört, selbst nachts.
Es ist so voll, dass wir nie überfordert im Weg stehen bleiben können, um eine halbe Minute lang durchzuatmen. Man steht sofort immer irgendjemandem im Weg. Es geht nicht.
Natürlich sind unsere Nachbarn nicht repräsentativ für Hamburg. Natürlich macht es den Aufenthalt schlimmer, wenn man ständig Kinder schreien hört, die (vermutlich) missbraucht werden und absolut nichts dagegen machen kann, weil man schon die Polizei und das Jugendamt und die hamburgische Kindermissbrauchspolizei angerufen hat und die Polizei eh jede Woche vor der Tür steht. Es ändert sich nichts. Dass das Jugendamt da ist, merkt man nur daran, dass vor der Tür aufgeräumt wird.

Neulich habe ich ruru angefleht, dass er mit uns zusammen zieht. Damit wir hier weg können. Es ist nicht aushaltbar an einem Ort, an dem man psychische Zusammenbrüche bekommt, weil der Akku von den Noise Cancelling Kopfhörern leer ist. Die wir vor Hamburg nicht mal brauchten. Die wir uns nur gekauft haben, um irgendwie hier klarzukommen.
Aber ich will nicht scheiße und manipulativ sein und ruru möchte und kann nicht mit uns zusammen ziehen. Im Endeffekt geht es uns ja auch nicht schlecht, weil wir alleine wohnen, sondern weil wir hier wohnen.
Die letzten Wochen haben wir jeden Tag geweint. Weil wir so sehr grundleveldissoziiert sind. Natürlich ist ein Teil davon auch die begonnene Therapie. Aber ein Teil davon ist auch einfach seitdem wir hier sind, immer schlimmer. Ich dachte erst, es liegt an Corona, dass wir immer weniger fühlen, dass immer mehr alles egal wird. Aber mittlerweile glaube ich, das ist es vielleicht gar nicht, weil, es hat sich ja nichts verändert. Wir sehen sogar öfter Menschen, seitdem wir hier sind. Wir waren schon vorher sozial isoliert.
Was wir vorher nicht waren ist durchgängig reizüberflutet. Das ist vollkommen unbekannt - wir haben nie in einer Stadt gelebt. Selbst wenn ich sage, wir sind in Hannover aufgewachsen, meine ich damit ein kleines Dorf zehn Kilometer vor der Stadt.

Und dann lagen wir neulich weinend, komplett reizüberflutet in unserem Bett, weil mal wieder der Akku von unseren Kopfhörern leer war, und wollten einfach nur mal wieder schlafen, also, so, dass man sich danach nennenswert besser fühlt, was wir, seitdem wir hier wohnen, vielleicht alle zwei Wochen mal haben und früher beinahe jeden Tag. Und dann fingen unsere Nachbarn mal wieder an, eine Party zu schmeißen.
Und ich hätte die Polizei rufen können. Und dann hätte ich der Polizei auch gleich das kleine Heftchen geben können, wo wir jede Ruhestörung mit Uhrzeit und Art dokumentieren. Vielleicht würde das ja mal irgendetwas ändern. Aber es ging nicht. Es war zu viel. Unser gesamtes Leben. Aber plötzlich wurde mir klar: wir müssen das nicht aushalten.
Wenn es wirklich, wirklich nicht geht, können wir einfach wegziehen.
Natürlich wäre das finanziell eine grauenvolle Entscheidung, wir würden wieder ein halbes Jahr lang überhaupt erstmal nach einer Wohnung suchen, wenn nicht länger, danach müssten wir Sozialhilfe neu beantragen, unsere Therapeutin wäre plötzlich wieder 1.5 Stunden Fahrzeit weg und nicht 15 Minuten. Jeder Umzug ist Stress und dieses mal könnten wir nicht mal wirklich mithelfen.
Aber es wäre eine Möglichkeit.
Wir müssen nicht 3.5 Jahre hier bleiben.
Jede Situation, die einfach wirklich nicht aushaltbar ist, können wir mittlerweile ändern.

Donnerstag, 30. September 2021

#72: Trauma: Therapie VI

Mittlerweile sind wir seit sechs Wochen in Therapie und ich habe immer noch keine Ahnung, was Therapie eigentlich sein soll. Es fühlt sich dieses mal nicht an, als würden wir auf einer vollkommen anderen Sprache mit der Therapeutin kommunizieren, aber verstehen tue ich es trotzdem nicht.
Wir reden über Dinge. Traumadinge, Würfel, Gehhilfen, unsere Familie, Selbstreflexion, Schmerzen, Kommunikation, was auch immer. Ich komme nicht nach Hause und es geht mir beschissen. Es ist einfach da. Wir haben eh den ganzen Tag nichts zu tun, also können wir genauso gut da hingehen.
Aber ich versteh nicht, wie das helfen kann. Wenn wir einfach nur reden. Über Dinge, die so oder so ähnlich schon mehrfach aufgeschrieben, gedanklich durchgegangen und an anderer Stelle ausgesprochen wurden. Wir hatten schon mehrfach Therapie und die war immer viel lösungsorientierter und man konnte innerhalb von weniger als einem Monat schon merken, dass es etwas bringt. Während es gerade sich anfühlt wie … yay, wir können über Dinge reden. So wie schon zehntausend mal. Seit neun Jahren. Mit unseren Freunden.
Es fühlt sich an, als wäre Therapie einfach nur bezahlte Gespräche für Leute, die keine Freunde haben.

Ich hab schon schon mehrmals gefragt. Was Therapie eigentlich ist oder sein soll. Dann bekommen wir ganz viele Worte und in unserem Kopf ergeben sie so wenig Sinn, dass wir sie nicht mal behalten können.
Wir haben auch schon beschrieben, was wir im Kopf haben, wenn wir an Therapie denken: eine Anleitung. Man versucht, Probleme zu lösen, die man hat und der Therapeut ist dafür da, Vorschläge zu machen, was man ausprobieren könnte. Man analysiert also erstmal, was das konkrete Problem überhaupt ist, dann probiert man verschiedene Dinge aus, um es zu lösen und analysiert dann, was und warum diese (nicht) geholfen haben.
Aber momentan ist es so, dass wir Probleme ansprechen und in der nächsten Sitzung ist es, als hätten wir nie darüber geredet. Ich bekomme das Gefühl, dass davon ausgegangen wird, wir haben darüber geredet, jetzt werden wir es schon auf magische Weise selber lösen können - oder dass es durch das Gespräch alleine schon gelöst wurde. Aber ist es nicht - sonst könnten wir uns genauso gut selbst therapieren. Und es nochmal ansprechen fühlt sich auch nicht sinnvoll an, weil ja schon das letzte mal absolut nichts passiert ist, was auch nur ansatzweise irgendwie hätte hilfreich gewesen sein können.

Und natürlich ist gerade eine Kennenlernphase - darum hatten wir explizit gebeten. Aber ich muss wissen, dass danach Mehr ist. Dass es einen Mehrwert hat, dass wir jede Woche an einen Ort gehen, vor dem das gesamte System Angst hat. Und dass wir nicht nur Gespräche führen, die wir genauso auch an anderer Stelle, in einer sicheren Umgebung, hätten haben können.

Ich kann nicht ausdrücken, wie verzweifelt ich bin. Ich kann kein einziges Wort finden, das ansatzweise beschreibt, wie verloren ich mich fühle.
Uns haben schon mehrere Leute mitgeteilt, dass die Therapie bei ihnen am Anfang genauso war. Dass es monatelang normal war, nicht zu verstehen, was irgendetwas davon bringen soll und dann hat sich das plötzlich geändert. Aber ich bin auch ehrlich mit uns selbst. Wenn wir monatelang da hingehen und nicht verstehen, warum das irgendwas bringen soll, während wir konstant Panik schieben, dass die Psychologin gerade eigentlich nur versucht, uns mental irgendwie kaputtzumachen, damit sie uns missbrauchen kann, brechen wir die Therapie wahrscheinlich einfach ab. Oder rennen direkt zu Blyth zurück - bei dem hatten wir dieses Problem nämlich nicht.
Das Gefühl, dass einem niemand so gut helfen kann wie der Typ, der zwei Drittel des Systems verursacht hat, ist beschissen. Vor allem, weil ich weiß, dass es nicht so sein muss. Weil wir ein zweites mal Therapie hatten, die geholfen hat, und da haben wir das auch innerhalb von einem Monat gemerkt.

Warum Therapie nicht einfach sein kann, was wir wollen, verstehe ich nicht. Warum es nicht so einfach sein kann, dass wir beschreiben, was wir brauchen und dann wird es einfach angenommen und umgesetzt.
Unser Gehirn hängt sich an dieser Frage auf. Seit sechs Wochen ist es eine klebrige, breiige Masse. Wir bekommen keinen einzigen Gedankenstrang zu Ende gedacht. ruru musste uns helfen diesen Text zu schreiben. Es ist zu viel. Es ist einfach nur unendlich verwirrend. Ich bin nicht intelligent genug, um dieses Level von Unverständnis nachvollziehen zu können. Es fühlt sich an, als würde mein Gehirn an meinen eigenen Worten explodieren.

Mittwoch, 25. August 2021

#71: You want a battle? Here's a war.

Er hat gesagt, er wird uns verkaufen, schreit es in mir. Zusammen mit Wir hätten nichts sagen dürfen. Wir hätten nicht laut sein dürfen.
Er weiß gar nicht, wo wir wohnen, flüstere ich zurück. Es ist alles in Ordnung. Wir sind in Sicherheit.
Unsere Psychologin sagt, dass wir ein (kleines) Trauma erlebt haben. Und ich spüre es selber. Wie ich bei jedem Geräusch zusammen zucke, jeden Schatten drei Sekunden zu lange anstarre. Die Welt, die nur ein Stück weiter entfernt zu sein scheint, die Erinnerung, die viel zu schnell viel zu weit weg rückt, die Wachsamkeit.
Aber ich fühle mich nicht traumatisiert. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich, als wäre ich in der Welt angekommen.
Ich habe geschrien, wiederhole ich fassungslos in meinen Gedanken.
Mir wurde geholfen, mit jedem Herzschlag.
Er hatte Angst vor mir.
Er. Hatte Angst. Vor mir.
Wie jemand wollte, dass ich Angst vor ihm habe und ich
zum ersten Mal
die Macht an mich zurückgerissen habe,
hinterlässt ein Gefühl von Sicherheit in der Welt.
Ich werde nie die unumstößliche Sicherheit fühlen, mit der andere Menschen durch die Welt gehen, dass ihnen niemals etwas schlimmes passieren wird. Vermutlich werde ich die spezifische Androhung von Zwangsprostitution nie ganz so einfach wegstecken können. Es wird immer schlimmer sein als jedes Ich bringe dich um jemals sein könnte. Aber ich kann mich wehren. Ich muss nicht mehr machtlos sein. Meine Stimme, mein Körper, mein Leben gehört mir.
Und egal,
wie sehr ein Teil von uns immer noch Blyth gehört,
meine Stimme kann niemand mir mehr nehmen.

23. August 2021, 17.00, Hamburg. Wir sind zusammen mit einem Freund im Bus, ich sitze auf einem der Behindertenplätze, er steht neben mir. Dass wir zusammengehören ist nicht sofort ersichtlich, weil wir gerade nicht reden. In Altona steigt ein Mann ein, setzt sich in die Sitzreihe rechts neben mir und fängt ein Gespräch an. Als er den Gehstock, den ich seit 1.5 Wochen besitze, kommentiert mit „ich hatte auch mal einen Krükstock, allerdings mit einer Schusswaffe drin“, fange ich an, ihn zu ignorieren. Zwar textet er mich weiterhin zu, ich antworte ihm allerdings nicht mehr und schaue ihn auch nicht mehr an. Irgendwann streichelt unser Freund unterstützend meine Schulter. Daraufhin fängt der Mann an, ihn zu beleidigen. Über meinen Kopf fliegt der Inhalt eines beliebigen Gangster-Rap-Lieds, gepaart mit Ich schlag dich zusammen und Ich bringe dich um. Ich sitze da, ein Stück mehr dissoziiert, mit stetig mehr Angst in meinem Körper und vor allem unsicher, was zur Hölle ich tun soll. Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass er nicht mitten im Bus anfangen wird, jemanden zusammenzuschlagen. Aber falls doch, wird diese Person, wenn ich irgendetwas sage, höchstwahrscheinlich ich sein. Dass wir irgendwann aus dem Bus aussteigen und er dann jemanden zusammenschlagen könnte, kommt in meinen Gedanken gar nicht vor. Dass der Busfahrer eine Telefonanlage hat, mit der er die Polizei zur nächsten Haltestelle rufen kann, auch nicht.
Irgendwann beleidigt der Mann unseren Freund dafür, dass er „seine Freundin“ nicht beschützt. Vielleicht brauche ich das ja gar nicht, denke ich. Ich will nicht beschützt werden müssen. In mir regt sich Widerstand.
Um 17.04 hole ich mein Handy raus und öffne die Kamera. Zwei mal schließe und öffne ich sie wieder. Selten habe ich mich so unsicher gefühlt. Der Gedanke daran, dass der Mann mir nichts tun kann, was ich nicht in schlimmer schon erlebt habe, beruhigt mich. Die Tatsache, dass ich dafür sorgen kann, dass er bestraft wird, wenn er etwas macht, ebenfalls.
Um 17.05 stehe ich auf, zücke mein Handy und mache ein Foto von dem Mann. Dann rufe ich quer durch den Bus. Dass da ein Typ ist, der uns bedroht und meint, er würde uns umbringen. Dass ich ein Foto für die Polizei gemacht habe. Dass ich das sage, falls er tatsächlich was macht, damit der gesamte Bus es sieht und ich Zeugen habe.
Die gesamte Aufmerksamkeit des Busses liegt auf uns. Der Mann hält sich die Hände vors Gesicht, damit niemand ihn sehen kann. Fast ist es lustig. Selbst wenn ich das Foto gesetzlich nicht verwenden kann, kann ich die genauste Beschreibung abgeben, die irgendjemand haben könnte. Eine Frau neben mir sagt, ich solle am besten zum Busfahrer gehen, also drücke ich unserem Freund unseren Gehstock in die Hand und begebe mich in diese Richtung. Auf halbem Weg ruft mir der Mann hinterher: „Ich steig ja schon aus. Ich muss eh an der nächsten Haltestelle raus.“
Um 17.06 steigt er aus, natürlich nicht, ohne uns noch hinterherzurufen „N*tte. Du wirst noch Geld für mich anschaffen“. Dass das schlimm sein wird, ist mir klar. Die Wichtigkeit der Situation aber noch mehr.

Seitdem wir den Gehstock besitzen, werden wir andauernd belästigt. Was früher alle paar Jahre passiert ist, passiert jetzt mehrmals pro Woche. Aber die Welt verändert sich, wenn man laut ist. Zu einem Ort, an dem man nicht mehr machtlos ist. Zu einem Ort, an dem einem Menschen helfen, wenn irgendein Typ einen ungefragt anfasst, an dem Täter plötzlich Angst bekommen, in ihrer unangreifbaren Welt.

24. August 2021, bei unserer Psychologin. Aber daran merke ich, sage ich, dass es mir besser geht. Vor drei Jahren hätte ich ganz anders reagiert.
Was war denn vor drei Jahren?
Früher hätte ich mich nie getraut, laut zu werden oder mich zu wehren. Das lerne ich erst seit drei Jahren.
Und wir reden über Blyth und sie sagt: „Auch in drei Jahren wird es noch Zeitpunkte geben, wo Sie hier sitzen und mir sagen werden, dass er ein viel tollerer Therapeut war als ich“ und zum ersten mal in einem therapeutischen Gespräch fühle ich mich verstanden. Zum ersten Mal wurde begriffen, verstanden, was das der Missbrauch bedeutet, warum es so anders ist.
Ich habe das Gefühl, dass die Welt ein bisschen mehr zu mir gehört.

Freitag, 6. August 2021

#70: Selbstdiagnostik

Gerade im nordamerikanischen Raum scheint es viele Systeme zu geben, die sich die DIS selbst diagnostiziert haben, aber auch im deutschsprachigen Raum haben wir inzwischen davon gehört. In der Community wird diesbezüglich oft angesprochen, dass man bei solch komplexen Diagnosen nichts selbst diagnostizieren sollte, da es einfach viele andere Störungen gibt, die ähnliche oder ähnlich klingende Symptome haben, mit denen man sein eigenes Empfinden verwechseln könnte.
Viele davon sind der DIS sehr ähnlich und haben nur eine etwas andere Symptomausprägung. Dies ist beispielsweise bei der partiellen DIS so und so können DIS-spezifische Hilfsangebote vermutlich trotzdem helfen. Es gibt jedoch auch ähnliche Störungen, die einen gänzlich anderen Therapie-Ansatz verfolgen. Dadurch ist es natürlich enorm wichtig zu wissen, was man genau hat.
Auch grundsätzlich ist es wichtig, sämtliche Vermutungen, die man über Diagnosen hat, mit einer Fachperson abzusprechen - immerhin gibt es einen Grund, warum man so etwas studieren muss und warum nicht jeder Mensch auf der Welt, der ein paar Psychologiebücher gelesen hat, Diagnosen stellen darf. Bei medizinischen Problemen ist es ja genauso.

Über uns selbst als System zu denken, hat uns zwar auch vor der Diagnose sehr geholfen (der Verdacht, dass wir eine DIS haben könnten, kam von uns, nachdem wir zufälligerweise einige Videos darüber gesehen hatten), allerdings wollten wir es unbedingt abklären lassen, weil es ja hätte sein können, dass wir alles komplett falsch interpretieren und eigentlich etwas ganz anderes haben. Deshalb haben wir in den drei Monaten zwischen der Vermutung und der Diagnose auch niemandem - mit Ausnahme von ruru - von unserem Verdacht erzählt. Es war uns einfach zu unsicher.
Jedoch hatten wir auch extremes Glück, dass unser Extherapeut sich zufälligerweise mit der DIS auskannte und wir innerhalb von einem Monat einen Termin bekommen konnten. Hätten wir erstmal eigenständig Fachpersonal suchen müssen, um uns auf eine Warteliste setzen zu lassen, hätten wir vermutlich Monate bis Jahre auf die Diagnostik warten müssen.

Genau deshalb kommt an dieser Stelle ein großes Aber: wir wissen, wie sehr es uns geholfen hat, uns als System zu sehen und auch so zu bezeichnen, auch vor der Diagnose, selbst wenn es nur bei ruru und in unserem Tagebuch war. Es erklärte jede Kleinigkeit unserer Problematik, die wir nie verstanden hatten. Jedes seltsame Gefühl, das wir gehabt hatten, von dem wir nie irgendjemandem erzählt hatten. Natürlich. Wir hatten eine DIS. Das war zu dem Zeitpunkt ja nicht anders, nur weil wir noch nicht diagnostiziert worden waren.
Da Systeme aus den USA oft sagen, sie müssen sich selbst diagnostizieren, weil sie sich keine Therapie leisten können, wird hier oft gesagt, in Deutschland (und vermutlich auch in Österreich, der Schweiz und Liechtenstein; von diesen Ländern haben wir allerdings wenig Ahnung) gibt es kostenlose Therapie, also kann man in jedem Fall eine Fachperson aufsuchen, die man wegen der DIS fragen kann, es dauert vielleicht ein wenig, aber aus diesem Grund sei eine Selbstdiagnostizierung absolut abzulehnen.
Dieses Mindset finde ich allerdings extrem kurzgedacht.

Beispiel: wir haben einen Freund, der Schizophrenie hat. Er lebt in einem kleinen Dorf inmitten anderer kleiner Dörfer, mitten auf dem Land, die nächste größere Stadt ist 1.5 Stunden Autofahrt entfernt. Als wir ihn kennengelernt haben, ging er seit Monaten zum einzigen Kassenpsychologen in seiner Umgebung. Der Psychologe hatte keine Diagnose gestellt, sondern meinte, sein Problem wäre einfach, dass er zu wenig Freunde hatte. Dementsprechend ging es ihm eigentlich nur schlechter wegen diesem Psychologen. Er brach dann die Therapie auch ab, jedoch hatte er ja weiterhin psychische Probleme, auch wenn niemand so richtig wusste, was eigentlich genau los ist.
Er hatte dann glücklicherweise die Möglichkeit für eine Diagnostik zu einer privaten Psychologin zu gehen, welche dann die Diagnose stellte. Jedoch war dies ein einzelnes Gespräch - mehr wäre finanziell auch gar nicht gegangen. Die DIS-Diagnostik erstreckt sich in der Regel über mehrere Sitzungen, bei denen erst ein extrem langer Fragebogen ausgefüllt wird (das alleine dauerte bei uns schon drei Sitzungen) und danach hat man noch einige Gespräche mit dem Therapeuten, um auch wirklich sicher zu gehen.

Und nein, es gibt nicht in jedem Land ein Kostenübernahme-Modell wie in Deutschland. Und selbst hier ist es einfach teilweise extrem schwierig zu beantragen (wir haben mal unserer Krankenkasse Fragen dazu gestellt und sie haben sich schlichtweg geweigert, diese zu beantworten, mit der Begründung, wir könnten ja einfach mehr Kassenpsychologen anrufen, in Hannover gäbe es ja genug). Und manche Menschen wissen vielleicht auch schlichtweg nicht, dass es überhaupt existiert. Die diesbezügliche Bildung muss man erstmal haben. Hilfsangebote werden oft extrem stark versteckt.

„Kein Problem, man kann ja immer noch in eine Klinik gehen“, werden manche jetzt denken. Da hat man zwar auch lange Wartezeiten, aber immerhin muss die nicht in der Nähe sein und da gibt es auf jeden Fall Fachpersonal.
Diese Aussage kann, meiner Meinung nach, nur aus einer unglaublich privilegierten Position heraus getroffen werden. In eine Klinik zu gehen heißt oft, der gesamten Familie und eventuell Freunden, Klassenkameraden, etc., offenlegen zu müssen, dass man psychische Probleme hat. Schließlich ist man ja mehrere Wochen weg. Klar, bei Klassenkameraden kann man vielleicht noch sagen, dass man einfach doll krank war, aber die Familie bekommt natürlich mit, wo man hingeht, zumindest insofern man noch Zuhause wohnt. Natürlich ist es nichts schlimmes, psychisch krank zu sein - aber in manchen Umgebungen ist, das offenzulegen, auch einfach nicht sicher. Oder man traut sich eben einfach nicht, es ist einem zu privat, die Familie soll nichts davon erfahren, weil sie einen eh schon die ganze Zeit grauenvoll behandeln. In vielen Fällen, in denen noch aktiv Missbrauch stattfindet, wird man ja auch dafür bestraft, wenn man sich Hilfe sucht. In so einem Fall müsste man erstmal ausziehen, bevor man in eine Klinik gehen kann. Dazwischen liegen mitunter Jahre. Wenn man arbeitsunfähig ist, darf man oft erst mit 25 ausziehen, weil man vorher keine Sozialleistungen erhält - davon abgesehen, dass es als Sozialhilfe-Empfänger extrem schwierig ist, eine Wohnung zu finden.

Viele traumatisierte Menschen haben zudem in ihrem Leben medizinischen oder therapeutischen Missbrauch erfahren (oder beides). Es ist so verdammt schwierig, in so einem Fall zu einem Therapeuten zu gehen. Ich weiß nicht, wie gut man sich das vorstellen kann, wenn man selbst nicht betroffen ist, aber jedes mal, wenn wir öfter als 1-2 mal zu einem männlichen Therapeuten gehen, bekommen wir Angst, dass er uns vergewaltigt. Diese Angst steigert sich immer mehr, bis es uns schlichtweg nicht mehr möglich ist, ohne Begleitung überhaupt zu erscheinen. Bei weiblichen Therapeuten haben wir diese spezifische Angst zwar nicht, aber jedes mal, wenn uns widersprochen wird bei irgendetwas, bei dem wir uns sicher sind, müssen wir uns erstmal tage- bis wochenlang damit hinsetzen und ganz gründlich überprüfen, ob es einen Manipulationsversuch gab, ob die Therapeutin das Machtverhältnis ausgenutzt hat, um uns zu irgendwas zu überreden, was wir eigentlich nicht wollten, müssen mit ganz vielen Freunden darüber sprechen, weil deren Einschätzung diesbezüglich einfach wertfreier ist und müssen es dann in der Therapie ansprechen, wo regelmäßig dann das halbe System Angst hat, dass wir nun tatsächlich missbraucht werden.
„Einfach zu Fachpersonal gehen, um mehrere Sitzungen lang über Dinge zu reden, über die man vielleicht noch nie mit irgendjemandem geredet hat“, ist nicht einfach. Es ist manchmal schlichtweg nicht möglich. Nach Blyth haben wir über vier Jahre lang nicht mehr wirklich mit Therapeuten geredet. Wir haben ein paar mal Therapie angefangen, waren aber nie mehr als zehn Sitzungen da und die Therapie hat auch schlichtweg nicht funktioniert, weil wir zu viel nicht sagen konnten und vor allem auch nicht in der Lage waren, irgendetwas bei den Therapeuten anzusprechen, das mit ihnen zu tun hatte. Also, zum Beispiel, wenn sie uns verletzt haben oder so. Was für die Therapie ja eigentlich wichtig ist.

Hätten wir 2015 dieselben Videos über die DIS gesehen, hätten wir dieselbe Erleuchtung wie jetzt 2019 gehabt. Und wir wären damit zu Blyth gegangen, der uns gesagt hätte, dass das definitiv nicht stimmt. Und wir hätten jahrelang keinen anderen Therapeuten sehen können, obwohl wir in einer Großstadt wohnten, in der es mit Sicherheit Therapeuten gegeben hätte, die sich mit der DIS auskennen.
Des Weiteren wissen wir alle, wie viel Systeme falschdiagnostiziert werden. Wie viele Therapeuten auch einfach die Existenz der DIS absprechen oder Dinge sagen wie „das kannst du nicht haben, das ist extrem selten und außerdem bist du ja gar nicht traumatisiert (hast keine Erinnerungen)“. Wie oft einem selbst aufgrund eines Symptoms der DIS gesagt wird, dass man diese ja gar nicht haben kann.

An dieser Stelle kehren wir zum Anfang des Textes zurück:
Die Erkenntnis, dass wir ein System sind, dass wir eine DIS (o.Ä.) haben, hat uns schon vor der Diagnose extrem geholfen. Wir konnten plötzlich unser Leben verstehen, erklären. Wir konnten unser Sein verstehen. Die Welt ist so unglaublich viel besser geworden.
Wir wurden innerhalb von 3.5 Monaten diagnostiziert.
Wir mussten nicht jahrelang auf einen Therapieplatz, einen Klinikplatz, eine Diagnostik warten.

Andere Menschen haben nicht so viel Glück.
Andere Menschen haben für Monate oder vielleicht sogar Jahre nur sich selbst.
Wenn sie wirklich eine DIS haben, wie viel können sie dann in diesen Monaten oder Jahren bis zur Therapie vielleicht selbst schon erreichen?
Wenn sie keine DIS haben, aber aus welchen Gründen auch immer klingt die Diagnose für sie passend und hilft ihnen, ist es dann hilfreich, ihnen das abzusprechen? Vielleicht sind sie einfach traumatisiert. Vielleicht ist das, warum es passend klingt. Wenn es ihr Leben besser macht, warum ist es dann so verdammt wichtig, dass es falsch sein könnte? Wenn man sich jahrelang verbietet, mit den zu sein/arbeiten, was sich passend anfühlt, weil man sich irren könnte, dann klingt das ebenfalls nicht sinnvoll.
Klar. Wenn man sich irrt, dann gibt es höchstwahrscheinlich etwas, das einfach viel besser helfen könnte. Vielleicht lernt man sogar ein paar falsche Sachen, die man wieder verlernen muss, wenn man dann irgendwann die richtige Diagnose erhalten hat. Natürlich ist es besser, das sofort zu klären. Aber wenn sofort eben nicht geht, dann ist die eigene Vermutung die beste Arbeitsgrundlage, die man zu dem Zeitpunkt zur Verfügung hat.

Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten, wenn wir 2019 keine Diagnostik zur Verfügung gehabt hätten. Wie wir damit umgegangen wären. Was wir mit dem Begriff, der sich für uns so richtig anfühlte, umgegangen wären. Aber was ich weiß ist, dass es hilfreich gewesen wäre, damit zu arbeiten, selbst wenn wir zu diesem Zeitpunkt keine Diagnostik hätten erhalten können. Dass ich weiß, wie viel Systemarbeit wir in diesen 1.5 Jahren schon gemacht haben, die unser Leben unglaublich viel besser gemacht hat. Selbst ohne Therapeut:in kann man Dinge erreichen.
Ich weiß, hätten wir das alles ganz weit von uns weggeschoben, weil wir uns hätten irren können, dann wären wir jetzt vermutlich an demselben Punkt, an dem wir damals waren. Wir hätten immer noch nichts verstanden. Es wäre immer noch nichts besser geworden. Jetzt, wo die Therapie anfängt, würden wir ganz am Anfang stehen.