Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Mittwoch, 31. März 2021

#46: Skills

Als wir das erste mal bei einer Psychologin waren, Januar 2013, war unser größtes (bekanntes) Problem, dass wir uns selbst verletzten. Wir hatten keine Ahnung, dass wir traumatisiert waren, zu dem Zeitpunkt nicht mal eine Vermutung, verstanden nicht, dass wir konstant Angst vor Menschen hatten und erkannten nicht mal, dass der Grund dafür, dass wir uns selbst verletzten war, dass wir durchgehend gestresst und überfordert waren.
Unsere Therapeutin gab uns eine kleine Liste mit Skills, die wir ausprobieren sollten und als davon absolut keiner half, gab sie uns eine sehr, sehr große Liste. Ich glaube, dort standen 500 Sachen drauf. Sogar nach Sinnesreizen geordnet, falls man schon eine grobe Idee hatte, was einem helfen könnte.
Wir hielten damals schon nichts von Skills und tun es immer noch nicht. Für uns ist das einfach nichts, was sich sinnvoll anfühlt. Das Gefühl, sich selbst verletzen zu wollen, war in unseren Augen nie das Problem - das Problem war, dass wir uns überhaupt schlecht genug fühlten, um so etwas zu brauchen. Es verändert sich nichts, nur weil man einen anderen Weg findet, sich kurzzeitig zu entstressen. Klar, der andere Weg ist für den Körper gesünder und generell weniger gefährlich, aber für die Psyche tut es erstmal überhaupt nichts (für uns).
Natürlich haben wir mittlerweile auch "Skills", die wir machen, wenn es uns schlecht geht. Aber das wichtige für uns ist, dass wir es nicht machen, weil Selbstverletzung böse ist. Das ist sie nicht. Sie ist genauso hilfreich wie alles andere auch (nur eben auch gefährlich). Sondern wir machen diese Dinge, weil sie uns in dem Moment am meisten helfen. Und manchmal verletzen wir uns selber, weil uns das in dem Moment am meisten hilft. Das ist dann halt so. Wir müssen nicht krampfhaft versuchen es zu ändern.

Natürlich gibt es aber auch Menschen, denen Skills im Allgemeinen sehr helfen und so wurden wir neulich, als wir in einem Gespräch diese Liste erwähnten, gefragt, ob wir sie noch haben. Leider haben wir sie nicht mehr, aber dadurch, dass wir gefühlt hundert Sachen von der Liste ausprobiert haben bevor wir die Therapie absolut bescheuert fanden und sie abgebrochen haben, ist in unserem Gedächtnis trotzdem einiges hängen geblieben.
Deshalb dachten wir, wir schreiben einfach mal auf, was uns so alles einfällt.
Es ist wichtig zu wissen - zumindest ist das bei uns so -, dass man keinen Skill finden kann, der in absolut jeder Situation hilft. Teilweise kann man Dinge in bestimmten Situationen einfach nicht machen (zum Beispiel losrennen, während man gerade in der Schule eine Präsentation hält) und außerdem kommt es auch immer sehr darauf an, warum es einem denn schlecht geht. Bei uns entscheidet sich unser Umgang mit der Situation sehr stark, je nachdem, ob wir eher dissoziieren oder eher überfordert sind, alleine oder unter Menschen sind, unter Freunden oder unter Fremden sind, ... und so weiter.

Unser wichtigster Skill ist Bewegung. Das muss nicht unbedingt Sport sein, aber Sport hilft unglaublich viel. Laut Musik an, viel bewegen, am besten währenddessen noch mitsingen, damit man auch schön außer Atem kommt. (Bitte nicht machen, wenn ihr nicht einschätzen könnt, wann etwas zu anstrengend wird. Es gibt ja einige Menschen, die so stark von sich selbst dissoziieren, dass sie Überanstrengung nicht mehr wahrnehmen.) Teilweise gehen wir auch einfach Spazieren. Oder wir laufen bei 5 Grad im T-Shirt auf unserem Balkon hin und her. Das sind nämlich gleich zwei Skills in einem -
Kälte. Bei viel zu wenig Grad für eine Minute in zu wenig Kleidung rausgehen. Kaltes Wasser über die Pulsadern laufen lassen. Kalt duschen. Sport machen und danach kalt duschen (auch wenn man nicht gestresst ist ein sehr tolles Gefühl, vor allem im Sommer!).

Wir machen außerdem extrem viel mit unseren Händen. Auf Kleidung herumrubbeln (deshalb gehen alle unsere Hosen irgendwann immer über dem rechten Knie kaputt). Mit den Fingernägeln auf Sachen rumtippen. Dinge in den Händen drehen. Sachen (unser Handy) in die Luft werfen und wieder auffangen. (Das bitte nur, wenn euer Handy einen Fall auf den Boden überlebt.) Neulich haben wir Knete entdeckt, wobei wir die nur in unserer Wohnung benutzen, weil man sonst solche Knetrückstände an den Händen hat, wenn man sie nicht waschen kann und das fühlt sich nicht toll an. Wenn wir bei anderen Menschen sind, umarmen wir diese gerne, insofern sie das möchten. Oder wir knuddeln Plüschtiere!

Ungesündere Skills, die wir nutzen, sind Selbstverletzung (meistens Fingernägel irgendwo in der Haut vergraben oder diese aufkratzen) und Essen.

Früher war tatsächlich einkaufen ein Skill, wir fanden es einfach voll toll, in Läden zu gehen und uns all die tollen Sachen anzugucken. Wir haben meistens nicht mal was gekauft oder nur eine Paprika, die wir eh noch fürs Abendessen brauchten oder so. Es war einfach so schön zu sehen, was es alles für tolle Sachen auf der Welt gibt!
Während Corona ist Einkaufen natürlich eher Stress als irgendetwas anderes.

Und damit kommen wir nun zu der Liste. Das sind einfach alle Sachen, die uns einfallen, die uns damals gesagt wurden, die wir mal von jemand anderem gehört haben oder selbst ausprobiert haben. In keiner bestimmten Ordnung und ohne lange Erklärungstexte. Einfach so für andere Menschen als Inspiration.

- in eine Chili beißen
- Eiswürfel lutschen
- Bewegung
- Sport
- kalt duschen
- heiß duschen
- kaltes Wasser auf Pulsadern
- mit einem roten Stift Linien auf die Arme zeichnen (dafür eignen sich so billige Aquarell-Buntstifte sehr gut, insofern man sie vorher kurz in Wasser hält)
- laut Musik hören
- Tanzen
- entspannende Musik hören
- Videospiele
- 40 minütige Sprachnachricht an persönliches ruru darüber machen, warum diese eine Person/Situation einfach so richtig beschissen ist
- mit einem Gummiband gegen das Handgelenk schnalzen
- Igelbälle kneten
- Igelbälle auf einem rumrollen
- Baden, am besten mit irgendwelchen tollen Duftsalzen oder ähnlichem
- Duftkerzen anzünden
- toll riechenden Tee machen (zum Beispiel Mandelmilch-Tee von TeeGschwender!)
- Zeichnen (muss nicht hübsch sein, einfach seltsame Kringel oder so)
- bewusst atmen (bitte passt da auf euch auf, wenn ihr traumatisiert seid; das kann wohl triggern)
- Knete kneten (wir machen da gerne geometrische Formen draus, also Kugeln, Zylinder, Pyramiden, ...)
- mit Freunden reden
- Schreiben
- Mathematik (natürlich nur, wenn man das mag; wie bei allem anderen auch)
- flauschige Streams schauen
- Dinge schauen/lesen, bei denen man etwas fühlt (wir schauen oft sehr traurige Animes, wenn wir dieses Gefühl von "ich fühle nichts, will aber was fühlen" haben)
- toll riechende (Hand)Creme
- Kochen
- sich ganz fest in eine Decke einwickeln (hilft wohl vielen Menschen, weil es angeblich Sicherheit gibt ... wir fühlen uns dadurch total eingeengt und bekommen Angst; bitte immer auf euer eigenes Gefühl hören)
- sich nicht fest in eine lockere, flauschige Decke wickeln
- heiße Schokolade machen
- diese Bläschen bei Luftpolsterfolie zerdrücken
- Schlafen
- Dinge zerreißen (endlich könnt ihr all die Kartons, die ihr noch zum Müll bringen müsst, klein hacken!)
- Dinge aufzählen, die man sieht, die eine bestimmte Farbe haben
- eine genaue Liste machen mit allen Sachen, die man noch machen muss (hilft, wenn man sich überfordert fühlt, weil man sich dann an etwas langhangeln kann)
- Ausmalbücher
- Singen
- Selbstgespräche (sich selbst sagen, dass alles gut ist/wird)

Wenn ihr Sachen findet, die euch helfen, könnt ihr am besten eine Liste machen, vielleicht sogar mit Notiz in welchen Situationen diese Dinge genau helfen und in welchen nicht, dann müsst ihr euch, wenn es euch schlecht geht, nur die Liste anschauen und vermutlich findet ihr irgendetwas, das hilft.

Montag, 29. März 2021

#45: Gesund werden

"Wenn du entscheiden könntest, morgen plötzlich gesund zu sein, würdest du das machen?", ist eine Frage, die chronisch kranken Menschen relativ häufig gestellt wird. Viele antworten mit Ja, andere auch mit Nein, weil sie gar nicht wissen, wie das aussehen soll: gesund sein.
Wenn du ab morgen ein Medikament nehmen könntest, dass dich gesund macht, würdest du das tun?

Vor über sieben Jahren gab es eine Studie über ein Medikament, das unseren Gendefekt aushebeln sollte. Dafür muss man wissen: unsere Erkrankung entsteht dadurch, dass ein bestimmtes Protein bei uns nicht richtig gebildet wird und somit nicht funktionsfähig ist. Die Idee war, dass das Medikament den Zellen sozusagen zeigen könnte, wie sie dieses Protein richtig herstellen.
Die Realität war, dass es nur bei einem Bruchteil der Zellen funktionierte. Trotzdem blieb die Wirkung unübersehbar: einen ganzen Monat lang hatten wir Lungenschmerzen und Husten, Husten, Husten. Unsere Lunge machte Frühjahrsputz. Sie hatte endlich zumindest einen halben Besen.
Dieses Medikament nehmen wir seitdem. Seit einer Weile gibt es ein neues, verbessertes, das tatsächlich bei einem Großteil der Zellen wirkt. Das nehmen wir seit Mitte Februar.

Natürlich macht uns das Medikament nicht gesund. Es funktioniert immer noch nicht bei jeder einzelnen Zelle. Unsere Lunge hat von all dem Kranksein Vernarbungen, die nie weggehen werden und auch unsere Bauchspeicheldrüse ist teils unwiderruflich kaputt. Unsere Leber sieht aus, als würden wir zu viel Alkohol trinken und mehr Medikamente machen es garantiert nicht besser. Ganz zu schweigen davon, dass wir das Medikament für den Effekt natürlich für immer nehmen müssten.
Aber gesunde Zellen klingen trotzdem extrem toll. Also nehmen wir es eben bis es unsere Leber genug zerstört hat, dass wir es absetzen müssen. Aber man kann ja die Hoffnung haben, dass das nicht passiert.

Mitte Februar fingen wir also an, es zu nehmen. Ab jetzt wird es ein wenig eklig (biologisch vollkommen normal). Nach sechs Stunden fing es an: unsere Lunge fing an zu putzen. Innerhalb von einem Tag wurden wir mehr Schleim los als sonst in einem Monat. Wir fühlten uns schrecklich. Die ganze Zeit Husten. Unsere Nase lief ununterbrochen. Unsere Nasennebenhöhlen fingen an wehzutun. Nach zwei Tagen bekamen wir Lungenschmerzen. Daraufhin beschlossen wir, die Dosis erstmal zu verringern und es somit einzuschleichen. Dadurch umgingen wir das schlimmste und fühlten uns nicht mehr, als hätten wir Corona höchstpersönlich.

Von unserer Schwester, die das Medikament seit Sommer nimmt, hatten wir folgende Tipps bekommen: viel Trinken und alles mögliche supplementieren, weil die Verdauung so hinüber geht, dass man sonst sämtliche Mängel bekommt.
Unsere Ärztin hatte uns befohlen, Sport zu machen und uns eine riesige Kiste Abführmittel mitgegeben, denn die schlimmste Nebenwirkung ist ein Darmverschluss (das heißt, so starke Verstopfungen, dass man daran sterben kann).
Seitdem haben wir gemerkt: wenn wir weniger als 3 Liter pro Tag trinken, bekommen wir Bauchschmerzen des Todes. Wenn wir weniger als 20 Minuten Sport an einem Tag machen, auch. Wenn wir beides verfehlen -
Mit des Todes meine ich des Todes. Neulich wachten wir nachts auf, weil wir Bauchschmerzen hatten. Das ist erstmal nichts ungewöhnliches. Ziemlich normal. Seit Mitte Februar passierte das fast jeden Tag und nicht, wie sonst, alle zwei Wochen. Man steht auf, macht sich eine Wärmeflasche und schläft weiter.
Wir wachten also auf. Alles wie gehabt. Wärmeflasche? Check. Eine halbe Stunde später schrien wir das Stockwerk zusammen. Wir versuchten, durch die Gegend zu laufen (hilft manchmal), aber konnte nicht aufstehen. Nach einer Stunde fingen wir an, uns zu übergeben. Danach war es besser. Jedenfalls für die nächste Stunde. Da ging es dann von vorne los. Das hielt ein paar Stunden so an.
Seitdem trinken wir nicht mehr zu wenig und machen brav jeden Tag Sport.

Wir fingen außerdem an, starke Gelenkschmerzen zu haben. Auch das wurde uns gesagt. Es muss erst schlimmer werden, damit es besser werden kann. Wir fühlten uns scheiße. Jeden Tag. Aus irgendeinem Grund (vermutlich deswegen) fing unser Gehirn an, ganz viel Adrenalin auszuschütten. Vielleicht dachte es, wir sterben oder so. Uns war außerdem durchgehend schlecht. Und schwindelig.

Mittlerweile nehmen wir das Medikament seit sieben Wochen, seit drei Wochen die volle Dosis. Es geht uns nicht mehr jeden Tag beschissen und unser Gehirn hat aufgehört so zu tun, als würden wir sterben. Wir haben keine Lungenschmerzen mehr, keine Dauererkältung und nicht mehr absolut jeden Tag Bauchschmerzen. Nur noch jeden zweiten. Insgesamt dauert es wohl so 2-3 Monate bis der Körper sich an das Medikament gewöhnt hat und somit die "Nebenwirkungen" aufhören.

Der Begriff "Nebenwirkungen" an dieser Stelle ist übrigens sehr irreführend. Denn es sind keine Nebenwirkungen des Medikaments - sondern des Gesünder-werdens. Deshalb gehen sie auch alle nach ein paar Monate weg.
Wir haben wochenlang geplant, wann wir dieses Medikament genau anfangen zu nehmen, weil wir das wussten. Haben uns eingedeckt mit sämtlichem Zeug, das man eventuell brauchen könnte (Halsschmerztabletten, Nasenspray, ...). Habe jegliche Behördensachen erledigt und unsere Zeit komplett frei von Terminen gehalten, weil wir wussten, dass wir krank werden würden.

Das ist, was Gesundwerden ist. Selbst wenn es diesen magischen Knopf gäbe, der einen über Nacht gesund macht. Der Körper ist so wahnsinnig gut darin, sich auf Dinge einzustellen, dass er optimiert hat, trotz kaputter Zellen zu funktionieren. Jeder biologische Prozess muss(te) neu eingestellt werden. Das ist unglaublich faszinierend. Aber eben auch keine Entscheidung, die man leichtfertig treffen und ohne Planung angehen will.
Natürlich gibt es keinen magischen Knopf und diese Überlegung wird nie eine Rolle spielen. Trotzdem fanden wir diese Informationen wichtig, die nie jemand beachtet. Man schmeißt nicht einfach eine Tablette ein und plötzlich ist man gesund. Nein.
Erstmal ist man krank. Sehr krank.

Freitag, 26. März 2021

#44: Erlebniswelten

Ich fand es immer schrecklich, für vollkommen alltägliche Sachen gelobt zu werden. Es wäre so toll, dass wir unser Leben auf die Reihe bekommen, dass wir uns um Behördensachen kümmern können, dass wir es schaffen, uns Therapie zu suchen, dass wir zum Orthopäden gehen und ihm sagen können, dass er uns jetzt Physiotherapie verschreiben wird, weil 'abwarten und Tee trinken' nicht hilft und Sport wichtig für uns ist, dass wir Freundschaften schließen können (nicht, nach allem, zu misstrauisch dafür sind), dass wir vertrauen können, dass wir Stress einigermaßen selbst regulieren können.

Jede Bewertung, die wir in unserem Leben erhalten haben, orientierte sich an psychisch gesunden, körperlich gesunden Menschen, die so viel besser als wir waren. Es ist lächerlich, uns dafür zu loben, dass wir unseren Scherbenhaufen von Leben irgendwie zusammen halten, dachte ich. Wir schaffen es nur, uns um den Behördenkrams zu kümmern, weil es immer überwältigender wird bis es so viel Stress ist, dass Skye rausgetriggert wird, die als einzige organisationsfähig ist und Liste um Liste erstellt, mit der wir es irgendwie abarbeiten können. Wir haben ein halbes Jahr zu viel gebraucht, um die Hilfe einzufordern, die uns zustellen sollte. Wir haben immer noch keinen Therapieplatz, obwohl wir längst zwei hätten haben können und in zwei Wochen ist zwar quasi der Beginn der zweiten Therapie, aber um ehrlich zu sein, bin ich mir extrem unsicher, ob wir nicht vielleicht noch viel, viel länger suchen müssen werden (hört man immer wieder, wir sind zu viel, zu viel, zu viel). Dank Corona sind wir mittlerweile so sehr von Menschen dissoziiert, dass wir sie gar nicht mehr wirklich als Wesen mit Gefühlen wahrnehmen. Wir sind ganz alleine auf der Welt. (So kann man keine vernünftigen Freundschaften führen.)
Ich war so darauf fixiert, dass ich unfähig bin, weil mir so viele Sachen so schwerfallen oder unmöglich sind, die andere Menschen (psychisch, körperlich gesunde Menschen) einfach so nebenbei in ihrem arbeitsgefüllten Alltag machen, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie fern das eigentlich von mir war, was für ein einfach eingepflanzter Gedankengang.
So vieles in unseren Gedanken ist nur da, weil wir es wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder gehört und erlebt haben. Es ist nicht gut genug, dass wir x Minuten joggen können (damals, als wir noch vernünftig laufen konnten), das wäre normal, nicht gut genug, dass wir Anträge und alles auf die Reihe bekommen, weil wir nahezu jedes mal die Frist überschreiten (die glücklicherweise niemanden interessiert), nicht gut genug, dass wir 150 Therapeuten abtelefoniert haben, immerhin haben wir noch keinen Therapieplatz, nicht gut genug, dass wir Stress zumindest halbwegs abfedern können, immerhin sagen wir immer noch jede zweite Verabredung, die wir haben, ab, weil wir zu gestresst sind.

Ich bin so wütend, seit 2018. Normalerweise lernen Menschen in der Pubertät ihre eigenen Grenzen zu verteidigen und für sich einzustehen. Uns wurde das einfach weggenommen. Wir durften keine Grenzen haben, keine Bedürfnisse, keine Gefühle. Nicht mit 2, nicht mit 12 und auch nicht mit 22.
Aber mit 70% Lungenfunktion kann niemand erwarten, dass man eine normale Ausdauer hat, selbst dann nicht, wenn man fünf mal pro Woche Sport macht. Nach 50 Vergewaltigungen kann niemand erwarten, dass man noch vernünftig mit Stress umgehen kann. Nach Therapeutenmissbrauch kann niemand erwarten, dass man einfach so eine Therapie anfangen kann, in der immer noch ein Machtgefälle vom Therapeuten aus besteht.
Es erwartet auch niemand. (Außer die Therapeuten, für die es wahnsinnig schlimm ist, dass man ihnen das Machtgefälle wegnehmen will, schließlich wäre das ja normal, so funktioniert Therapie eben.) Es ist unser eigenes beschissenes Erleben, was das sagt. All die Leute, die es so wahnsinnig toll fanden, sich auf eine höhere Ebene zu stellen, weil es so einfach war, weil wir schon viel zu tief unten waren.

Ja. Wir sind verdammt komplizierte Menschen. Ich stelle es mir wirklich nicht einfach vor, mit uns befreundet zu sein. Es ist bestimmt stressig. Manche Menschen gehen deswegen. Das ist vollkommen okay. Grenzen & so. Was nicht okay ist, ist die Aussage, dass wir dafür falsch sind. Ich will nicht mehr so denken.
Wenn man 50 mal vergewaltigt wird, dann fängt das Gehirn irgendwann an, ganz anders zu funktionieren. Aber ich will mich nicht mehr hassen, weil andere Menschen mich vergewaltigt haben. Nicht ich. Nicht ich. Nicht ich.

Ich habe angefangen, Pluralpronomen zu benutzen. Einfach so. Egal wo. (Ausnahme Behörden/Arztbesuche etc., weil ich da nicht noch  mehr diskriminiert werden möchte.) Unsere Existenz sollte nicht totgeschwiegen werden müssen, nur weil es für andere Menschen verwirrend ist. Oder weil andere Systeme sagen, das ist nicht, wie Systemsein funktioniert. Es ist mir egal. Ich will nicht mehr in einer Welt leben, in der ich und wir nicht sein dürfen, also lebe ich lieber in einer Welt, wo wir einfach sind und wenn andere Menschen das schlimm finden, dann können sie gerne in ihrer eigenen Welt leben. Wir haben angefangen, "multiple Persönlichkeit" zu benutzen, weil es einfacher erklären kann, warum wir Pluralpronomen benutzen als der Monolog über eine dissoziative Identitätsstruktur, von der niemand weiß, was zur Hölle das sein soll. Wir sind nicht Schuld am Stigma gegenüber Systemen, weil wir Begriffe benutzen, die andere Leute für Horrorfilme missbraucht haben. Das war die Entscheidung dieser Menschen. Wir versuchen nur irgendwie leben zu können.

Wisst ihr, es ist eine verdammte Leistung, sein Leben halbwegs auf die Reihe zu bekommen, nachdem man 50 mal vergewaltigt wurde. Oder fünf mal. Oder einmal. Das ist immer noch einmal mehr als die Leute, die sich diese Bewertungen überlegt haben, vermutlich erleben mussten. Natürlich bringt man mit 70% Lungenfunktion keine sportlichen Meisterleistungen. Aber es ist eine Leistung, dass wir es auf 85% geschafft haben. Wegen Sport und weil wir mehr Zeit für Therapie hatten als die arbeitende Bevölkerung. Wir haben ein 1.5-Abi, weil wir unseren Schulleiter selbst überredet haben, eine Ausnahme für die 30% Regel einzuführen. (Für alle, die es nicht wissen: die 30% Regel gilt in Niedersachsen und ein paar anderen Bundesländern und besagt, dass man, wenn man mehr als 1/3 der Schulzeit fehlt, eine 6 im Mündlichen bekommt, vollkommen unabhängig davon, warum man gefehlt hat. Wir haben es damals geschafft einzuführen, dass Fehlzeiten, die durch einen Arzt entschuldigt wurden, nicht dazugezählt werden. Das liegt nämlich im Ermessen der Schule, wie das gehandhabt wird.)
Niemand in unserer Klasse hat die Schule wegen Mathe nicht geschafft und alle waren sich einig, dass es an uns lag. Unsere Klasse hat kollektiv unsere mündliche Note auf eine 1 hochgehandelt, weil sie der Meinung waren, dass wir der halben Klasse Nachhilfe geben, sollte auch etwas wert sein.
Wir waren nie unfähig. Wir sind nur traumatisiert. Und chronisch krank.

Ich weiß, dass niemand das hier liest, der uns unfähig findet, außer wir selbst. Aber es ist mir wichtig, aufzuzeigen, mit was für Startvoraussetzungen wir in jeden Tag starten. Weil es nicht schlimm sein sollte, dass wir mit all dem nicht arbeiten können, aber ist. Weil es nicht schlimm sein sollte, wenn wir Entscheidungen für unsere etwas anderen Bedürfnisse treffen, aber ist. Weil uns so oft zurückgemeldet wird, dass irgendetwas falsch ist, was wir tun, was niemanden betrifft, außer uns selbst.

Beispiel.
In DnD sterben Charaktere, wenn sie tot sind. Das hat den Sinn, dass man seinen Charakter sonst (angeblich; hat niemanden, den wir kennen, je überprüft) wie Wegwerfware behandeln würde, wenn er ohnehin am nächsten Tag wieder aufsteht. Für uns ist das aber schlimm. Also, richtig schlimm. Wir haben zu viel Verlusttrauma für die Menge an emotionaler Bindung, die wir in unsere Charaktere stecken. Also haben wir etabliert, dass unsere Charaktere nicht sterben, sondern nur für die Kampagne weg sind, vielleicht schwer verletzt, wer weiß das schon so genau, aber wir können sie eben zu einem späteren Zeitpunkt zurückholen. Glücklicherweise können wir unsere Charaktere gut genug von uns dissoziieren, dass wir sie spielen können, als würden sie in so einer Situation sterben. Weil sie ja nicht wissen, dass sie überleben.
Jedes mal, wenn wir das erwähnen, entsteht eine Diskussion darüber, dass wir das nicht machen können. Das wäre ja schlimm für andere Spieler. Dann können die gar nicht richtig traurig sein, wenn unser Charakter plötzlich weg ist, sie lebt ja immerhin noch. (Spoiler: wir haben gerade unsere Druidin aufgehört zu spielen und alle waren traurig. Obwohl sie sehr gesund und nicht tot ist und sich einfach nur um einen Wald kümmert, der etwas weiter weg ist. Hm...) Oder wir können es so nicht machen, weil das nicht ist wie das Spiel funktioniert. (Aber unserer Homebrew-Ranger ist scheinbar wie das Spiel funktioniert. Seltsam. Und ich dachte, den hätten wir selbst geschrieben, weil wir etwas bestimmtes haben wollten, dass in DnD aber so gar nicht existierte... so wie alternative Todesregeln. Aber nein, die sind schlimm.)

Man nimmt immer sich selbst als Referenzwert für andere Menschen. Das funktioniert im Durchschnitt halbwegs gut, weil man sich im Durchschnitt eher mit Menschen umgibt, die einem halbwegs ähnlich sind. Aber es sollte auch wichtig sein, dass Menschen eben anders funktionieren. Das betrifft ja nicht nur uns. Bei uns ist es nur auffälliger, weil wir extrem wenig Menschen kennen mit derselben neurologischen Abweichung, die uns ähnlich sind. Also bekommen wir ständig mit wie grundsatzfalsch wir in dieser Gesellschaft sind.
Bei den meisten unserer Freunde heißen wir gegenüber anderen Menschen (zum Beispiel Eltern) Melanie und sind Singular. Niemand möchte in einer vollkommen normalen Konversation erklären müssen, warum er jetzt Pluralpronomen benutzt und sich die Namen ständig ändern. Vielleicht wollte man nur kurz erzählen, dass man ein flauschiges Gespräch mit uns hatte. Aber man hatte eben kein flauschiges Gespräch mit Melanie, sondern mit uns. Oder vielleicht mit jemand bestimmtem. Vielleicht mit Lana oder Ivy oder Dawn oder Skye oder oder oder. Es ist unsere Normalität. Sie sollte auch anderswo normal sein dürfen. (Weil Systeme existieren. Weil Missbrauch existiert. Weil alles viel zu sehr totgeschwiegen wird, nur weil es kompliziert ist.)
Nur so zum Nachdenken. Wir erwarten von niemandem, dass sie Aufklärungsgespräche für uns führen. Aber man sollte sich zumindest im Klaren darüber sein, was man da tut und warum.

Es sollte nicht so negativ behaftet sein, seine eigenen Abweichungen zu kommunizieren. Jeder Mensch weicht auf irgendeine Art von anderen ab. Manche eben mehr und manche weniger. Aber es ist wichtig, eine Grundlage zu schaffen dafür, wie andere Menschen einen verstehen können. Sonst hat man Missverständnis um Missverständnis und niemand versteht genau, warum eigentlich. Sonst hat man einen Haufen verletzende Bemerkungen, die eigentlich nett gemeint waren.
Das bezieht sich übrigens nicht nur auf die Menschen, die abweichen von der Norm. Wir haben nicht eine alleinige Verantwortung uns zu erklären, weil wir eine andere Grundlage haben. Es wäre für jeden Menschen hilfreich mehr über sich selbst zu wissen und das auch zu kommunizieren. (Auf welcher Ebene kommuniziere ich? Wie nehme ich Zuneigung war? Was sind meine Werte? Wo liegen meine Grenzen? Was überfordert mich?)
Das ist nichts, was Muss. Niemand muss sich der Welt erklären. Ablehnung existiert überall. Es würde nur trotzdem enorm viel vereinfachen.

Ich hab es satt, so zu tun, als wäre ich irgendeiner Norm zugehörig, nur um keine Ablehnung zu erfahren. Wen interessiert schon, was andere Menschen denken, wenn ich einfach so Pluralpronomen benutze. Vielleicht denken sie ja, dass ich eine Familie habe und von mir und meinen Kindern rede. Ich glaube nicht, dass so viele Menschen denken "oh, die benutzt Pluralpronomen, die ist total gestört". Vielleicht fragen manche Menschen nach. Vielleicht kann es einfach normaler werden, dass Systeme existieren. Ich will mich nicht die ganze Zeit verstecken.

Donnerstag, 11. März 2021

#43: Dungeons, Dragons & Dissoziation

Heute mal ein ganz anderes Thema: vor etwa einem Jahr haben wir angefangen, uns für Dungeons & Dragons/Roleplay allgemein zu interessieren. Allerdings hatten wir zu dem Zeitpunkt schon mehrfach gehört, dass andere Systeme teilweise ihre DnD-Charaktere introjected hatten.
Eine kurze Erklärung zu Introjects: Introjects sind Innenpersonen, die quasi ein Abbild einer fiktiven oder realen Person sind. Darüber gibt es, soweit wir wissen, nicht sehr viel Literatur, aber in unserem Verständnis entsteht das dadurch, dass das Gehirn sich in einer bestimmten traumatischen Situation etwas sehr bestimmtes wünscht, manchmal eben auch einen sehr bestimmten Menschen. Und dann entsteht eben eine Innenperson, die dem ähnlich ist.

Wir hatten das also schon öfter gehört und hatten Angst, dass das bei uns auch passieren würde. Natürlich braucht es für die Entstehung einer neuen Innenperson immer noch eine traumatische oder zumindest extrem stressige Situation, allerdings kann so etwas ja immer passieren. Es ist natürlich nicht sonderlich wahrscheinlich, wenn man, wie wir, in äußerer Sicherheit lebt, aber möglich ist eben alles.
Als wir uns wegen Corona aber immer einsamer fühlten, beschlossen wir, es doch mal auszuprobieren und ich gab mir sehr viel Mühe einen Charakter zu schreiben, der verschiedene Persönlichkeitsmerkmale, die wir im System schon breitflächig haben, abdeckte, weil ich mir sicher war, dass unser Gehirn so jemanden gar nicht brauchen würde: wir hatten solche Innenpersonen ja schon. Das ist jetzt über ein halbes Jahr her und in dieser Zeit kam auch keine einzige Situation vor, in der wir überhaupt eine neue Innenperson gebraucht hätten.

Gerade schreiben wir zum ersten mal einen Charakter, der tatsächlich absolut nicht wie irgendjemand von uns ist. Klar: bestimmten Innenpersonen ist er ähnlicher als anderen, viele Eigenschaften teilt er sich auch mit einigen Innenpersonen. Das ist wohl etwas, das man nicht vermeiden kann, wenn man eine DIS hat. Aber trotzdem hat er ganz fundamental andere Ansichten und eine fundamental andere Lebensrealität. Aber ich habe überhaupt keine Angst mehr. Tatsächlich sehe ich das ganze mittlerweile als große Chance:

wenn man übt, andere Menschen zu spielen, übt man zwangsläufig auch, wie andere Menschen zu denken. Ich glaube, das ist etwas, was für eine DIS unglaublich nützlich sein kann. Sich in andere Menschen reinversetzen, ihre Gedankengänge wirklich nachzufühlen, ihr Verhalten zu verstehen. Ich habe als Therapieziel unter anderem gesetzt, alle anderen so gut kennenzulernen, dass ich immer Entscheidungen treffen kann, mit denen die Mehrheit zufrieden ist. Wir treffen zwar Entscheidungen, wenn möglich, demokratisch, allerdings ist es oft schlichtweg dadurch nicht möglich, dass man wenig Zeit für Entscheidungen hat. Da kann man manchmal von niemandem Rückmeldung erhalten oder nur von einigen wenigen Innenpersonen - zumindest bei unserer eher schlechten inneren Kommunikation.
Dadurch, dass ich sehr wenig Amnesie habe, kenne ich aber viele Innenpersonen: zumindest ihr Verhalten. Ihre Gedanken natürlich nicht. Aber wenn ich mich da reindenken kann (und natürlich Rücksprache halte), dann kann ich vielleicht Entscheidungen treffen, die annährend das sind, was diese Innenperson wollen würde.

Meine Angst habe ich auch abgelegt: alle unsere Charaktere sind Personen, die ich gerne in meinem Leben hätte. Wenn etwas erneut traumatisches geschieht, dann entsteht ohnehin höchstwahrscheinlich eine neue Innenperson. Ob diese dann einem der Charaktere nachempfunden ist oder nicht, spielt da im Endeffekt dann keine Rolle. Die einzige Rolle, die es spielt, ist, dass es auf Außenpersonen dann vielleicht noch mehr so wirken würde, als wäre die DIS im Prinzip nur ein zu groß geratenes Roleplaying-Hobby. Aber Menschen denken ohnehin, was sie denken wollen. Vermutlich werden sie das auch denken, einfach, weil ich DnD als Hobby angeben würde.

Und ich habe etwas gelernt: Dissoziation ist kein ausschließlich einschränkender Mechanismus. Dass ich von mir selber dissoziieren kann, erlaubt mir, meine Charaktere zu fühlen, als wären sie ich. Einfach so. Ich muss mir keine Mühe geben. Es ist das normalste der Welt, in ihren Gedanken zu sein. Das macht mich zu keiner besseren Roleplayerin - ich erlange nicht plötzlich Fähigkeiten, die ich nicht habe. Aber es erlaubt mir, in einem von mir distanzierten Umfeld Gefühle zuzulassen, die ich normalerweise, für mich, nicht zulassen kann. Ich glaube, das ist unglaublich wichtig. Ich glaube tatsächlich, dass das unglaublich hilfreich sein kann.
Ich merke zum Beispiel, dass Wut auch wichtig sein kann. Um Menschen zu beschützen. Um seine Grenzen wahrzunehmen und einzufordern. Es ist kein Gefühl mehr, dass mir fremd ist, weil ich mich grauenvoll fühle, solange ich es länger als eine Sekunde spüre und deshalb um jeden Preis versuche, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich fühle mich danach zwar trotzdem körperlich total erschöpft, aber eben nicht traumatisiert: ich dissoziiere nicht. Es ist nicht überfordernd. Es ist einfach da und wenn ich will, kann ich die Session beenden und dann hört es direkt wieder auf. Oder man springt drei Tage weiter und denkt sich 'hey, mein Charakter wäre jetzt nicht mehr wütend' und puff, ist es weg.

Ich habe die Theorie, dass das mit Trauma-Aufarbeitung genauso funktionieren könnte, auch wenn ich es nicht ausprobiert habe. Dass man sein Trauma nimmt und weit genug von sich entfernt in einem anderen Charakter ansiedelt, sodass es dasselbe Thema behandelt, aber ohne die Erinnerungen, ohne die Zusammenhänge, ohne, dass man es ansieht und sofort an alles denken muss.
Und dann tut es immer noch weh. Dann tut es weh, dass Mae [unsere Druidin] sehr wichtige Menschen verloren hat, aber es tut eben in diesem Universum weh und nicht in unserem und es hat nichts damit zu tun, dass wir wichtige Menschen verloren haben, der Schmerz ist nur derselbe. Vielleicht, ganz vielleicht, kann es einfacher werden, sich damit zu beschäftigen, wenn man in einem fiktiven Szenario gelernt hat, dass man auch lernen kann, damit umzugehen. Das ist momentan nur meine Therorie.
Ich fand es trotzdem wichtig, es zu erwähnen.

Mittwoch, 3. März 2021

#42: ein Monolog über Schäden

In letzter Zeit fällt es mir unglaublich schwer, irgendetwas zu schreiben. Ich habe oft Themen im Kopf und versuche sie dann, in Worte zu fassen, aber es gelingt mir irgendwie nicht. Ich lese es dann am Ende noch mal und es ist zwar ein Text über ein Thema, aber er hat irgendwie keinen Punkt. Der Text wirkt unvollständig.
Ich habe gleichzeitig sehr viele Texte von anderen Innenpersonen hier rumliegen, die ich theoretisch mal abtippen könnte (wir schreiben sehr viel in Notizbücher). Früher habe ich das gerne gemacht: die Worte von den anderen abtippen. Dann konnten sie auch mal was sagen, selbst wenn sie nicht genug draußen waren, um das alles selbst zu machen und Rechtschreibfehler zu überprüfen und die Texte so abzuändern, dass sie verständlicher sind (das muss man nicht machen - aber wir haben gelernt, dass wir oft falsch verstanden werden, wenn wir das nicht tun). Außerdem konnte ich sie besser kennenlernen dadurch. Ihre aufgeschriebenen Ansichten, aber auch Sprachstil, Wortwahl und alles weitere - ich gebe mir Mühe, selbst wenn ich Sachen verbessere, nicht Dinge rauszunehmen, die anderen Innenpersonen wichtig sind und durch meine Art, Dinge zu sagen, zu ersetzen. Dafür muss ich mich aber natürlich erstmal mit ihnen auseinandersetzen. Früher hatten wir innere Kommunikation, zumindest halbwegs. Mittlerweile ist diese ziemlich gestorben.
Darüber möchte ich schreiben, weil ich verstanden habe, warum ich diese Texte nicht abtippe. Es hängt alles zusammen.

Als wir im Prozess waren, unsere Diagnose zu bekommen, habe ich ruru davon erzählt. Das war im Oktober 2019, glaube ich. Er hat es nicht verstanden, aber erstmal so hingenommen. Ich war mir da ja auch noch selbst nicht sicher. Dann hat er Skye und Mina kennengelernt - und es verstanden. Was das heißt. Und wir haben die DIS diagnostiziert bekommen.
Am Anfang war ich mega glücklich. Dass ich traumatisiert war, wusste ich eh. Es war kein Schock für mich, dass in meiner Kindheit mehr passiert war als woran ich mich erinnerte - das hatte ich ohnehin schon mehrfach vermutet. Auch wenn ich die Ausmaße nie vermutet hatte, aber es war schlüssig für mich, meinem Vater würde eh jeder zutrauen, dass er so was macht und den Kontakt hatten wir auch schon lange abgebrochen. Stattdessen habe ich mich endlich besser selbst verstanden, weil ich mich endlich nicht mehr im Gesamtbild jeder Erinnerung, die ich hatte, verstehen musste (im Alltagssystem besteht, zumindest für mich, so gut wie gar keine Amnesie), sondern eben nur im Kontext meiner eigenen Persönlichkeit. Die anderen durfte ich kennenlernen - das war zwar teilweise seltsam und manchmal schäme ich mich auch für Verhaltensweisen, die andere Innenpersonen an den Tag legen, was vermutlich normal ist, wenn man sich einen Körper teilt, aber im Allgemeinen liebe ich Menschen. Es ist eine der schönsten Sachen für mich, Menschen kennenzulernen und Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Andere Innenpersonen waren zwar nicht ganz so begeistert davon, aber wir alle haben diese Befreiung davon gespürt, dass wir uns endlich besser verstanden haben. Die innere Kommunikation war nach einigen Monaten einfach plötzlich da. Natürlich nicht im gesamten System, aber im Alltagssystem. Von dem Rest wussten wir damals auch noch extrem wenig.

Relativ schnell erzählten wir auch unseren Freunden davon, dass wir ein System sind. Natürlich hatten wir Angst, dass diese vielleicht ablehnend reagieren, jedoch haben wir aufgrund unserer Erkrankung durchgehend die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, so früh wie möglich abgelehnt zu werden - es ist dann insgesamt weniger schlimm. Wir nennen das 'den Müll aussortieren'. Mit 'Müll' sind an der Stelle zwischenmenschliche Beziehungen gemeint, die einem eher schaden als dass sie schön sind.
Glücklicherweise reagierten unsere Freunde fast durchweg positiv. Wenn ich mich richtig erinnere, reagierte lediglich eine Person unflauschig, zu der wir danach dann auch relativ schnell immer weniger Kontakt hatten.
Nach einigen Wochen nahmen wir deshalb ein Experiment in Angriff: wir würden auf einen Discord-Server gehen, auf denen wir fast niemanden kannten, außer so drei Personen und mal gucken, wie die darauf reagierten, wenn wir direkt bei der Vorstellung erwähnen würden, dass wir ein System sind! Die Reaktionen waren neutral bis positiv. Natürlich wurden uns viele Fragen gestellt, die teilweise auch ein wenig seltsam waren, aber insgesamt wurde es einfach akzeptiert und wir freundeten uns sogar mit einer Person von dort an (hawwu!).

Da zu diesem Zeitpunkt auch mehr traumatisierte Innenpersonen rauskamen und uns auffiel, dass wir doch sehr viel Amnesie haben und unsere innere Kommunikation auch insgesamt nicht so super war, aber wir keinen Therapeuten fanden, beschlossen wir auf einen Discord-Systemserver zu gehen, um vielleicht Tipps zu bekommen, wie man die innere Kommunikation verbessern konnte. Leider war dieser Server sehr unflauschig und uns wurde direkt nach der Vorstellung gesagt, dass wir ja gar kein System sein könnten, weil wir 'so klein' waren und 'echte Systeme' hätten alle über 10 Innenpersonen (damals dachten wir noch, wir wären ein deutlich kleineres System). Ich weiß die Grenze, die sie hatten, nicht mehr genau und uns war auch klar, dass das nicht stimmt, aber verletzend war es eben trotzdem. Daraufhin gingen wir in eine andere Community, wo wir erstmal auch ganz normal aufgenommen wurden. Als wir jedoch die Menschen dort besser kennenlernten und auch mehr von uns erzählten, erhielten wir immer mehr Rückmeldungen darüber, dass (im besten Fall) unsere Diagnose falsch war, weil es nicht sein könnte, dass man so (verhältnismäßig) gute Kommunikation nur ein paar Monate nach der Diagnosestellung hatte, vor allem ohne Therapie und dass es bei Systemen auch nie vorkommen würde, dass diese ihre Diagnose direkt einfach akzeptieren können. Im schlimmsten Fall würde uns direkt vorgeworfen, dass wir uns das alles nur ausdenken würden, um irgendwo "dazuzugehören". Wir blieben eine Weile dort, weil dort teilweise auch sehr flauschige Menschen waren und wir dachten, wir müssten uns einfach nur "gut genug erklären" und dann würden uns auch alle akzeptieren, jedoch merkten wir immer mehr, dass es uns eher schadete dort zu sein und so gingen wir nach ein paar Monaten auch dort weg.

Inzwischen ist uns aufgefallen, dass es wohl an diesen Ereignissen liegt, dass unsere innere Kommunikation so schlecht geworden ist. Und das ist wichtig, für uns. Weil es keine ungreifbare, verwirrende Veränderung mehr ist, sondern ein klares Resultat aus einer schlimmen Situation. Was es vermutlich noch verschlimmerte, war, dass wir zu dieser Zeit nach Psychologen suchten und diese uns auch oft sehr schlecht behandelten.
Natürlich ist die Kommunikation jetzt nicht besser, nur weil wir das verstanden haben und wir wissen auch nach wie vor nicht wirklich, wie wir sie denn eigentlich verbessern sollten. Auch dieser Text hat mal wieder keinen Punkt. Aber ich will auch nicht diesen Blog die ganze Zeit leer stehen lassen.