Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Donnerstag, 16. Dezember 2021

#83: Wahrnehmung und Einbildung

Unsere Psychologin ist immer wieder überrascht davon, dass wir unserer eigenen Wahrnehmung so sehr vertrauen. Denn normalerweise ist das nicht so, wenn man traumatisiert ist. Man wächst immerhin in einer Welt auf, in der man ständig nur hört, man würde sich anstellen, man würde lügen, man würde sich Dinge nur einbilden, spürt, die eigenen Gefühle sind nicht wichtig, man selbst ist nicht wichtig, aus jeder Ecke dröhnt es „deine Wahrnehmung ist falsch“.
Wir sind natürlich nicht vollkommen unbehelligt davon. Blyth hat das wunderbar ausgenutzt.
Aber wir sind schon verhältnismäßig frei davon, können uns selbst vertrauen und oft auch durchsetzen, dass unsere Wahrnehmung nicht falsch ist. Zumindest uns selbst gegenüber.
Und immer wieder kommt die Frage auf, wie wir das behalten konnten, trotz allem. Dass es ja irgendwas gegeben haben muss, das uns gesagt hat, dass unsere Wahrnehmung richtig ist.
Aber umso mehr ich darüber nachdenke, desto weniger glaube ich das.
Ich glaube, ich denke einfach zu mathematisch, um mein eigenes Erleben in Frage zu stellen.
Denn es gibt Meinungen und es gibt Fakten.
Eine 4 ist immer eine 4.
Wenn ich Schmerzen fühle, fühle ich Schmerzen.
Die 4 kann auf verschiedene Arten entstanden sein - es gibt viele Möglichkeiten, auf eine 4 zu kommen. Zum Beispiel 2 + 2. Oder 2 * 2. Oder 20 / 5. Oder  7 - 3. 8 * 0.5. Aber es ist trotzdem alles eine 4.
Schmerzen können auf unterschiedlichste Arten entstehen. Wenn ich zum Arzt gehe und sage, ich habe Schmerzen und er stellt nichts fest und sagt mir „bei Ihnen ist alles in Ordnung“, dann heißt das (vorausgesetzt er hat nichts übersehen), dass es keine medizinisch relevante Ursache für die Schmerzen gibt. Ich fühle aber trotzdem Schmerzen. Das ist einfach ein Fakt. Es ist keine Meinung - sonst könnte ich ja einfach meine Meinung ändern und die Schmerzen wären weg.
Also könnten die Schmerzen vielleicht eine psychische Ursache haben. Dann ist natürlich nicht wirklich mein Knie kaputt, sondern es tut einfach nur weh.
Selbst wenn wir den beliebten Satz nehmen: „Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein.“ Was anderes ist denn die Einbildung eines Sinnesreizes als eine Halluzination? Und eine Halluzination entsteht auch irgendwie. Hat also eine Ursache. Es ist halt nicht wirklich mein Knie kaputt, aber es tut trotzdem weh.
Man kann einfach nicht etwas fühlen, ohne dass man es tatsächlich fühlt. Das ist nicht, wie Biologie funktioniert. Eine 4 ist eine 4 und Schmerzen sind Schmerzen.

Okay, aber was ist mit komplexeren Sachen wie der DIS, fragt man sich jetzt vielleicht. Das ist ja kein klar fühlbarer Zustand. Bei so etwas kann die eigene Wahrnehmung vielleicht falsch sein.
Nehmen wir das mal auseinander.
Ich habe eine bestimmte Persönlichkeit. Ich verhalte mich in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art und Weise. Das ist ein Fakt - das tut jeder Mensch. Manchmal war es bei uns jedoch ganz anders - „ich“ war dann einfach anders und „ich“ konnte auch nichts dagegen tun. Es fühlte sich an, als wäre „ich“ eine andere Person.
Das ist ein Fakt. Ich war anders - kann man feststellen. Ich konnte nichts gegen tun - sonst hätte ich es ja, denn ich wollte. Es fühlte sich so an - Gefühle sind Fakten. Sie sind Biologie. Es sind hormonelle Reaktionen. Man kann das irgendwie messen, wenn man möchte. Mathematik. Eine 4 ist eine 4 und ein Gefühl ist ein Gefühl.
Aufgrund von Fakten, die ein Psychologe interpretiert hat, wurde uns eine DIS diagnostiziert.
Wenn die Diagnose falsch ist? Dann wurde falsch interpretiert.
Man kann sich keine Fakten einbilden.
Einbildung existiert nicht. Also, wirklich. Wenn ich aus dem Augenwinkel einen Schatten sehe und ich drehe mich um, aber da ist nichts, ich habe ihn mir also „eingebildet“. Das geht halt gar nicht. Dass ich einen Schatten gesehen habe, ist ein Fakt. Es war halt nur nichts da, vielleicht war es eine Halluzination, vielleicht irgendein komisches Lichtphänomen, irgendeine Fehlfunktion meiner Augen, was weiß ich. „Einbildung“ ist nur ein Wort für Fakten, die nicht erklärbar sind (für die man nicht sofort eine Ursache finden kann).

Wahrnehmung ist auch einfach ein Fakt. Alles, was man denkt, fühlt, was auch immer ist ein biologischer Prozess. Biologische Prozesse kann man messen. Vielleicht noch nicht jetzt, aber in der Theorie ist es möglich. Wenn ich Schmerzen empfinde, ist das ein biologischer Prozess in meinem Gehirn. Wenn ich Angst habe, ist das ein biologischer Prozess in meinem Gehirn. Existieren ist ein biologischer Prozess.
Fakten sind einfach keine Meinungen.
Und Existieren auch nicht.

Dienstag, 7. Dezember 2021

#78: Donut Hole II


Woher kommen plötzlich diese Bilder, die
sich vollkomm' unerwartet durch meine Gedanken zieh'n?
Das ist nicht mein Leben, oder? Kann es sein,
dass dieses eine Bild mir irgendwie nicht fremd erscheint?

Versuch's nochmal, noch hundert mal, doch
bloß ein Gesicht erscheint in meinem Kopf.
Keine Informationen, nichts, niemand an
den ich mich durch dieses Bild wieder erinnern kann.

Um den Erdball laufen Schienen, die
es immer schneller weiter Richtung Morgensonne zieht.
Jedoch brauchen wir diese nicht auf der Jagd
nach unseren Wünschen, immer weiter dem Mondschein nach.

Versuch's nochmal, noch tausend mal, doch
bloß dein Gesicht erscheint in meinem Kopf.
Regen vermischt sich mit den Tränen, die ich
plötzlich weine, denn ob du überhaupt lebst weiß ich nicht.

Irgendwo tief in mir fühle ich, dass du mir nie
böse wärst, dass ich mich an nichts erinnere von dir.
Trotzdem raubt es mir Schlaf. Fast kann ich hör'n wie du lachst.
Doch wie ein Traum entgleitet mir, was ich verloren hab.

Ich zähle, was ich fühle. Ich liste es auf.
Nur so begreife ich, dass ich nicht weiß, ob ich 'Wärme' je gespürt hab.
„Leb wohl, niemals wieder werden wir uns seh'n.“
Zumindest ist das, was ich denke; ein Gefühl, das in mir nachhallt.
„Warum kann ich nicht lächeln?“ ist die Frage, die mich zerreißt.

Mein Leben fühlt sich wie ein Donut an:
ein Loch, in dem nichts fehlt, das ich je beweisen kann.
Niemand kann sagen, ob dort jemals war,
was ich jetzt sehe, denn du fehlst nicht, du bist nur nicht da.

Versuch's nochmal, noch hundert mal, doch
bloß dein Gesicht erscheint in meinem Kopf.
Eine weit're Nacht find ich keinen Schlaf,
gefangen frag ich mich, wo du in meinem Leben warst.

Kann es wirklich so sein, dass manchmal nichts mehr verbleibt?
Wartet man ewig bis man feststellt, dass sich nichts je zeigt?
Diese Hoffnung werd ich aus meinem Leben verbann,
stattdessen such ich etwas, was das Loch in mir füll'n kann.

Ich zähle, was ich fühle und was ich vergaß.
Nur so begreif ich: ich weiß nicht, ob ich deine Stimme je gehört hab.
„Leb wohl, niemals wieder werden wir uns seh'n.“
Zumindest ist das, was ich denke; ein Gefühl, das in mir nachhallt.
„Warum kann ich nur weinen?“ ist die Frage, die mich zerreißt.

War irgendwas von dir jemals wirklich real?
Das Loch in meinem Herzen schreit mich an, die einzige Stimme, die „Ja“ sagt.
Wenn nichts dort existiert hat, warum ist es dann leer?
Mein Herz in Scherben, es verbleibt nichts, man kann nicht zu Nichts zurückkehr'n.

Ich zähle, was ich fühle. Ich liste es auf.
Nur so begreife ich, dass ich nicht weiß, ob ich 'Wärme' je gespürt hab.
„Leb wohl, niemals wieder werden wir uns seh'n.“

Dennoch erreicht mich ein Gedanke, nur ein Wort, das in mir nachhallt,
ich öffne meine Augen für die Hoffnung, die mich antreibt,
Hoffnung, die mich antreibt, Hoffnung, die mich antreibt.

„Ich erinnere mich, du heißt -“

Dienstag, 30. November 2021

#75: traumafreie Räume

[Das ist ein Brief an unsere Ergotherapeutin, zumindest so halb, also bitte nicht von den ganzen negativen Sätzen angesprochen fühlen.]

"Wir reden hier nicht über Trauma", ist ein Satz, der immer wieder all unsere Grenzen verstummen lässt. Es gibt keinen traumafreien Teil unseres Lebens, der uns in einem traumafreien Raum existieren lässt. Wir sind nicht traumafrei. "Wir reden nicht über Trauma" heißt immer auch:
Wir reden nicht darüber, wenn es euch schlecht geht.
Wir reden nicht darüber, wenn euch etwas triggert.
Und ganz vorne immer mit dabei: wir reden nicht über und vor allem nicht mit traumatragenden Innenpersonen.
Es verbietet uns jeden Satz über unsere Innenwelt, der unseren Mund verlassen könnte.
Denn ich kann nicht sagen, dass ich, seitdem unsere Lungenfunktion in den Keller gefallen ist, total Angst vor Corona habe. Denn dann müsste ich ja sagen, dass ich am meisten Angst vor Corona habe, weil ich dann einen Test machen müsste. Und dann müsste ich ja sagen, dass mich jegliche Tests mit Stäbchen in irgendwelchen Körperöffnungen am allermeisten von allen Dingen auf der Welt triggern. Und dann reden wir plötzlich doch über Trauma.
Aber hier ist ja kein Platz dafür.
Also reden wir lieber gar nicht.
Auch nicht darüber, dass der Satz deshalb übergriffig ist, denn das wäre über Trauma zu reden. Denn es ist ja nur übergriffig, weil wir nicht ganz sein dürfen in einem Raum. Weil wir nicht traumafrei sind.
Und ohnehin, das letzte mal, als wir gesagt haben, dass Stäbchentests uns unglaublich doll triggern, wurde uns gesagt: "Aber die sind ja wirklich nicht schlimm, die tun überhaupt nicht weh."
Von der Ergotherapeutin.
Das kann sie sagen, in ihrem traumafreien Raum, weil sie nicht in dem Raum sein musste, wo wir unsere gesamte Kindheit lang alle drei Monate von Pflegepersonal festgehalten wurden, während irgendjemand unseren Mund aufhalten musste, damit irgendein Arzt uns gewaltsam ein Stäbchen in den Rachen schieben konnte. Wo niemand je gefragt hat, warum wir das eigentlich so schlimm finden, obwohl es ja gar nicht wehtut.
Vielleicht wollten wir nur einfach nicht noch mehr oral vergewaltigt werden.

"Wir reden hier nicht über Trauma" ist auch meistens gar nicht der Satz, der überhaupt gemeint ist. Denn Menschen, die wirklich nicht über Trauma reden wollen, verschwinden aus unserem Leben. Das können wir nicht bieten. Eine traumafreie Sprache. Die einzige Grenze, die jemals funktionieren kann, ist gar nicht mit uns reden. Oder jedenfalls über nichts wichtiges.
"Wir reden hier nicht über Trauma" heißt oft viel eher:
Wir reden nur über Trauma, wenn ich eine Frage über euer Leben stelle.
Aber sonst bitte nicht. Und lass die Innenkinder im Innen. Die haben hier wirklich nichts zu suchen. Die sind viel zu anstrengend, haben zu viel Flashbacks und zu wenig Worte und vor allem viel zu viel Trauma für diesen unbefleckten Ort.
"Aber du scheinst das ja gut unter Kontrolle zu haben."
Keine Pluralpronomen, kein einziges mal.
Denn diese Stimmen im Kopf. "Die sind psychotisch, oder?"

Nein. Die sind: wenn Sie nicht die Dreistigkeit besäßen, jemanden mit einer DIS zu behandeln ohne zumindest anzumerken, dass Sie offensichtlich absolut keinen blassen Schimmer über diese Traumafolgestörung zu haben, wüssten Sie die Antwort.
Die sind: was mich vor übergriffigen Menschen wie Ihnen beschützt, danke.
Denn scheinbar war es ja wichtiger, uns darüber auszufragen, dass Blyth uns vergewaltigt hat, als mal in Erfahrung zu bringen, warum wir eigentlich immer von 'wir' reden - im Plural. Und es war wichtiger mal so beiläufig zu fragen, ob wir ihn eigentlich angezeigt haben, als mal in Erfahrung zu bringen, was eigentlich mit 'Innenpersonen' genau gemeint ist. Und es war scheinbar auch wichtiger, unsere Gefühle im Bezug auf Trigger kleinzureden, als sich mal eine Sekunde lang selbst zu fragen, was eigentlich passiert sein muss, dass jemand mit 57% Lungenfunktion mehr Angst vor einem Stäbchen hat als davor, an Corona zu sterben.

Freitag, 6. August 2021

#70: Selbstdiagnostik

Gerade im nordamerikanischen Raum scheint es viele Systeme zu geben, die sich die DIS selbst diagnostiziert haben, aber auch im deutschsprachigen Raum haben wir inzwischen davon gehört. In der Community wird diesbezüglich oft angesprochen, dass man bei solch komplexen Diagnosen nichts selbst diagnostizieren sollte, da es einfach viele andere Störungen gibt, die ähnliche oder ähnlich klingende Symptome haben, mit denen man sein eigenes Empfinden verwechseln könnte.
Viele davon sind der DIS sehr ähnlich und haben nur eine etwas andere Symptomausprägung. Dies ist beispielsweise bei der partiellen DIS so und so können DIS-spezifische Hilfsangebote vermutlich trotzdem helfen. Es gibt jedoch auch ähnliche Störungen, die einen gänzlich anderen Therapie-Ansatz verfolgen. Dadurch ist es natürlich enorm wichtig zu wissen, was man genau hat.
Auch grundsätzlich ist es wichtig, sämtliche Vermutungen, die man über Diagnosen hat, mit einer Fachperson abzusprechen - immerhin gibt es einen Grund, warum man so etwas studieren muss und warum nicht jeder Mensch auf der Welt, der ein paar Psychologiebücher gelesen hat, Diagnosen stellen darf. Bei medizinischen Problemen ist es ja genauso.

Über uns selbst als System zu denken, hat uns zwar auch vor der Diagnose sehr geholfen (der Verdacht, dass wir eine DIS haben könnten, kam von uns, nachdem wir zufälligerweise einige Videos darüber gesehen hatten), allerdings wollten wir es unbedingt abklären lassen, weil es ja hätte sein können, dass wir alles komplett falsch interpretieren und eigentlich etwas ganz anderes haben. Deshalb haben wir in den drei Monaten zwischen der Vermutung und der Diagnose auch niemandem - mit Ausnahme von ruru - von unserem Verdacht erzählt. Es war uns einfach zu unsicher.
Jedoch hatten wir auch extremes Glück, dass unser Extherapeut sich zufälligerweise mit der DIS auskannte und wir innerhalb von einem Monat einen Termin bekommen konnten. Hätten wir erstmal eigenständig Fachpersonal suchen müssen, um uns auf eine Warteliste setzen zu lassen, hätten wir vermutlich Monate bis Jahre auf die Diagnostik warten müssen.

Genau deshalb kommt an dieser Stelle ein großes Aber: wir wissen, wie sehr es uns geholfen hat, uns als System zu sehen und auch so zu bezeichnen, auch vor der Diagnose, selbst wenn es nur bei ruru und in unserem Tagebuch war. Es erklärte jede Kleinigkeit unserer Problematik, die wir nie verstanden hatten. Jedes seltsame Gefühl, das wir gehabt hatten, von dem wir nie irgendjemandem erzählt hatten. Natürlich. Wir hatten eine DIS. Das war zu dem Zeitpunkt ja nicht anders, nur weil wir noch nicht diagnostiziert worden waren.
Da Systeme aus den USA oft sagen, sie müssen sich selbst diagnostizieren, weil sie sich keine Therapie leisten können, wird hier oft gesagt, in Deutschland (und vermutlich auch in Österreich, der Schweiz und Liechtenstein; von diesen Ländern haben wir allerdings wenig Ahnung) gibt es kostenlose Therapie, also kann man in jedem Fall eine Fachperson aufsuchen, die man wegen der DIS fragen kann, es dauert vielleicht ein wenig, aber aus diesem Grund sei eine Selbstdiagnostizierung absolut abzulehnen.
Dieses Mindset finde ich allerdings extrem kurzgedacht.

Beispiel: wir haben einen Freund, der Schizophrenie hat. Er lebt in einem kleinen Dorf inmitten anderer kleiner Dörfer, mitten auf dem Land, die nächste größere Stadt ist 1.5 Stunden Autofahrt entfernt. Als wir ihn kennengelernt haben, ging er seit Monaten zum einzigen Kassenpsychologen in seiner Umgebung. Der Psychologe hatte keine Diagnose gestellt, sondern meinte, sein Problem wäre einfach, dass er zu wenig Freunde hatte. Dementsprechend ging es ihm eigentlich nur schlechter wegen diesem Psychologen. Er brach dann die Therapie auch ab, jedoch hatte er ja weiterhin psychische Probleme, auch wenn niemand so richtig wusste, was eigentlich genau los ist.
Er hatte dann glücklicherweise die Möglichkeit für eine Diagnostik zu einer privaten Psychologin zu gehen, welche dann die Diagnose stellte. Jedoch war dies ein einzelnes Gespräch - mehr wäre finanziell auch gar nicht gegangen. Die DIS-Diagnostik erstreckt sich in der Regel über mehrere Sitzungen, bei denen erst ein extrem langer Fragebogen ausgefüllt wird (das alleine dauerte bei uns schon drei Sitzungen) und danach hat man noch einige Gespräche mit dem Therapeuten, um auch wirklich sicher zu gehen.

Und nein, es gibt nicht in jedem Land ein Kostenübernahme-Modell wie in Deutschland. Und selbst hier ist es einfach teilweise extrem schwierig zu beantragen (wir haben mal unserer Krankenkasse Fragen dazu gestellt und sie haben sich schlichtweg geweigert, diese zu beantworten, mit der Begründung, wir könnten ja einfach mehr Kassenpsychologen anrufen, in Hannover gäbe es ja genug). Und manche Menschen wissen vielleicht auch schlichtweg nicht, dass es überhaupt existiert. Die diesbezügliche Bildung muss man erstmal haben. Hilfsangebote werden oft extrem stark versteckt.

„Kein Problem, man kann ja immer noch in eine Klinik gehen“, werden manche jetzt denken. Da hat man zwar auch lange Wartezeiten, aber immerhin muss die nicht in der Nähe sein und da gibt es auf jeden Fall Fachpersonal.
Diese Aussage kann, meiner Meinung nach, nur aus einer unglaublich privilegierten Position heraus getroffen werden. In eine Klinik zu gehen heißt oft, der gesamten Familie und eventuell Freunden, Klassenkameraden, etc., offenlegen zu müssen, dass man psychische Probleme hat. Schließlich ist man ja mehrere Wochen weg. Klar, bei Klassenkameraden kann man vielleicht noch sagen, dass man einfach doll krank war, aber die Familie bekommt natürlich mit, wo man hingeht, zumindest insofern man noch Zuhause wohnt. Natürlich ist es nichts schlimmes, psychisch krank zu sein - aber in manchen Umgebungen ist, das offenzulegen, auch einfach nicht sicher. Oder man traut sich eben einfach nicht, es ist einem zu privat, die Familie soll nichts davon erfahren, weil sie einen eh schon die ganze Zeit grauenvoll behandeln. In vielen Fällen, in denen noch aktiv Missbrauch stattfindet, wird man ja auch dafür bestraft, wenn man sich Hilfe sucht. In so einem Fall müsste man erstmal ausziehen, bevor man in eine Klinik gehen kann. Dazwischen liegen mitunter Jahre. Wenn man arbeitsunfähig ist, darf man oft erst mit 25 ausziehen, weil man vorher keine Sozialleistungen erhält - davon abgesehen, dass es als Sozialhilfe-Empfänger extrem schwierig ist, eine Wohnung zu finden.

Viele traumatisierte Menschen haben zudem in ihrem Leben medizinischen oder therapeutischen Missbrauch erfahren (oder beides). Es ist so verdammt schwierig, in so einem Fall zu einem Therapeuten zu gehen. Ich weiß nicht, wie gut man sich das vorstellen kann, wenn man selbst nicht betroffen ist, aber jedes mal, wenn wir öfter als 1-2 mal zu einem männlichen Therapeuten gehen, bekommen wir Angst, dass er uns vergewaltigt. Diese Angst steigert sich immer mehr, bis es uns schlichtweg nicht mehr möglich ist, ohne Begleitung überhaupt zu erscheinen. Bei weiblichen Therapeuten haben wir diese spezifische Angst zwar nicht, aber jedes mal, wenn uns widersprochen wird bei irgendetwas, bei dem wir uns sicher sind, müssen wir uns erstmal tage- bis wochenlang damit hinsetzen und ganz gründlich überprüfen, ob es einen Manipulationsversuch gab, ob die Therapeutin das Machtverhältnis ausgenutzt hat, um uns zu irgendwas zu überreden, was wir eigentlich nicht wollten, müssen mit ganz vielen Freunden darüber sprechen, weil deren Einschätzung diesbezüglich einfach wertfreier ist und müssen es dann in der Therapie ansprechen, wo regelmäßig dann das halbe System Angst hat, dass wir nun tatsächlich missbraucht werden.
„Einfach zu Fachpersonal gehen, um mehrere Sitzungen lang über Dinge zu reden, über die man vielleicht noch nie mit irgendjemandem geredet hat“, ist nicht einfach. Es ist manchmal schlichtweg nicht möglich. Nach Blyth haben wir über vier Jahre lang nicht mehr wirklich mit Therapeuten geredet. Wir haben ein paar mal Therapie angefangen, waren aber nie mehr als zehn Sitzungen da und die Therapie hat auch schlichtweg nicht funktioniert, weil wir zu viel nicht sagen konnten und vor allem auch nicht in der Lage waren, irgendetwas bei den Therapeuten anzusprechen, das mit ihnen zu tun hatte. Also, zum Beispiel, wenn sie uns verletzt haben oder so. Was für die Therapie ja eigentlich wichtig ist.

Hätten wir 2015 dieselben Videos über die DIS gesehen, hätten wir dieselbe Erleuchtung wie jetzt 2019 gehabt. Und wir wären damit zu Blyth gegangen, der uns gesagt hätte, dass das definitiv nicht stimmt. Und wir hätten jahrelang keinen anderen Therapeuten sehen können, obwohl wir in einer Großstadt wohnten, in der es mit Sicherheit Therapeuten gegeben hätte, die sich mit der DIS auskennen.
Des Weiteren wissen wir alle, wie viel Systeme falschdiagnostiziert werden. Wie viele Therapeuten auch einfach die Existenz der DIS absprechen oder Dinge sagen wie „das kannst du nicht haben, das ist extrem selten und außerdem bist du ja gar nicht traumatisiert (hast keine Erinnerungen)“. Wie oft einem selbst aufgrund eines Symptoms der DIS gesagt wird, dass man diese ja gar nicht haben kann.

An dieser Stelle kehren wir zum Anfang des Textes zurück:
Die Erkenntnis, dass wir ein System sind, dass wir eine DIS (o.Ä.) haben, hat uns schon vor der Diagnose extrem geholfen. Wir konnten plötzlich unser Leben verstehen, erklären. Wir konnten unser Sein verstehen. Die Welt ist so unglaublich viel besser geworden.
Wir wurden innerhalb von 3.5 Monaten diagnostiziert.
Wir mussten nicht jahrelang auf einen Therapieplatz, einen Klinikplatz, eine Diagnostik warten.

Andere Menschen haben nicht so viel Glück.
Andere Menschen haben für Monate oder vielleicht sogar Jahre nur sich selbst.
Wenn sie wirklich eine DIS haben, wie viel können sie dann in diesen Monaten oder Jahren bis zur Therapie vielleicht selbst schon erreichen?
Wenn sie keine DIS haben, aber aus welchen Gründen auch immer klingt die Diagnose für sie passend und hilft ihnen, ist es dann hilfreich, ihnen das abzusprechen? Vielleicht sind sie einfach traumatisiert. Vielleicht ist das, warum es passend klingt. Wenn es ihr Leben besser macht, warum ist es dann so verdammt wichtig, dass es falsch sein könnte? Wenn man sich jahrelang verbietet, mit den zu sein/arbeiten, was sich passend anfühlt, weil man sich irren könnte, dann klingt das ebenfalls nicht sinnvoll.
Klar. Wenn man sich irrt, dann gibt es höchstwahrscheinlich etwas, das einfach viel besser helfen könnte. Vielleicht lernt man sogar ein paar falsche Sachen, die man wieder verlernen muss, wenn man dann irgendwann die richtige Diagnose erhalten hat. Natürlich ist es besser, das sofort zu klären. Aber wenn sofort eben nicht geht, dann ist die eigene Vermutung die beste Arbeitsgrundlage, die man zu dem Zeitpunkt zur Verfügung hat.

Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten, wenn wir 2019 keine Diagnostik zur Verfügung gehabt hätten. Wie wir damit umgegangen wären. Was wir mit dem Begriff, der sich für uns so richtig anfühlte, umgegangen wären. Aber was ich weiß ist, dass es hilfreich gewesen wäre, damit zu arbeiten, selbst wenn wir zu diesem Zeitpunkt keine Diagnostik hätten erhalten können. Dass ich weiß, wie viel Systemarbeit wir in diesen 1.5 Jahren schon gemacht haben, die unser Leben unglaublich viel besser gemacht hat. Selbst ohne Therapeut:in kann man Dinge erreichen.
Ich weiß, hätten wir das alles ganz weit von uns weggeschoben, weil wir uns hätten irren können, dann wären wir jetzt vermutlich an demselben Punkt, an dem wir damals waren. Wir hätten immer noch nichts verstanden. Es wäre immer noch nichts besser geworden. Jetzt, wo die Therapie anfängt, würden wir ganz am Anfang stehen.

Dienstag, 27. Juli 2021

#69: Was ist rituelle Gewalt?

Nachdem wir nun einen ganzen Post über rituelle Gewalt verfasst haben, fühlt es sich nur richtig an, zu erklären, was das eigentlich genau ist. Wir wussten es nämlich, als wir unsere Diagnose bekommen haben und zum ersten mal so wirklich mit diesem Begriff konfrontiert wurden, nicht. Und dann war lange Zeit unser Verständnis davon falsch, weil es einfach gefühlt tausende Definitionen gibt, die im Prinzip etwas ähnliches meinen, aber das teils so missverständlich ausdrücken, dass es wie etwas ganz anderes klingt. Eine wirklich einheitliche Definition gibt es aber auch nicht, also ist das hier im Prinzip wieder nur unser jetziges Verständnis.

Rituelle Gewalt findet in organisierten Gewaltstrukturen statt und bezeichnet den systematischen Missbrauch von Menschen mit dem Ziel, diese für die bestehende Struktur gefügig zu machen und auszunutzen. Häufig geschieht dies unter dem Deckmantel irgendeiner Ideologie.
Betroffene sind in der Regel von Geburt an massiver psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. In der Regel sind die Eltern selbst involviert, da es ansonsten nur schwer möglich ist, ein Kind so durchgängig und viel zu missbrauchen. Oft findet rituelle Gewalt generationenübergreifend innerhalb von Familien statt.
Durch verschiedenste Manipulationstechniken werden Betroffene an die Gruppe gebunden. Ihnen werden Schweigegebote auferlegt (sie werden durch Folter dazu konditioniert nicht über das Geschehene zu reden) und die Erlebnisse werden so für sie dargestellt, dass es schwierig bis unmöglich für sie wird, überhaupt darüber zu sprechen. Eine Vergewaltigung ist dann eben keine Vergewaltigung sondern eine feierliche Zeremonie und Missbrauch ist nicht Missbrauch sondern Liebe. Ihnen wird schlichtweg keine Möglichkeit gegeben, Wörter zu erlernen, durch die sie das Geschehen richtig einordnen könnten.
Es werden Techniken verwendet, die unter dem Begriff „Mind Control“ zusammengefasst werden. Insgesamt geht es dabei darum, den Betroffenen durch massive Konditionierung beizubringen, dass ihre Wahrnehmung grundsätzlich falsch ist, niemand ihnen glaubt, sie für jedes Fehlverhalten (zum Beispiel darüber reden) bestraft werden und sie niemandem außerhalb der Gruppe vertrauen können.
Damit der Außenwelt nichts von dem Missbrauch auffällt, wird häufig weiße Folter angewandt. Weiße Folter ist ein Oberbegriff für Foltertechniken, die kaum bis keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Ich werde an dieser Stelle keine Beispiele dafür aufzählen, aber im Wikipedia-Artikel zu weißer Folter finden sich einige davon.
Häufig (nicht immer!) entwickeln Betroffene eine dissoziative Identitätsstörung. Hierbei kann es sich um eine reaktive oder eine programmierte DIS handeln.

Während eine reaktive DIS eine DIS bezeichnet, die jemand „einfach so“ (ohne äußeren Einfluss) als Reaktion auf Missbrauch entwickelt, wird eine programmierte DIS von Tätern systematisch bei Betroffenen erzeugt (daher auch der Name).
Da man für die Entwicklung einer DIS eine gewisse Neigung zu Dissoziation braucht, werden die Kinder in solchen Strukturen nach der Geburt auf ihre Dissoziationsfähigkeit geprüft. Danach werden dann durch gezielten Missbrauch bestimmte Innenpersonen erschaffen, bestimmte Hierarchien innerhalb des Systems (DIS-Systems), die innere Welt wird in der Regel von den Tätern gestaltet und es werden gezielt Innenpersonen abgespalten, deren einzige Aufgabe es ist, das System zu überwachen, für bestimmtes Verhalten zu bestrafen oder an bestimmten Tagen zu bestimmten Orten zu gehen, sodass das System der Gruppe nie (nur sehr schwierig) entfliehen kann, da es eben viele Innenpersonen gibt, die immer wieder zurücklaufen. Solche Systeme sind häufig polyfragmentiert - das heißt, sie haben über 100 Innenpersonen.

Das ist alles, was mir momentan zusammenhängend zu diesem Thema einfällt. Ich verlinke an dieser Stelle einmal die Definition von ritueller Gewalt des Vielfalt e.V., sowie eine Reportage über ein betroffenes System von ritueller Gewalt.

Freitag, 23. Juli 2021

#68: Missbrauch und Leugnen

Content Note: Leugnung von ritueller Gewalt.

Rituelle Gewalt existiert nicht. Das wurde mir neulich gesagt. Zum Glück stellte sich schon nach einer Minute heraus, dass es ein Missverständnis war und die Person eigentlich etwas anderes gemeint hatte. Trotzdem kräuselte sich, in dieser einen Minute, alles bei mir.
Wir sind nicht von ritueller Gewalt betroffen, aber kennen natürlich viele Systeme, die es sind. Da die meisten Systeme nicht so direkt über ihre Traumata reden, wissen wir es bei denen, die wir persönlich kennen, nicht, aber es gibt natürlich zahlreiche Systeme auf Instagram und Youtube, die betroffen sind und davon berichten.
Ich weiß, dass rituelle Gewalt existiert. Ich weiß es, weil ich weiß, wie grauenvoll Menschen sind und sein können. Ich weiß es so sehr, dass ich nie auf die Idee käme, einen Funken davon anzuzweifeln. Und dann gibt es Menschen, die einfach so nicht daran glauben. Auch wenn es hier nur ein Missverständnis war, wurde es mir dadurch zum ersten mal so richtig, richtig bewusst.

Ich weiß nicht, was ich fühle. Wut, Trauer, ich habe keine Ahnung. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe nicht, wie schön die Welt von jemandem sein muss, dass er sich nicht vorstellen kann will, dass etwas so grauenvolles existiert.
Und dann denke ich mir aber auch, ich kann es der Person ja nicht beweisen. Wenn ich sage, ich weiß das, dann klingt das vollkommen an den Haaren herbeigezogen. Ich hab ja nicht mal etwas erlebt. Vermutlich fühlt es sich an wie die eine Person, die ich vor Jahren getroffen habe, die mir weismachen wollte, dass unser Gendefekt heilbar ist. Die „wusste“ das bestimmt auch.
Das macht mich verzweifelt.
Für mein Leben spielt es keine Rolle. Ich bin nicht betroffen. Niemand bestreitet meine Lebensrealität. Aber das ekelhafte Gefühl davon, wenn man etwas erlebt hat und niemand glaubt es, das kenne ich. Und ich will nicht, dass irgendjemand das erleben muss.

Ich hab irgendwann einen Entschluss gefasst. Wenn ich denke, dass Menschen über Ereignisse lügen, dann spreche ich es nicht an, wenn ich nicht mit 100% Genauigkeit beweisen kann, dass sie es tun. Wenn die Ungewissheit zu schlimm für mich ist, gehe ich aus ihrem Leben. Aber ich werde nie, nie, nie, niemals jemanden einer Lüge bezichtigen, die ich nicht beweisen kann. Weil die Chance besteht, dass es die Wahrheit ist. Weil es, wenn es wirklich die Wahrheit ist, viel zu schlimm wäre.
Andere Menschen handhaben das nicht so. Sie reden einfach. Es ist ja nur eine Meinung. Das kann man ja ansprechen, wenn es berechtigte Zweifel gibt.
Aber es ist keine Meinung. Es ist das Absprechen einer Existenz, es ist ein metaphorisches Messer in die Seele oder ins Herz oder meinetwegen ins limbische System der betroffenen Person.
Man hat keinen Nachteil davon, einfach nichts zu sagen. Keinen einzigen. Ich werde nie verstehen, warum man dann jemandem ins Gesicht sagt, dass er lügt.
Würde man sich nur eine Sekunde vorstellen, man erzählt jemandem sein Leben und derjenige sagt 'Nein'.
Einfach so.
Hört man auf zu existieren.

Blyth hat uns gesagt, wir hätten uns alles nur eingebildet. Den Missbrauch. Das nennt man Gaslighting. Dass man jemanden dazu bringt, an seinen eigenen Erinnerungen zu zweifeln. An seiner eigenen Wahrnehmung. An seinem eigenen Leben.
Jemandem zu sagen, das, was er erlebt hat, würde nicht existieren, ist nichts anderes. Es ist derselbe Missbrauch. Es ist dieselbe Gewalt.

Gewalt ist keine Meinung.

Donnerstag, 1. Juli 2021

#61: get out while you can

In einer anderen Welt habe ich Ja gesagt, als du gefragt hast, ob du vorbeikommen kannst und vielleicht wären wir dann immer noch befreundet. Das ist ein Gedanke, der meinen Kopf nicht verlässt. Ich lebe immer noch in einer Welt, in der du fehlst, obwohl du doch gar nicht weit weg bist.
Die Antwort ist vermutlich Nein. Du warst immer weg, noch bevor du überhaupt gegangen bist. Dass ich Teil deiner realen Welt geworden wäre, hätte nichts daran geändert.
Weißt du, es hat eigentlich auch gar nicht so viel mit dir zu tun. Mein Gehirn hängt sich nur an jeden Fetzen Verlassen als wäre es das Wichtigste, was jemals passiert ist. Ich kann Menschen jedes Jahr Nachrichten schreiben, weil ich mir Sorgen mache, dass sie tot sein könnten und wenn sie mir nach sechs Jahren antworten, bin ich trotzdem enttäuscht, dass ich die Freundschaft nicht wiederhaben kann.

Ich hätte nicht mehr viel darüber nachgedacht, dass du irgendwie hier bist, aber eben irgendwie auch nicht, wenn ich nicht geträumt hätte, dass du mir geschrieben hast. So etwas träume ich oft. Manchmal vergesse ich aber auch Sachen und denke, ich habe sie geträumt, aber später merke ich, dass sie real passiert sind und ich einfach nur Amnesie habe. Deshalb hab ich gesucht und gesucht. Es war ein Traum, dessen bin ich mir inzwischen sicher. Auch wenn ich es erst nicht komplett ausgeschlossen hatte, dass es tatsächlich passiert ist, weil es definitiv Beschützer hier gibt, die dich nicht in unserem Leben haben wollen würden. Als wärst du die einzige Person, die wegrennt.
Du bist nur unbeständig genug, um wiederzukommen. Wenn wir rennen, dann ist das nie nur vorübergehend. Dass ich dasselbe Gefühl in anderen Menschen auslöse wie du in mir, das ist mir trotzdem in all den neun Jahren nie aufgefallen. Wie absolut grausam, nicht war? Ich kann Herzen zerstückeln ohne es überhaupt wahrzunehmen.
Du könntest jederzeit zurückkommen und ich denke, das ist gut so. Ich glaube, ich könnte nie zurückkehren. Ich habe mir selbst schlichtweg keine Möglichkeit gelassen.
Manchmal zerbreche ich mein eigenes Herz.

Aber die Wahrheit ist auch, dass es nichts an meiner chronischen Einsamkeit geändert hätte, wäre 2014 anders verlaufen und ich hätte niemanden verloren. Ich konnte ohnehin nie irgendetwas halten. Wenn Menschen stattdessen mich verlassen, fühlt es sich nur eben unfertig an. Und ich frage mich oft, ob sie dasselbe Gefühl haben von Zurückgehen wollen und wir haben unsere Telefonnummer geändert und unseren gesamten Namen und niemand wird uns jemals wiederfinden können. Selbst wenn irgendjemand hier wäre - niemand von uns ist mehr Melanie und erst Recht nicht [Ausweisname], unser Blog heißt 'Cirrus Floccus' und nichts hier spricht wirklich darüber, dass es irgendwann mal anders war. Wir können nicht zurückgehen und niemand wird jemals zu uns zurückkehren können. Manchmal macht mich das unendlich traurig.
Als ich diesen Text hier angefangen habe, habe ich versucht, eine Liste zu schreiben mit Blognamen, die wir im Laufe der Zeit hatten. Das ist witzlos, wenn man Amnesie hat, habe ich festgestellt. Ich habe keine Ahnung. Es würde auch nicht besser machen, dass ich einfach nur erklären will, was ich 2014 nicht erklären konnte, wofür ich mir selbst jede Möglichkeit genommen habe. Ich fand es nur interessant, rede ich mir selbst ein. Weil das besser macht, dass ich vor meinem Leben davongerannt bin.

Dienstag, 11. Mai 2021

#54: Fragen

Neulich haben wir auf Instagram und Discord gefragt, ob es eigentlich irgendwelche Fragen an uns gibt, die wir jetzt mit diesem Post beantworten wollten.

1. Warum postet ihr auf Instagram nichts mehr?
Es ist nicht unser Medium. Fast niemand hier macht gerne Bilder, aber fast alle schreiben gerne Texte und auf Instagram hat man eine Zeichenbegrenzung für diese Texte. Unsere waren aber immer länger und dann mussten wir sie extrem verkürzen oder die Texte in den Kommentaren weiterschreiben, was dann aber wiederum Menschen, die Instagram nicht haben, nicht lesen können - im Gegensatz zu hier. Ein Blog eignet sich deshalb für uns einfach besser.

2. Wird der Blog immer von einer Person geschrieben?
Nein. Am PC kann man sogar bei den meisten Texten sehen, wer den Post geschrieben hat (es steht unter dem Post, unter 'geschrieben von Cirrus Floccus'). Am Handy kann man das, soweit ich weiß, leider nicht sehen, allerdings findet sich oben unter 'Cirrus Floccus' eine kleine Übersicht von Innenpersonen, die hier auf dem Blog schon Texte verfasst haben oder irgendwo erwähnt wurden.
Teilweise steht es bei Posts nicht bei, weil entweder die Person nicht genannt werden wollte, die sie geschrieben hat oder weil es einfach nicht ersichtlich war, für die Person, die den Post auf unseren Blog getan hat (wir schreiben vieles auf dem Handy und dann liegen da manchmal so Texte rum für den Blog, von denen niemand genau weiß, wer sie eigentlich geschrieben hat).

3. Gibt es Innenpersonen, die ihr lieber mögt/außen habt als andere?
Also. Genauso wie man manche Menschen mehr und manche Menschen weniger mag, mögen wir natürlich auch die Innenpersonen teilweise mehr und teilweise weniger. Da kommt es dann aber natürlich auf die jeweilige Innenperson an, wenn sie mehr/weniger mag.
Das ist aber nicht dasselbe wie 'bestimmte Innenpersonen lieber draußen haben', denn alle Innenpersonen sind ja Innen genauso existent. Manchmal kommt es vor, dass man schon lange nichts mehr von einer bestimmten Innenperson gehört hat und sich dann so denkt 'ich hoffe, sie taucht mal wieder auf'.
Natürlich gibt es aber in bestimmten Situationen Innenpersonen, die wir lieber draußen haben, weil gerade die Kinder zum Beispiel oft von Arztterminen oder Ähnlichem überfordert sind und es ihnen dann sehr schlecht geht, obwohl für andere Innenpersonen ein Arzttermin gar nichts besonderes ist.
Es gibt auch Innenpersonen, die nicht gerne draußen sind, denen wünsche ich dann natürlich auch, dass sie nicht oft draußen sein müssen.
Ich kann sagen, dass ich persönlich (Lana) mir momentan wünsche, weniger draußen zu sein, weil ich momentan fast die gesamte Zeit da bin, wodurch ich mich komplett alleine um den gesamten Alltag kümmern muss, was früher nicht so war und früher hat es auch besser funktioniert. Das hat allerdings auch Gründe, warum ich gerade so viel da bin. Aber ich käme jetzt nie auf die Idee zu sagen "ich wünschte, x wäre besonders viel draußen und y sehr wenig". Das klingt auch irgendwie sehr gemein.

4. Ist es für andere immer ersichtlich, welche Person gerade draußen ist?
Wir haben ein kleines Programm von ruru, wo wir versuchen, immer einzutragen, wer draußen ist, aber da Wechsel ja auch oft durch Trigger passieren und man dann erstmal mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist (oder Innenpersonen draußen sind, die keine Ahnung davon haben), ist es nicht supergenau. Es ist aber zumindest eine einigermaßen richtige Annährung.
Dadurch ist es auf Discord in der Regel einzusehen, zumindest eben, wenn wir gerade online sind. (Wenn wir anderweitig beschäftigt sind, ändern wir es natürlich auch nicht.)
Davon abgesehen ist es aber nicht wirklich ersichtlich. Als wir noch dachten, wir wären ein sehr kleines System, hatten wir mal ausprobiert, sozusagen Erkennungs-Ringe zu haben (indem man immer den Ring der Innenperson trägt, die gerade draußen ist), aber erstens haben wir das die ganze Zeit selbst vergessen und zweitens funktioniert das bei der Menge an Innenpersonen, die mittlerweile bekannt sind, natürlich ohnehin nicht.
Wenn man uns sehr gut kennt, dann kann man teilweise an der Stimmlage, Sprechweise und Wortwahl erkennen, wer draußen ist, aber das kann, soweit ich weiß, nur ruru. Und selbst er liegt da nicht immer richtig.

Freitag, 7. Mai 2021

#53: Amnesie

Wir hatten mal eine beste Freundin, in der fünften Klasse. Sie war damals neu nach Hannover gezogen und da wir auch keine Freunde hatten, machten wir viele Schularbeiten zusammen und freundeten uns schließlich an.
Ich erinnere mich noch genau an den ersten Tag der sechsten Klasse, nach den Sommerferien. Wir hatten uns die ganzen Ferien nicht gesehen und sie war auch nicht da. Ganz dunkel meinte ich mich zu erinnern, dass sie gesagt hätte, dass sie wegzieht, aber um ehrlich zu sein fühlte es sich eher an, als hätte ich das geträumt. Da unsere Lehrerin ebenfalls nicht wusste, wo sie war und dann davon ausging, dass sie wohl krank sei, sagte ich mir, dass ich das wohl wirklich nur geträumt hatte, sonst wüsste die Schule ja Bescheid.
Als sie die ganze Woche nicht auftauchte, rief ich sie an, um zu fragen, wie es ihr ging und ihr zu sagen, was wir in der Schule so gemacht hatten und welche Hausaufgaben wir hatten. Kein Anschluss unter dieser Nummer.
Ich fragte in der nächsten Woche dann unserer Lehrerin, die dann wiederum mit dem Schulleiter sprach und schließlich erfuhr, dass sie weggezogen war. Niemand wusste wohin, ich hatte keine Möglichkeit, sie zu erreichen.
An Weihnachten erhielt ich eine Karte von ihr.
Ich schrieb ihr einen sehr wütenden Brief darüber zurück, dass sie mir nichts von dem Umzug gesagt hatte und dass ich mich die ganze Zeit gefragt hatte, wo sie ist und dass ich jetzt so sauer auf sie war, dass ich nie wieder von ihr hören wollte. (Ich war elf, als Entschuldigung.)
Ich wusste nicht, dass ich Amnesie hatte.
(Sie hatte mir höchstwahrscheinlich von dem Umzug erzählt und ich hatte es vergessen.)

Ein Jahr später (oder so) schrieb sie mich auf Schülervz an und wir freundeten uns wieder an und ich verbrachte sogar die Sommerferien bei ihr. Ich erinnere mich sogar noch daran, dass sie durch Zufall im Fernsehen irgendeinen veralteten Schwachsinn über meine Krankheit hörte und mich danach total besorgt anschrieb, weil sie dachte, ich würde in zehn Jahren sterben. (Die Lebenserwartung mit Mukoviszidose ist für uns momentan etwa 65 Jahre, es gibt allerdings oft veraltete Informationen, in denen gesagt wird, dass die Lebenserwartung 25 ist.)
Und dann erinnere ich mich an nichts.
Ich weiß, dass ich 2014 den Kontakt zu fast allen Menschen abgebrochen habe, mit denen wir damals Kontakt hatten, aber ich erinnere mich nicht daran, dass wir zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch Kontakt zu ihr hatten.
Das fiel mir vor ein paar Tagen auf. Ich hatte einfach vergessen, dass sie existierte.

Es so unglaublich viele mögliche Gründe, warum wir keinen Kontakt mehr haben könnten.
Vielleicht haben wir doch 2014 den Kontakt zu ihr abgebrochen und erinnern uns einfach nur nicht mehr.
Vielleicht haben wir vorher den Kontakt abgebrochen, weil sie irgendetwas Unflauschiges gemacht hat.
Vielleicht haben wir etwas Unflauschiges gemacht und sie hat deshalb den Kontakt abgebrochen.
Vielleicht kam sie nicht mit all den psychischen Problemen klar, die wir plötzlich hatten, die immer schlimmer wurden und wollte deswegen keinen Kontakt mehr zu uns haben.
Vielleicht hat sie uns nicht mehr geschrieben, weil sie selbst psychische Probleme hatte und wir haben einfach vergessen, dass sie existiert.
Vielleicht ist sie gestorben und wir haben uns nie gefragt, wo sie ist, weil wir vergessen haben, dass sie existiert.
Ich habe keine Ahnung. Ich werde es vermutlich auch nicht mehr rausfinden. Ich könnte zwar theoretisch bestimmt ihre Adresse rausfinden, da ich ihren Wohnort und Namen weiß, aber vielleicht wäre es auch einfach etwas seltsam, nach zehn Jahren (2010 ist der letzte Kontakt, an den ich mich erinnern kann) anzukommen und zu sagen: 'Hey, ich hab Amnesie und vergessen, warum wir keinen Kontakt mehr haben.'

Es war nur einfach sehr schockierend, verwirrend, offenbarend für mich, dass ich so absolut keine Ahnung habe. Vielleicht weiß es ja auch jemand anders aus dem System.
Und ja. Dass ich einfach vergesse, dass Menschen existieren, kommt nicht selten vor. Manchmal vergesse ich, Freunden auf Nachrichten zu antworten und wenn ich es lang genug vergesse, vergesse ich, dass sie existieren und wenn ich Glück habe, schreiben sie mich dann an, um mich zu erinnern, dass ich noch antworten wollte und dann fällt es mir wieder ein und wenn ich Pech habe, merke ich nach drei Jahren, dass ich sie einfach aus Versehen geghostet habe. (Wobei ich es erst dann Ghosten nennen würde, wenn man wirklich mehrfach die Nachrichten von jemandem ignoriert.)

Ich erinnere mich daran, dass ich irgendwann (ich habe keine Ahnung mehr wann) durch unseren Wohnort lief und von einem etwas jüngeren Mädchen angesprochen wurde. Es war wohl offensichtlich, dass ich keine Ahnung hatte, wer sie war, denn sie fragte, ob ich mich denn nicht an sie erinnern würde.
"Nein, tut mir leid. Von wo kennen wir uns denn?"
Sie sagte es mir und die Worte wurden zu Matsch in meinem Gehirn.
Sie wiederholte es, wieder und wieder, aber es war, als würden die Worte aus meinen Gedanken gelöscht, sobald ich sie gehört hatte.
Heutzutage würde ich sagen: "Tut mir leid, ich hab so eine Störung im Gehirn, die macht, dass ich manchmal nicht mehr richtig höre. Könntest du das aufschreiben?"
Vielleicht wäre dann gewechselt worden. Mir fällt mittlerweile natürlich der offensichtlichste Grund ein, warum ich einen bestimmten Ort nicht aufnehmen können sollte, während ich den Rest des Gesprächs problemlos verstehe. Ein Ort, von dem ich nicht wissen sollte, dass er existiert.
Ich meinte, sie müsste mich verwechseln, aber sie war sich hundert Prozent sicher, dass sie mich kannte. Am Ende tat ich so, als würde ich mich erinnern und sagte mir, dass sie bestimmt die kleine Schwester einer meiner Freundinnen war. Es war vermutlich offensichtlich, dass ich lüge.

Solche Erinnerungen ziehen sich durch mein Leben.
Eine Person, mit der ich mich während der Reha angefreundet habe, bei der ich mir sicher bin, ich hatte sie nach Kontaktdaten gefragt, aber danach weiß ich nichts.
Vielleicht hatte sie mir ihre Kontakdaten nicht gegeben.
Vielleicht hatte ich sie verloren.
Vielleicht hab ich die Freundschaft vergessen und ihr nie geschrieben.

Wie viele Menschen ich wohl vergessen habe, von denen ich absolut gar nichts mehr weiß?

Ja. Auch das ist Trauma. Auch das ist Dissoziation und eine dissoziative Identitätsstruktur und alles dazwischen. Wir haben keine magische Filmamnesie, wo die Erinnerungen ausgerechnet dann zurückkommen, wenn man sich das gerade wünscht. Irgendjemand von uns hat die Erinnerungen wahrscheinlich, aber wir können nur sehr erschwert danach suchen. Manchmal ist es das nicht wert. Vielleicht hängt da Trauma dran. Keine Ahnung. Ich kann es nicht wissen.
Ich schreib das nur, weil Amnesie in meiner Vorstellung früher sehr anders aussah als das, was wir haben. Anderen Leuten geht es da vermutlich ähnlich.
Amnesie ist sehr viel mehr als das, aber es war eine Sache, die mir gerade sehr auffiel und wichtig für mich war.

Dienstag, 4. Mai 2021

#52: innere Kommunikation

Uns wurden neulich einige Fragen zum Thema Kommunikation innerhalb des Systems und innere Welt gestellt, welche wir durch diesen Post beantworten wollten.

Erst einmal: eine innere Welt ist eine Art innerer Ort, den viele (nicht alle!) Systeme haben. Die Leute unter euch, die visualisieren können, können sich bestimmt gedanklich einen Wald oder irgendetwas vorstellen - so ähnlich ist das hier, nur dass dieser Ort so im Gedächtnis gespeichert ist, dass er immer existiert, ohne, dass wir ihn absichtlich erschaffen haben.
Dieser Ort kann einfach ein Raum sein. Bei vielen Systemen ist es wohl, soweit ich weiß, ein Haus. Bei uns sieht es eher aus wie ein sehr zusammengewürfeltes Land, nur in Miniaturformat. Wir kennen auch Systeme, die ganze Galaxien als innere Welt haben - ich glaube, das hängt vermutlich oft mit der Größe des Systems zusammen. Wenn es 500 Innenpersonen gibt, kann man sich diese vermutlich weniger gut in einem einzigen Raum vorstellen.
Unsere Idee ist, dass das Gehirn versucht, die dissoziative Identitätsstruktur zu visualisieren, um den Umgang damit zu erleichtern. Es gibt allerdings auch Systeme, bei denen die inneren Welten spezifisch von den Tätern aufgebaut wurden. Das ist bei uns nicht der Fall.
Als wir klein waren, haben wir versucht, ein Buch zu schreiben und haben uns dafür eine eigene Welt ausgedacht, die gewissermaßen ein sicherer Ort für uns war, weil wir sehr viel Zeit mit Schreiben und Lesen verbracht haben und das die einzigen Momente waren, in denen wir uns tatsächlich halbwegs sicher fühlten. Darauf hat sich unsere innere Welt scheinbar aufgebaut, zumindest sieht sie ähnlich aus wie die Welt, die wir uns damals ausgedacht haben (wenn auch nicht genauso).

In dieser inneren Welt befinden sich alle Innenpersonen, die gerade nicht draußen sind, wobei man sich tatsächlich auch absichtlich in die innere Welt hinein dissoziieren kann. Manche von uns können das besser, andere wiederum überhaupt nicht.
In der inneren Welt passiert bei uns nicht wirklich viel. Eigentlich fast nichts. Man ist entweder draußen oder es ist nichts. Die innere Welt existiert für die Person, die draußen ist, um das System, beziehungsweise eigentlich das gesamte Gehirn, visualisieren zu können.
An der Stelle möchte ich anmerken, dass dies je nach System sehr unterschiedlich ist. Manche Systeme haben keine innere Welt, manche Systeme haben eine ganze parallele Welt in ihrem Kopf, wo genauso viele Sachen passieren, wie in der Außenwelt auch.

Unser Systeme ist in Teile [Traumata; Zeitabschnitte] aufgeteilt, dessen zugehörige Innenpersonen sich jeweils in einem anderen Teil der inneren Welt befinden. In der Theorie könnte ich an jeden Ort in unserem Kopf gehen und mit den jeweiligen Personen sprechen, wobei wir dort meistens nicht tatsächlich uns gegenseitig als wirkliche Personen sehen, sondern mehr als Energieströme spüren können.
In der Praxis kommt nahezu niemand von uns in jeden Teil der inneren Welt überhaupt rein, sondern nur in sehr bestimmte Teile. Teilweise hab ich auch einfach das Gefühl, dass ich da nicht hin sollte. Ich weiß gar nicht, ob es theoretisch ginge, weil es mir einfach so sehr widerstrebt, dort überhaupt hinzugehen.
Vieles an der inneren Welt ist auch ohne Worte. Viele Kommunikationen, die dort stattfinden, laufen ohne Worte ab. Ich kann selbst nicht sehr gut beschreiben, wie das funktioniert. Es passiert auch nicht oft. Wir verbringen allgemein sehr wenig Zeit in der inneren Welt.

Wir nutzen mehr äußere Kommunikation (also, Kommunikation in der Außenwelt).
Wir haben sehr wenig Amnesie. Das bedeutet, wenn jemand anders draußen ist, erinnern wir uns in der Regel an 90% von dem, was passiert ist, was nicht auf irgendeine Weise mit Trauma zu tun hatte (wenn wir Flashbacks haben oder ähnliches, dann ist es für jede andere Person, die später draußen ist, in der Regel komplett weg). Wir erinnern uns dann nicht an die Gefühle, die die andere Person hatte und meistens auch nicht an die Gedanken, aber eben an alles, was passiert ist. Das bedeutet, wenn wir etwas an eine andere Innenperson weitergeben wollen, müssen wir es meistens nur laut aussprechen oder aufschreiben und dann erinnern sich alle Personen, die in den nächsten paar Tagen draußen sind, auch daran. Erst wenn Dinge länger als ein oder zwei Wochen her sind, wird es meistens problematisch. (Und es unterscheidet sich auch von Innenperson zu Innenperson. In der Regel haben die Innenpersonen, die viel Trauma haben, auch deutlich mehr Amnesie - also, sie erinnern sich eben nur an ihr Trauma.) Dafür arbeiten wir momentan an Lösungen.
ruru hat uns ein kleines Programm geschrieben, in das wir eintragen können, wer gerade draußen ist und bald wird dieses Programm eine Funktion bekommen, in der man sagen kann, dass eine bestimmte Innenperson eine bestimmte Nachricht erhalten soll, wenn sie sich einträgt. Das wird sehr nützlich sein! (ruru ist toll.)

Jedes 'in der Regel', das ich hier schreibe, bezieht sich übrigens auf unser System - verschiedene Systeme funktionieren sehr unterschiedlich.
Manchmal reden wir für einander. Sprich, manchmal sagt jemand von uns, dass jemand anders irgendeine Meinung zu einer bestimmten Sache hat oder etwas ähnliches. Das funktioniert aus verschiedenen Gründen. Manchmal entsteht dies tatsächlich aus innerer Kommunikation. Dann sagt jemand Innen irgendetwas und derjenige, der draußen ist, leitet es einfach nur weiter.
Allgemein ist es aber so, dass wir darauf hinarbeiten, dass wir einander so gut kennen, dass jeder einzelne von uns für die Gesamtheit sprechen und Entscheidungen treffen kann. Das klingt einfach sehr nützlich, weil man dann keine Entscheidungslisten mehr braucht, bei denen jeder einzeln gefragt werden muss und die Leute, die in der Zeit bis zur Entscheidung nicht draußen waren, haben keine Möglichkeit, irgendwie an der Entscheidung mitzuwirken. Stattdessen würde dann jeder möglichst berücksichtigt werden und wenn man jemanden vergisst, bekommt man hoffentlich eine Beschwerde von dieser Person und macht es beim nächsten mal besser.
Dafür versuchen wir uns kennenzulernen. Da innere Kommunikation bislang nicht sonderlich gut funktioniert, funktioniert dies hauptsächlich übers Außen. Dadurch, dass wir wenig Amnesie haben, können wir natürlich untereinander gut unsere Verhaltensweisen beobachten und dadurch die anderen Innenpersonen verstehen lernen.
Dadurch werden automatisch Innenpersonen mit mehr Trauma ausgeschlossen, da diese in der Regel weniger draußen sind und zudem mehr Amnesie besteht. Es ist also bei Weitem keine perfekte Lösung, sondern eben nur die, die uns momentan am sinnvollsten erscheint.

Ich hoffe, das erklärt einigermaßen gut, wie bei uns die inneren Abläufe sind.

Sonntag, 2. Mai 2021

#51: Vielesein ist positiv

Viele sein ist nichts schlimmes. Da, ich hab's gesagt. Das sagen wir auch allgemein. Von Anfang an (nach der Diagnose) haben wir gesagt, dass das Vielesein für uns eher positiv ist als negativ. Ja, sogar, dass wir dankbar sind dafür, kam ein paar Monate später hinzu. Wo gibt's denn so was?
Ich kann nicht zählen, wie viele negative Reaktionen wir deswegen bekommen haben, und noch viel weniger kann ich zählen, wie oft unser Erleben in Texten von anderen Systemen kleingemacht wurde, in denen es aber nicht spezifisch um uns ging, sondern allgemein um diese "definitiv gelogenen Systeme", die meinen, es wäre ja eigentlich echt nice ein System zu sein. Das könnte man gar nicht so empfinden, wenn man wirklich eine DIS hat.

Mittlerweile habe ich, zumindest glaube ich das, herausgefunden, was das Problem ist.
Manchmal haben Menschen monatelang Schmerzen, rennen von Arzt zu Arzt zu Arzt ohne Erklärung und dann bekommen sie endlich Krebs diagnostiziert und dann weinen sie erstmal und hassen ihr Leben, weil sie jetzt Krebs haben und das ist ziemlich schrecklich. Das ist eine ziemlich normale Reaktion.
Bei uns ist das nur komplett anders. Wir würden eher den Arzt anlächeln und sagen: "Ja, wunderbar, dann können wir jetzt ja endlich was dagegen machen!" Denn den Krebs hatte man ja vorher schon. Nur gibt es endlich eine Therapiemöglichkeit, weil eine Diagnose existiert.
Nun ist eine DIS kein Krebs und auch generell keine Krankheit, aber ich hoffe, der Ausgangspunkt meines Gedankengangs ist klar geworden.

Viele sein ist nichts schlimmes. Es ist nicht besser oder schlechter als Einzeln sein. Wenn man das Trauma, das zur Entstehung geführt hat, rausnimmt (denn das ist aus Gründen eine komplett separate Diagnose), dann ist es erstmal nur ein anderer Seinszustand.
Viele Systeme kommen am Anfang nicht mit ihrer Diagnose klar, soweit ich das beurteilen kann. Zumindest der Host und/oder das Alltagsteam. Das liegt aber, wie uns das erklärt wurde, hauptsächlich daran, dass eine DIS-Diagnose gleichbedeutend ist mit der Aussage: "Du hast in deiner Kindheit sehr viel Trauma erlitten." Woran sich aber gar nicht erinnert wird.
Das ist die Stelle mit dem Krebs-Beispiel. Für viele Menschen ist es extrem schlimm zu erfahren, dass sie Trauma erlebt haben.
Für uns war es das nicht. Das Trauma war ja schon da. Der Gedankengang war eher: "Ach, deswegen geht es mir so schlecht. Jetzt, wo ich das weiß, kann ich endlich was dagegen machen!"

Wir empfangen "neue" (unbekannte) Systemmitglieder grundsätzlich mit offenen Armen. Von Anfang an. Neulich haben wir gelesen, dass das gar nicht geht, weil mehr Systemmitglieder ja zwangsläufig auch mehr Trauma heißt und das kann man ja nicht positiv finden.
Und ja. Trauma kann man nicht positiv finden. Deshalb ist es auch vollkommen verständlich, wenn die erste Reaktion ist, Systemmitglieder abzulehnen. Man will nicht traumatisiert sein. Wirklich nicht. Niemand will das.
Nur ist das nicht unsere Lebensrealität. Das Trauma ist ja nicht da, weil man jetzt dieses Systemmitglied kennengelernt hat. Es war schon viel früher da. Deshalb existiert dieses Systemmitglied ja überhaupt. Und das fühlen wir eben, so in uns drinnen. Andere Menschen fühlen es eben nicht, weil es (noch) wichtiger für sie ist, möglichst weit weg von ihrem eigenen Trauma zu sein.
Und ja. Auch wir fühlen und denken manchmal Sachen wie: "Ich bin gar nicht wirklich traumatisiert. Und die DIS bilde ich mir auch nur ein. Genau wie das gesamte Trauma." Aber gleichzeitig ist seit Jahren der größte Punkt, an dem wir arbeiten, unsere Trauma-Akzeptanz. Andere Menschen haben andere Prioritäten. Das hier war unsere.

Wir sind nicht unser Trauma. Wir sind durch Trauma entstanden, aber dass wir jetzt da sind, zeigt nicht mehr Trauma auf, das eigentlich nicht schon vorhanden war. Es ist alles schon passiert. Wir können genauso gut mit den Folgen leben.
Und ja. Vielleicht ist das für andere Menschen schwieriger und das ist vollkommen okay. Das möchte ich immer wieder betonen. Ich möchte nicht erreichen, dass Menschen sich schlecht fühlen, weil sie (noch) viel mit Akzeptanz zu kämpfen haben. Ich möchte erreichen, dass Systeme aufhören, sich gegenseitig ihre Existenz abzusprechen, nur weil ein System anders ist als sie.

Ja. Wir haben weniger Amnesie.
Ja. Wir lieben uns gegenseitig. So gut wie man relativ fremde Menschen eben lieben kann.
Ja. Vielleicht entspricht unser Erleben nicht der Norm.
Aber wir haben trotzdem eine DIS und wir stigmatisieren nichts oder romantisieren Trauma, nur weil das für uns in Ordnung ist.

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.

Sonntag, 25. April 2021

#50: Pronomen

Wir machen diesen Post heute mal anders. Ich hab eine lange Erklärung geschrieben, die mir aber ungenügend vorkommt, weil ich das Problem, das diese Erklärung lösen soll, nicht verstehe.

Es geht um das Thema Pronomen. Leute sind sich oft sehr unsicher, welche Pronomen sie für uns verwenden sollen (Singular oder Plural), also wollten wir es erklären. Ich hatte dann fünfhundert Beispiele rausgesucht, aber hatte das Gefühl, eigentlich hab ich nur zwei Sätze immer und immer wieder geschrieben. Also sage ich erstmal, dass wir es, außer in sehr speziellen Spezialfällen von Pronomen-Falschnutzung, die bisher ein einziges mal in über einem Jahr vorgekommen sind, nicht schlimm finden, wenn man falsche Pronomen benutzt. Wir verbessern es vermutlich, aber es ist im Grunde nicht wichtig. Wir machen es selbst die Hälfte der Zeit nicht richtig (wir sind immerhin mit derselben Sozialisierung aufgewachsen, in der man grundsätzlich Singularpronomen benutzt).

Ansonsten an dieser Stelle eine Anleitung für die richtige Nutzung von Pronomen bei uns:

1. Macht euch bewusst, dass wir ein System sind. Nicht eine Person, die Pluralpronomen benutzt. Wir sind Viele. Das ist nichts anderes, als würdet ihr über eure Klasse/Kollegen reden - da benutzt ihr auch manchmal Pluralpronomen, wenn es um alle als Gesamtheit geht und Singularpronomen + Name, wenn es um eine bestimmte Person aus der Klasse geht.

2. Stellt euch folgende Frage: "Ist meine Nachricht an eine bestimmte Innenperson gerichtet?"
Wenn ja: Singularpronomen. (Wenn die Person gerade nicht draußen ist, solltet ihr dazu erwähnen, an wen die Nachricht denn ist.)
Wenn nein (oder ihr seid euch einfach nicht sicher): Pluralpronomen.

Für mich ist das so natürlich, dass ich mich nicht genug in dieses Problem eindenken kann, um die Ursache der Unsicherheit so richtig zu verstehen. Also ist hier einfach unsere kurze Anleitung und ich frage stattdessen: habt ihr noch Fragen?

Dienstag, 6. April 2021

#47: Eltern

Ich will mal was sagen. Diese Hochstellung von Eltern, die ich manchmal erlebe, kotzt mich richtig an. Eltern müssen einen nicht vergewaltigen, um scheiße zu sein. Eltern müssen nicht die Ausgeburt der Hölle sein, damit es gerechtfertigt ist, sie nicht zu mögen.
Ja, kann sein, dass sie einen lieben und nur überfordert sind oder was auch immer. Kann sein, dass man eigentlich voll wichtig ist und sie es einfach nicht hinbekommen, es vernünftig zu zeigen, weil sie selbst Probleme haben. Es macht das Verhalten aber nicht besser. Es ist scheiß egal, ob ich jemanden liebe, wenn ich es nicht geschissen kriege, dass es auch ankommt. Es ist komplett gleichgültig, ob ich jemanden liebe, wenn ich ihn wie Müll behandel. Wenn ich jetzt anfangen würde, Menschen wie komplette Scheiße zu behandeln, würde auch niemand auf die Idee kommen zu sagen "ja, aber sie liebt xyz ja, mimimi". Niemanden interessiert, dass ich xyz liebe. Ich behandel ihn wie Müll, also ist es komplett verständlich, wenn er mich scheiße findet.

Eltern sind keine magische Einheit, die plötzlich von dieser Regel ausgenommen ist, weil sie Eltern sind. Die haben sich entschieden, ein Kind in die Welt zu setzen. Wenn sie es nicht mal geschissen kriegen, dieses Kind nicht wie Abfall zu behandeln, dann verdienen sie echt keinen Funken von gar nichts. Erst recht nicht von dem Kind, das sie wie Abfall behandeln.
Man muss nicht immer gleich jemanden vergewaltigen, damit man sich komplett scheiße verhält. Das versteht auch jeder in jeder erdenklichen Situation, aber dann kommen Leute an und meinen so Mimimi, es sind ja deine Eltern, Eltern lieben einen doch, bla. Einen Scheiß tun sie. Es ist komplett scheißegal. Du kannst Leute nicht wie Leute behandeln, geht nur Abfall? Dann hast du einfach keine Zuneigung von denen verdient. Schluss, aus, Ende. Es interessiert niemanden, dass du die angeblich voll liebst. Und erst recht macht es keinen verdammten Unterschied, ob du Elternteil bist oder was für eine Scheiße.

Ihr dürft eure Eltern hassen.
Ihr dürft enttäuscht von ihnen sein.
Ihr dürft mehr von ihnen erwarten als diesen Scheiß, den sie euch geben.
Und erst recht dürft ihr den Kontakt zu solchen Abfallmenschen abbrechen und es ist komplett egal, ob das nun eure Eltern sind oder eure Freunde oder eure Partner:innen.
Und ihr braucht dafür auch nicht meine Erlaubnis oder die von irgendwem, ich geb sie euch nur trotzdem, weil ich weiß, wie wichtig es sein kann, dass es mal jemand sagt.

Und die Leute in eurem Leben, die meinen, Eltern sind ja aber total wichtig, bla? Scheiß auf die. Das können die bestesten Freunde sein, dann haben sie halt einmal einfach Unrecht. Kann passieren. Wenn sie euch lieben, dann akzeptieren sie auch, dass ihr aber wisst, dass es für euch besser ist, keine Eltern zu haben.
Und wenn eure Eltern toll sind? Fantastisch. Wirklich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, muss aber ein geiles Gefühl sein. Dieser Post ist definitiv nicht für euch.
Und wenn eure Eltern scheiße sind, aber ihr trotzdem Kontakt haben wollt? Das ist voll okay. Man muss nicht jeden Menschen aus seinem Leben entfernen, der scheiße ist. Es kann gute Gründe geben, auch mit schlechten Eltern in Kontakt zu bleiben.
Ihr solltet nur wissen, dass es komplett okay ist, eure Eltern nicht zu mögen, wenn sie euch keinen Grund dafür gegeben haben. Und dass ihr euch auch jederzeit anders entscheiden könnt. Ihr dürft mit eurer Zeit machen, was ihr wollt. Sie gehört niemandem anders.

Mittwoch, 31. März 2021

#46: Skills

Als wir das erste mal bei einer Psychologin waren, Januar 2013, war unser größtes (bekanntes) Problem, dass wir uns selbst verletzten. Wir hatten keine Ahnung, dass wir traumatisiert waren, zu dem Zeitpunkt nicht mal eine Vermutung, verstanden nicht, dass wir konstant Angst vor Menschen hatten und erkannten nicht mal, dass der Grund dafür, dass wir uns selbst verletzten war, dass wir durchgehend gestresst und überfordert waren.
Unsere Therapeutin gab uns eine kleine Liste mit Skills, die wir ausprobieren sollten und als davon absolut keiner half, gab sie uns eine sehr, sehr große Liste. Ich glaube, dort standen 500 Sachen drauf. Sogar nach Sinnesreizen geordnet, falls man schon eine grobe Idee hatte, was einem helfen könnte.
Wir hielten damals schon nichts von Skills und tun es immer noch nicht. Für uns ist das einfach nichts, was sich sinnvoll anfühlt. Das Gefühl, sich selbst verletzen zu wollen, war in unseren Augen nie das Problem - das Problem war, dass wir uns überhaupt schlecht genug fühlten, um so etwas zu brauchen. Es verändert sich nichts, nur weil man einen anderen Weg findet, sich kurzzeitig zu entstressen. Klar, der andere Weg ist für den Körper gesünder und generell weniger gefährlich, aber für die Psyche tut es erstmal überhaupt nichts (für uns).
Natürlich haben wir mittlerweile auch "Skills", die wir machen, wenn es uns schlecht geht. Aber das wichtige für uns ist, dass wir es nicht machen, weil Selbstverletzung böse ist. Das ist sie nicht. Sie ist genauso hilfreich wie alles andere auch (nur eben auch gefährlich). Sondern wir machen diese Dinge, weil sie uns in dem Moment am meisten helfen. Und manchmal verletzen wir uns selber, weil uns das in dem Moment am meisten hilft. Das ist dann halt so. Wir müssen nicht krampfhaft versuchen es zu ändern.

Natürlich gibt es aber auch Menschen, denen Skills im Allgemeinen sehr helfen und so wurden wir neulich, als wir in einem Gespräch diese Liste erwähnten, gefragt, ob wir sie noch haben. Leider haben wir sie nicht mehr, aber dadurch, dass wir gefühlt hundert Sachen von der Liste ausprobiert haben bevor wir die Therapie absolut bescheuert fanden und sie abgebrochen haben, ist in unserem Gedächtnis trotzdem einiges hängen geblieben.
Deshalb dachten wir, wir schreiben einfach mal auf, was uns so alles einfällt.
Es ist wichtig zu wissen - zumindest ist das bei uns so -, dass man keinen Skill finden kann, der in absolut jeder Situation hilft. Teilweise kann man Dinge in bestimmten Situationen einfach nicht machen (zum Beispiel losrennen, während man gerade in der Schule eine Präsentation hält) und außerdem kommt es auch immer sehr darauf an, warum es einem denn schlecht geht. Bei uns entscheidet sich unser Umgang mit der Situation sehr stark, je nachdem, ob wir eher dissoziieren oder eher überfordert sind, alleine oder unter Menschen sind, unter Freunden oder unter Fremden sind, ... und so weiter.

Unser wichtigster Skill ist Bewegung. Das muss nicht unbedingt Sport sein, aber Sport hilft unglaublich viel. Laut Musik an, viel bewegen, am besten währenddessen noch mitsingen, damit man auch schön außer Atem kommt. (Bitte nicht machen, wenn ihr nicht einschätzen könnt, wann etwas zu anstrengend wird. Es gibt ja einige Menschen, die so stark von sich selbst dissoziieren, dass sie Überanstrengung nicht mehr wahrnehmen.) Teilweise gehen wir auch einfach Spazieren. Oder wir laufen bei 5 Grad im T-Shirt auf unserem Balkon hin und her. Das sind nämlich gleich zwei Skills in einem -
Kälte. Bei viel zu wenig Grad für eine Minute in zu wenig Kleidung rausgehen. Kaltes Wasser über die Pulsadern laufen lassen. Kalt duschen. Sport machen und danach kalt duschen (auch wenn man nicht gestresst ist ein sehr tolles Gefühl, vor allem im Sommer!).

Wir machen außerdem extrem viel mit unseren Händen. Auf Kleidung herumrubbeln (deshalb gehen alle unsere Hosen irgendwann immer über dem rechten Knie kaputt). Mit den Fingernägeln auf Sachen rumtippen. Dinge in den Händen drehen. Sachen (unser Handy) in die Luft werfen und wieder auffangen. (Das bitte nur, wenn euer Handy einen Fall auf den Boden überlebt.) Neulich haben wir Knete entdeckt, wobei wir die nur in unserer Wohnung benutzen, weil man sonst solche Knetrückstände an den Händen hat, wenn man sie nicht waschen kann und das fühlt sich nicht toll an. Wenn wir bei anderen Menschen sind, umarmen wir diese gerne, insofern sie das möchten. Oder wir knuddeln Plüschtiere!

Ungesündere Skills, die wir nutzen, sind Selbstverletzung (meistens Fingernägel irgendwo in der Haut vergraben oder diese aufkratzen) und Essen.

Früher war tatsächlich einkaufen ein Skill, wir fanden es einfach voll toll, in Läden zu gehen und uns all die tollen Sachen anzugucken. Wir haben meistens nicht mal was gekauft oder nur eine Paprika, die wir eh noch fürs Abendessen brauchten oder so. Es war einfach so schön zu sehen, was es alles für tolle Sachen auf der Welt gibt!
Während Corona ist Einkaufen natürlich eher Stress als irgendetwas anderes.

Und damit kommen wir nun zu der Liste. Das sind einfach alle Sachen, die uns einfallen, die uns damals gesagt wurden, die wir mal von jemand anderem gehört haben oder selbst ausprobiert haben. In keiner bestimmten Ordnung und ohne lange Erklärungstexte. Einfach so für andere Menschen als Inspiration.

- in eine Chili beißen
- Eiswürfel lutschen
- Bewegung
- Sport
- kalt duschen
- heiß duschen
- kaltes Wasser auf Pulsadern
- mit einem roten Stift Linien auf die Arme zeichnen (dafür eignen sich so billige Aquarell-Buntstifte sehr gut, insofern man sie vorher kurz in Wasser hält)
- laut Musik hören
- Tanzen
- entspannende Musik hören
- Videospiele
- 40 minütige Sprachnachricht an persönliches ruru darüber machen, warum diese eine Person/Situation einfach so richtig beschissen ist
- mit einem Gummiband gegen das Handgelenk schnalzen
- Igelbälle kneten
- Igelbälle auf einem rumrollen
- Baden, am besten mit irgendwelchen tollen Duftsalzen oder ähnlichem
- Duftkerzen anzünden
- toll riechenden Tee machen (zum Beispiel Mandelmilch-Tee von TeeGschwender!)
- Zeichnen (muss nicht hübsch sein, einfach seltsame Kringel oder so)
- bewusst atmen (bitte passt da auf euch auf, wenn ihr traumatisiert seid; das kann wohl triggern)
- Knete kneten (wir machen da gerne geometrische Formen draus, also Kugeln, Zylinder, Pyramiden, ...)
- mit Freunden reden
- Schreiben
- Mathematik (natürlich nur, wenn man das mag; wie bei allem anderen auch)
- flauschige Streams schauen
- Dinge schauen/lesen, bei denen man etwas fühlt (wir schauen oft sehr traurige Animes, wenn wir dieses Gefühl von "ich fühle nichts, will aber was fühlen" haben)
- toll riechende (Hand)Creme
- Kochen
- sich ganz fest in eine Decke einwickeln (hilft wohl vielen Menschen, weil es angeblich Sicherheit gibt ... wir fühlen uns dadurch total eingeengt und bekommen Angst; bitte immer auf euer eigenes Gefühl hören)
- sich nicht fest in eine lockere, flauschige Decke wickeln
- heiße Schokolade machen
- diese Bläschen bei Luftpolsterfolie zerdrücken
- Schlafen
- Dinge zerreißen (endlich könnt ihr all die Kartons, die ihr noch zum Müll bringen müsst, klein hacken!)
- Dinge aufzählen, die man sieht, die eine bestimmte Farbe haben
- eine genaue Liste machen mit allen Sachen, die man noch machen muss (hilft, wenn man sich überfordert fühlt, weil man sich dann an etwas langhangeln kann)
- Ausmalbücher
- Singen
- Selbstgespräche (sich selbst sagen, dass alles gut ist/wird)

Wenn ihr Sachen findet, die euch helfen, könnt ihr am besten eine Liste machen, vielleicht sogar mit Notiz in welchen Situationen diese Dinge genau helfen und in welchen nicht, dann müsst ihr euch, wenn es euch schlecht geht, nur die Liste anschauen und vermutlich findet ihr irgendetwas, das hilft.

Donnerstag, 11. März 2021

#43: Dungeons, Dragons & Dissoziation

Heute mal ein ganz anderes Thema: vor etwa einem Jahr haben wir angefangen, uns für Dungeons & Dragons/Roleplay allgemein zu interessieren. Allerdings hatten wir zu dem Zeitpunkt schon mehrfach gehört, dass andere Systeme teilweise ihre DnD-Charaktere introjected hatten.
Eine kurze Erklärung zu Introjects: Introjects sind Innenpersonen, die quasi ein Abbild einer fiktiven oder realen Person sind. Darüber gibt es, soweit wir wissen, nicht sehr viel Literatur, aber in unserem Verständnis entsteht das dadurch, dass das Gehirn sich in einer bestimmten traumatischen Situation etwas sehr bestimmtes wünscht, manchmal eben auch einen sehr bestimmten Menschen. Und dann entsteht eben eine Innenperson, die dem ähnlich ist.

Wir hatten das also schon öfter gehört und hatten Angst, dass das bei uns auch passieren würde. Natürlich braucht es für die Entstehung einer neuen Innenperson immer noch eine traumatische oder zumindest extrem stressige Situation, allerdings kann so etwas ja immer passieren. Es ist natürlich nicht sonderlich wahrscheinlich, wenn man, wie wir, in äußerer Sicherheit lebt, aber möglich ist eben alles.
Als wir uns wegen Corona aber immer einsamer fühlten, beschlossen wir, es doch mal auszuprobieren und ich gab mir sehr viel Mühe einen Charakter zu schreiben, der verschiedene Persönlichkeitsmerkmale, die wir im System schon breitflächig haben, abdeckte, weil ich mir sicher war, dass unser Gehirn so jemanden gar nicht brauchen würde: wir hatten solche Innenpersonen ja schon. Das ist jetzt über ein halbes Jahr her und in dieser Zeit kam auch keine einzige Situation vor, in der wir überhaupt eine neue Innenperson gebraucht hätten.

Gerade schreiben wir zum ersten mal einen Charakter, der tatsächlich absolut nicht wie irgendjemand von uns ist. Klar: bestimmten Innenpersonen ist er ähnlicher als anderen, viele Eigenschaften teilt er sich auch mit einigen Innenpersonen. Das ist wohl etwas, das man nicht vermeiden kann, wenn man eine DIS hat. Aber trotzdem hat er ganz fundamental andere Ansichten und eine fundamental andere Lebensrealität. Aber ich habe überhaupt keine Angst mehr. Tatsächlich sehe ich das ganze mittlerweile als große Chance:

wenn man übt, andere Menschen zu spielen, übt man zwangsläufig auch, wie andere Menschen zu denken. Ich glaube, das ist etwas, was für eine DIS unglaublich nützlich sein kann. Sich in andere Menschen reinversetzen, ihre Gedankengänge wirklich nachzufühlen, ihr Verhalten zu verstehen. Ich habe als Therapieziel unter anderem gesetzt, alle anderen so gut kennenzulernen, dass ich immer Entscheidungen treffen kann, mit denen die Mehrheit zufrieden ist. Wir treffen zwar Entscheidungen, wenn möglich, demokratisch, allerdings ist es oft schlichtweg dadurch nicht möglich, dass man wenig Zeit für Entscheidungen hat. Da kann man manchmal von niemandem Rückmeldung erhalten oder nur von einigen wenigen Innenpersonen - zumindest bei unserer eher schlechten inneren Kommunikation.
Dadurch, dass ich sehr wenig Amnesie habe, kenne ich aber viele Innenpersonen: zumindest ihr Verhalten. Ihre Gedanken natürlich nicht. Aber wenn ich mich da reindenken kann (und natürlich Rücksprache halte), dann kann ich vielleicht Entscheidungen treffen, die annährend das sind, was diese Innenperson wollen würde.

Meine Angst habe ich auch abgelegt: alle unsere Charaktere sind Personen, die ich gerne in meinem Leben hätte. Wenn etwas erneut traumatisches geschieht, dann entsteht ohnehin höchstwahrscheinlich eine neue Innenperson. Ob diese dann einem der Charaktere nachempfunden ist oder nicht, spielt da im Endeffekt dann keine Rolle. Die einzige Rolle, die es spielt, ist, dass es auf Außenpersonen dann vielleicht noch mehr so wirken würde, als wäre die DIS im Prinzip nur ein zu groß geratenes Roleplaying-Hobby. Aber Menschen denken ohnehin, was sie denken wollen. Vermutlich werden sie das auch denken, einfach, weil ich DnD als Hobby angeben würde.

Und ich habe etwas gelernt: Dissoziation ist kein ausschließlich einschränkender Mechanismus. Dass ich von mir selber dissoziieren kann, erlaubt mir, meine Charaktere zu fühlen, als wären sie ich. Einfach so. Ich muss mir keine Mühe geben. Es ist das normalste der Welt, in ihren Gedanken zu sein. Das macht mich zu keiner besseren Roleplayerin - ich erlange nicht plötzlich Fähigkeiten, die ich nicht habe. Aber es erlaubt mir, in einem von mir distanzierten Umfeld Gefühle zuzulassen, die ich normalerweise, für mich, nicht zulassen kann. Ich glaube, das ist unglaublich wichtig. Ich glaube tatsächlich, dass das unglaublich hilfreich sein kann.
Ich merke zum Beispiel, dass Wut auch wichtig sein kann. Um Menschen zu beschützen. Um seine Grenzen wahrzunehmen und einzufordern. Es ist kein Gefühl mehr, dass mir fremd ist, weil ich mich grauenvoll fühle, solange ich es länger als eine Sekunde spüre und deshalb um jeden Preis versuche, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich fühle mich danach zwar trotzdem körperlich total erschöpft, aber eben nicht traumatisiert: ich dissoziiere nicht. Es ist nicht überfordernd. Es ist einfach da und wenn ich will, kann ich die Session beenden und dann hört es direkt wieder auf. Oder man springt drei Tage weiter und denkt sich 'hey, mein Charakter wäre jetzt nicht mehr wütend' und puff, ist es weg.

Ich habe die Theorie, dass das mit Trauma-Aufarbeitung genauso funktionieren könnte, auch wenn ich es nicht ausprobiert habe. Dass man sein Trauma nimmt und weit genug von sich entfernt in einem anderen Charakter ansiedelt, sodass es dasselbe Thema behandelt, aber ohne die Erinnerungen, ohne die Zusammenhänge, ohne, dass man es ansieht und sofort an alles denken muss.
Und dann tut es immer noch weh. Dann tut es weh, dass Mae [unsere Druidin] sehr wichtige Menschen verloren hat, aber es tut eben in diesem Universum weh und nicht in unserem und es hat nichts damit zu tun, dass wir wichtige Menschen verloren haben, der Schmerz ist nur derselbe. Vielleicht, ganz vielleicht, kann es einfacher werden, sich damit zu beschäftigen, wenn man in einem fiktiven Szenario gelernt hat, dass man auch lernen kann, damit umzugehen. Das ist momentan nur meine Therorie.
Ich fand es trotzdem wichtig, es zu erwähnen.

Donnerstag, 14. Januar 2021

#35: was Trauma ist

Ich war immer stolz darauf, wie gut ich über mein Trauma, Trauma allgemein, Traumafolgen und all diese Themen, über die Menschen nicht nachdenken wollen, sprechen konnte. "I'm like a walking talking slap in the face for people", hat Claire Wineland mal gesagt und ich fühlte mich repräsentiert. Ich zwinge Menschen, sich mit unangenehmen Realitäten auseinanderzusetzen, einfach durch meine Existenz.
"Akzeptanz geschieht nicht in Abwesenheit", hat Dawn mal gesagt, weil über Trauma so viel geschwiegen wird, außerhalb der traumatisierten Kreise. Wie schön es doch wäre, einen Teil zur Lösung beitragen zu können.

Aber eigentlich rede ich gar nicht über Trauma. Ich rede über die ekelhafte Realität, zu der ich maximalen Abstand habe.
Wir sind Betroffene von Kinderpornografie. Unser Vater hat uns verkauft. Deshalb haben wir eine DIS. Lass mich all die Fragen dazu beantworten, die Menschen haben, damit ich das Gefühl haben kann, ich hätte irgendetwas über mein Leben gesagt.

Mein Leben liegt mitten in der Nacht weinend im Bett, weil ich meinen Fuß verletzt habe und sowohl der Arzt als auch das Internet meinten, das dauert so 2-3 Monate, um zu heilen, aber es ist jetzt schon vier Monate her und es ist nicht annährend geheilt, es wird nicht mal mehr besser und ich blicke zurück auf meine Knieverletzung im Sommer 2013, die auch immer neue Heilungsprognosen hatte, bis sich im Juni 2014 damit abgefunden wurde, dass ich wohl für immer Schmerzen haben werde. Und ich denke: vielleicht werde ich nie wieder richtig laufen können. Und obwohl ich am allerbesten weiß, dass man mit allem einen Umgang lernt, wenn es lange genug ein Problem ist, dass man sich mit den Stützbandagen und dem Niewiederrennenkönnen abfindet, tönt mein Gehirn: deineschulddeineschulddeineschuld. Obwohl es nicht meine Schuld ist.
Ich hätte ins Krankenhaus gehört, ja, das weiß ich. Stattdessen bin ich nach Hause gelaufen. Hätte sich sofort ein vernünftiger Arzt darum gekümmert und nicht erst nach fünf Wochen, wäre es vermutlich besser geheilt.
Aber Schuld sind trotzdem all die Leute im Bahnhof, vor deren Augen ich eine Treppe runtergefallen bin und die mir alle das Gefühl gegeben haben, dass ich keine Hilfe verdiene, und unser Vater, der dafür gesorgt hat, dass Schmerzen uns die Sprache verschlagen, sodass wir auch nicht nach Hilfe fragen konnten, und die Hausärztin, bei der ich sofort, zwei Stunden später, war, die der Meinung war, es kann nicht superschlimm sein, weil ich noch ohne Probleme laufen kann, trotz der ungewöhnlich starken Schmerzen beim Berühren, weil sie zu wenig Ahnung von Trauma hat, um zu verstehen, dass die Schmerzen beim Laufen einfach dissoziiert wurden.
Das weiß ich, so ganz intellektuell. Genauso wie, dass Verletzungen manchmal eben länger brauchen, um zu heilen und man im Notfall auch meistens noch mit Operationen alles retten kann und im Endeffekt doch alles wieder gut ist.
Aber ich weiß es eben nicht. Ich fühle es nicht. Nur ist das Trauma, über das ich nie rede. Die Schuldgefühle für alles und jeden und die Paranoia und die Albträume und all die gottverdammte Angst. Das ist schön säuberlich in meinen Gedanken gestapelt, wo es beinahe niemand jemals sieht.

Früher habe ich sehr viel über diese Probleme geredet, bis ich gemerkt habe, dass das schlecht für mich ist, wenn ich mich so viel damit beschäftige, aber einen Mittelpunkt habe ich nie gefunden. Ich kann Menschen mittlerweile sagen, wenn sie mich verletzen, aber wie dieses Verletztsein aussieht, das sieht maximal ruru. Ich konnte aufhören, Menschen hinterherzurennen, aber das ändert nichts daran, dass sie jeden einzelnen Tag fehlen. Es erfährt nur niemand mehr.
Das ist nicht schlimm. Niemand muss über so etwas reden. Aber es fühlt sich so, so heuchlerisch an. Dabei rede ich nicht mal deswegen nicht darüber, dass ich mich nicht traue oder dass ich denke, dass mich alle hassen oder ich ihre kostbare Zeit wegnehme. Es fühlt sich nur einfach nicht sinnbringend an. Ich könnte genauso gut mit der Wand reden. Ich habe seit Jahren immer wieder dieselben Probleme und es konnte nie irgendjemand helfen, warum sollte jetzt irgendetwas anders sein?

Gleichzeitig versuche ich über Trauma zu schreiben, aber Trauma sind im Endeffekt nicht all diese großen Themen von Flashbacks und Schuld oder Depressionen. Trauma ist, sich am Fuß zu verletzen und keine Hilfe zu bekommen und deshalb vier Monate lang regelmäßig im Bett zu liegen und zu denken: deineschulddeineschulddeineschulddeineschuld. Trauma ist, mitten auf der Straße eine Taube zu sehen und plötzlich ist man wieder da, in dem Raum mit all den Federn und dem viel zu großen Bett, aber das Schlimme ist gar nicht, dass man da war, sondern dass man danach drei Monate lang Angst vor Tauben hat, während man mitten in Hamburg wohnt, und dass man danach ganz genau Tauben beobachten muss, wie sie durch die Gegend fliegen, wie ihr Gefieder eigentlich total hübsch schimmert im Kontrast zu all dem Grau und dass es im Endeffekt zwei kleine Babytauben auf dem Weg braucht, die gerade zum ersten mal mit ihren Eltern zusammen alleine Essen sammeln gehen, damit man sie wieder okay findet.
Trauma ist, mitten in der Nacht aufzuwachen und ruru anzuflehen, dass er nicht weggeht, weil man einen Albtraum hatte, wo er weggegangen ist, obwohl ruru nie gehen würde oder wenn, dann würde man es Monate im Voraus erfahren. "Ich mach auch alles, was du willst", sagen einzelne von uns oft, als würde ruru jemals irgendetwas wollen außer da zu sein.

Trauma sind all die kleinen Dinge, die jeden Tag passieren. Keine großen Themen. Einfach nur die Tatsache, dass irgendwann irgendetwas passiert ist und jetzt funktioniert das gesamte Gehirn anders als es eben eigentlich sollte.
Aber darüber rede ich nicht.
Das hat in meinem Leben keinen Platz.
Und das ist eigentlich traurig.
Weil Trauma so viel mehr als die großen, großen Themen ist, nur kann ich das überhaupt nicht zeigen.

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Ich glaube, es ist sehr bezeichnend für diesen Text, dass er seit über einem Monat hier rumliegt und ich erst jetzt das Gefühl habe, ihn veröffentlichen zu können, wo ich anhängen kann: wir hatten ein MRT. Unserem Fuß geht es mittlerweile besser, der scheint einfach nur ungewöhnlich langsam zu heilen. Dafür haben wir eine Knochenprellung am Knie, die vermutlich deutlich länger braucht, um zu heilen, aber auch die sollte wieder heilen. Das dauert wohl nur mal gerne über ein halbes Jahr.
Ich kann auch deshalb nicht über Probleme reden, die ich habe, weil ich nicht möchte, dass sich Menschen Sorgen um mich machen.
Der Text ist trotzdem wichtig.

Samstag, 9. Januar 2021

#34: Selbsthass

Donnerstag hatten wir einen Psychologen-Termin. Hätten gehabt jedenfalls. Wir haben ihn abgesagt.
Donnerstag sind wir aufgewacht und es ging uns nicht gut, ein bisschen schwindelig, ein bisschen schlecht. Mittwoch hatten wir Halsschmerzen.
Mittwoch meinte ich schon, wenn es uns Donnerstag nicht gut geht oder wir nochmal Halsschmerzen haben, sagen wir den Termin ab. Es könnte ja Corona sein.
Und trotzdem lag ich Donnerstag im Bett und mein Gehirn sagte mir: "Du bist richtig unfähig. Es geht dir nicht mal wirklich schlecht. Und wegen so was willst du einen Termin absagen? Lächerlich. Sie wird bestimmt böse auf dich sein. Du musst bestimmt auch die Ausfallgebühr bezahlen, weil du zu spät abgesagt hast. Und das alles, weil dir ein bisschen schwindelig ist? Gott, du bist so unfähig."
Ich sagte zurück: "Aber ich will doch nur niemanden anstecken." Nur war das nicht wichtig. Ich war unfähig. Es ging mir nicht wirklich schlecht, also durfte ich auch nicht absagen.
Das hörte ich so lange bis ich mir selbst ganz unsicher war. Am Ende fragte ich ruru und er meinte, ich sollte den Termin absagen. Das tat ich dann auch.
"Unfähiges Stück Scheiße", tönte es in meinem Kopf wieder. "Wegen dir wird sie böse auf uns sein. Und dann müssen wir die Ausfallgebühren zahlen. So viel Geld haben wir gar nicht. Du stellst dich total an. Als ob man krank ist, nur weil man ein bisschen Halsschmerzen hat."
"Wenn sie böse auf uns ist, weil wir niemanden mit einer potentiell tödlichen Krankheit anstecken wollen, ist sie unflauschig", sagte ich zurück. Das interessierte meine Gedanken jedoch herzlich wenig.

Ich habe Donnerstag gelernt: Selbsthass macht vor nichts und niemandem Halt. Es ist die Reaktion auf ein Verhalten, von dem man antrainiert bekommen hat, dass es falsch ist. (Zumindest in diesem Moment.)
Es ist nicht wichtig, weshalb wir etwas machen. Oder wofür. Es ist nicht wichtig, dass wir nicht wollen, dass Menschen sterben. All das interessiert Selbsthass nicht.

"Momentan ist eine gute Müllaussortierungszeit", sagte ich Mittwoch zu ruru. "Man sieht genau, wem andere Menschen wichtig sind und wem nicht."
Aber jetzt denke ich: vielleicht ist es nicht so einfach. Was hätten wir gemacht, wenn wir kein ruru gehabt hätten? Wären wir hingegangen?
Ich möchte mir einbilden, dass das nicht passiert wäre. Weil wir selber wissen, wie sich das anfühlt, eine Lungenentzündung zu haben und fast zu sterben. Weil uns Menschen so, so wichtig sind. Weil wir niemandem wehtun wollen.
Aber wir haben gelernt, dass das alles für den eigenen Gedankenprozess plötzlich unglaublich unwichtig werden kann. Hauptsache niemand ist böse auf einen. Wenn Menschen böse sind, dann passieren ganzschlimmedinge.

Vielleicht ist es nicht so einfach.
Ich weiß es wirklich nicht.
Also dachte ich, ich schreibe es mal auf.