Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Mittwoch, 31. März 2021

#46: Skills

Als wir das erste mal bei einer Psychologin waren, Januar 2013, war unser größtes (bekanntes) Problem, dass wir uns selbst verletzten. Wir hatten keine Ahnung, dass wir traumatisiert waren, zu dem Zeitpunkt nicht mal eine Vermutung, verstanden nicht, dass wir konstant Angst vor Menschen hatten und erkannten nicht mal, dass der Grund dafür, dass wir uns selbst verletzten war, dass wir durchgehend gestresst und überfordert waren.
Unsere Therapeutin gab uns eine kleine Liste mit Skills, die wir ausprobieren sollten und als davon absolut keiner half, gab sie uns eine sehr, sehr große Liste. Ich glaube, dort standen 500 Sachen drauf. Sogar nach Sinnesreizen geordnet, falls man schon eine grobe Idee hatte, was einem helfen könnte.
Wir hielten damals schon nichts von Skills und tun es immer noch nicht. Für uns ist das einfach nichts, was sich sinnvoll anfühlt. Das Gefühl, sich selbst verletzen zu wollen, war in unseren Augen nie das Problem - das Problem war, dass wir uns überhaupt schlecht genug fühlten, um so etwas zu brauchen. Es verändert sich nichts, nur weil man einen anderen Weg findet, sich kurzzeitig zu entstressen. Klar, der andere Weg ist für den Körper gesünder und generell weniger gefährlich, aber für die Psyche tut es erstmal überhaupt nichts (für uns).
Natürlich haben wir mittlerweile auch "Skills", die wir machen, wenn es uns schlecht geht. Aber das wichtige für uns ist, dass wir es nicht machen, weil Selbstverletzung böse ist. Das ist sie nicht. Sie ist genauso hilfreich wie alles andere auch (nur eben auch gefährlich). Sondern wir machen diese Dinge, weil sie uns in dem Moment am meisten helfen. Und manchmal verletzen wir uns selber, weil uns das in dem Moment am meisten hilft. Das ist dann halt so. Wir müssen nicht krampfhaft versuchen es zu ändern.

Natürlich gibt es aber auch Menschen, denen Skills im Allgemeinen sehr helfen und so wurden wir neulich, als wir in einem Gespräch diese Liste erwähnten, gefragt, ob wir sie noch haben. Leider haben wir sie nicht mehr, aber dadurch, dass wir gefühlt hundert Sachen von der Liste ausprobiert haben bevor wir die Therapie absolut bescheuert fanden und sie abgebrochen haben, ist in unserem Gedächtnis trotzdem einiges hängen geblieben.
Deshalb dachten wir, wir schreiben einfach mal auf, was uns so alles einfällt.
Es ist wichtig zu wissen - zumindest ist das bei uns so -, dass man keinen Skill finden kann, der in absolut jeder Situation hilft. Teilweise kann man Dinge in bestimmten Situationen einfach nicht machen (zum Beispiel losrennen, während man gerade in der Schule eine Präsentation hält) und außerdem kommt es auch immer sehr darauf an, warum es einem denn schlecht geht. Bei uns entscheidet sich unser Umgang mit der Situation sehr stark, je nachdem, ob wir eher dissoziieren oder eher überfordert sind, alleine oder unter Menschen sind, unter Freunden oder unter Fremden sind, ... und so weiter.

Unser wichtigster Skill ist Bewegung. Das muss nicht unbedingt Sport sein, aber Sport hilft unglaublich viel. Laut Musik an, viel bewegen, am besten währenddessen noch mitsingen, damit man auch schön außer Atem kommt. (Bitte nicht machen, wenn ihr nicht einschätzen könnt, wann etwas zu anstrengend wird. Es gibt ja einige Menschen, die so stark von sich selbst dissoziieren, dass sie Überanstrengung nicht mehr wahrnehmen.) Teilweise gehen wir auch einfach Spazieren. Oder wir laufen bei 5 Grad im T-Shirt auf unserem Balkon hin und her. Das sind nämlich gleich zwei Skills in einem -
Kälte. Bei viel zu wenig Grad für eine Minute in zu wenig Kleidung rausgehen. Kaltes Wasser über die Pulsadern laufen lassen. Kalt duschen. Sport machen und danach kalt duschen (auch wenn man nicht gestresst ist ein sehr tolles Gefühl, vor allem im Sommer!).

Wir machen außerdem extrem viel mit unseren Händen. Auf Kleidung herumrubbeln (deshalb gehen alle unsere Hosen irgendwann immer über dem rechten Knie kaputt). Mit den Fingernägeln auf Sachen rumtippen. Dinge in den Händen drehen. Sachen (unser Handy) in die Luft werfen und wieder auffangen. (Das bitte nur, wenn euer Handy einen Fall auf den Boden überlebt.) Neulich haben wir Knete entdeckt, wobei wir die nur in unserer Wohnung benutzen, weil man sonst solche Knetrückstände an den Händen hat, wenn man sie nicht waschen kann und das fühlt sich nicht toll an. Wenn wir bei anderen Menschen sind, umarmen wir diese gerne, insofern sie das möchten. Oder wir knuddeln Plüschtiere!

Ungesündere Skills, die wir nutzen, sind Selbstverletzung (meistens Fingernägel irgendwo in der Haut vergraben oder diese aufkratzen) und Essen.

Früher war tatsächlich einkaufen ein Skill, wir fanden es einfach voll toll, in Läden zu gehen und uns all die tollen Sachen anzugucken. Wir haben meistens nicht mal was gekauft oder nur eine Paprika, die wir eh noch fürs Abendessen brauchten oder so. Es war einfach so schön zu sehen, was es alles für tolle Sachen auf der Welt gibt!
Während Corona ist Einkaufen natürlich eher Stress als irgendetwas anderes.

Und damit kommen wir nun zu der Liste. Das sind einfach alle Sachen, die uns einfallen, die uns damals gesagt wurden, die wir mal von jemand anderem gehört haben oder selbst ausprobiert haben. In keiner bestimmten Ordnung und ohne lange Erklärungstexte. Einfach so für andere Menschen als Inspiration.

- in eine Chili beißen
- Eiswürfel lutschen
- Bewegung
- Sport
- kalt duschen
- heiß duschen
- kaltes Wasser auf Pulsadern
- mit einem roten Stift Linien auf die Arme zeichnen (dafür eignen sich so billige Aquarell-Buntstifte sehr gut, insofern man sie vorher kurz in Wasser hält)
- laut Musik hören
- Tanzen
- entspannende Musik hören
- Videospiele
- 40 minütige Sprachnachricht an persönliches ruru darüber machen, warum diese eine Person/Situation einfach so richtig beschissen ist
- mit einem Gummiband gegen das Handgelenk schnalzen
- Igelbälle kneten
- Igelbälle auf einem rumrollen
- Baden, am besten mit irgendwelchen tollen Duftsalzen oder ähnlichem
- Duftkerzen anzünden
- toll riechenden Tee machen (zum Beispiel Mandelmilch-Tee von TeeGschwender!)
- Zeichnen (muss nicht hübsch sein, einfach seltsame Kringel oder so)
- bewusst atmen (bitte passt da auf euch auf, wenn ihr traumatisiert seid; das kann wohl triggern)
- Knete kneten (wir machen da gerne geometrische Formen draus, also Kugeln, Zylinder, Pyramiden, ...)
- mit Freunden reden
- Schreiben
- Mathematik (natürlich nur, wenn man das mag; wie bei allem anderen auch)
- flauschige Streams schauen
- Dinge schauen/lesen, bei denen man etwas fühlt (wir schauen oft sehr traurige Animes, wenn wir dieses Gefühl von "ich fühle nichts, will aber was fühlen" haben)
- toll riechende (Hand)Creme
- Kochen
- sich ganz fest in eine Decke einwickeln (hilft wohl vielen Menschen, weil es angeblich Sicherheit gibt ... wir fühlen uns dadurch total eingeengt und bekommen Angst; bitte immer auf euer eigenes Gefühl hören)
- sich nicht fest in eine lockere, flauschige Decke wickeln
- heiße Schokolade machen
- diese Bläschen bei Luftpolsterfolie zerdrücken
- Schlafen
- Dinge zerreißen (endlich könnt ihr all die Kartons, die ihr noch zum Müll bringen müsst, klein hacken!)
- Dinge aufzählen, die man sieht, die eine bestimmte Farbe haben
- eine genaue Liste machen mit allen Sachen, die man noch machen muss (hilft, wenn man sich überfordert fühlt, weil man sich dann an etwas langhangeln kann)
- Ausmalbücher
- Singen
- Selbstgespräche (sich selbst sagen, dass alles gut ist/wird)

Wenn ihr Sachen findet, die euch helfen, könnt ihr am besten eine Liste machen, vielleicht sogar mit Notiz in welchen Situationen diese Dinge genau helfen und in welchen nicht, dann müsst ihr euch, wenn es euch schlecht geht, nur die Liste anschauen und vermutlich findet ihr irgendetwas, das hilft.

Donnerstag, 11. März 2021

#43: Dungeons, Dragons & Dissoziation

Heute mal ein ganz anderes Thema: vor etwa einem Jahr haben wir angefangen, uns für Dungeons & Dragons/Roleplay allgemein zu interessieren. Allerdings hatten wir zu dem Zeitpunkt schon mehrfach gehört, dass andere Systeme teilweise ihre DnD-Charaktere introjected hatten.
Eine kurze Erklärung zu Introjects: Introjects sind Innenpersonen, die quasi ein Abbild einer fiktiven oder realen Person sind. Darüber gibt es, soweit wir wissen, nicht sehr viel Literatur, aber in unserem Verständnis entsteht das dadurch, dass das Gehirn sich in einer bestimmten traumatischen Situation etwas sehr bestimmtes wünscht, manchmal eben auch einen sehr bestimmten Menschen. Und dann entsteht eben eine Innenperson, die dem ähnlich ist.

Wir hatten das also schon öfter gehört und hatten Angst, dass das bei uns auch passieren würde. Natürlich braucht es für die Entstehung einer neuen Innenperson immer noch eine traumatische oder zumindest extrem stressige Situation, allerdings kann so etwas ja immer passieren. Es ist natürlich nicht sonderlich wahrscheinlich, wenn man, wie wir, in äußerer Sicherheit lebt, aber möglich ist eben alles.
Als wir uns wegen Corona aber immer einsamer fühlten, beschlossen wir, es doch mal auszuprobieren und ich gab mir sehr viel Mühe einen Charakter zu schreiben, der verschiedene Persönlichkeitsmerkmale, die wir im System schon breitflächig haben, abdeckte, weil ich mir sicher war, dass unser Gehirn so jemanden gar nicht brauchen würde: wir hatten solche Innenpersonen ja schon. Das ist jetzt über ein halbes Jahr her und in dieser Zeit kam auch keine einzige Situation vor, in der wir überhaupt eine neue Innenperson gebraucht hätten.

Gerade schreiben wir zum ersten mal einen Charakter, der tatsächlich absolut nicht wie irgendjemand von uns ist. Klar: bestimmten Innenpersonen ist er ähnlicher als anderen, viele Eigenschaften teilt er sich auch mit einigen Innenpersonen. Das ist wohl etwas, das man nicht vermeiden kann, wenn man eine DIS hat. Aber trotzdem hat er ganz fundamental andere Ansichten und eine fundamental andere Lebensrealität. Aber ich habe überhaupt keine Angst mehr. Tatsächlich sehe ich das ganze mittlerweile als große Chance:

wenn man übt, andere Menschen zu spielen, übt man zwangsläufig auch, wie andere Menschen zu denken. Ich glaube, das ist etwas, was für eine DIS unglaublich nützlich sein kann. Sich in andere Menschen reinversetzen, ihre Gedankengänge wirklich nachzufühlen, ihr Verhalten zu verstehen. Ich habe als Therapieziel unter anderem gesetzt, alle anderen so gut kennenzulernen, dass ich immer Entscheidungen treffen kann, mit denen die Mehrheit zufrieden ist. Wir treffen zwar Entscheidungen, wenn möglich, demokratisch, allerdings ist es oft schlichtweg dadurch nicht möglich, dass man wenig Zeit für Entscheidungen hat. Da kann man manchmal von niemandem Rückmeldung erhalten oder nur von einigen wenigen Innenpersonen - zumindest bei unserer eher schlechten inneren Kommunikation.
Dadurch, dass ich sehr wenig Amnesie habe, kenne ich aber viele Innenpersonen: zumindest ihr Verhalten. Ihre Gedanken natürlich nicht. Aber wenn ich mich da reindenken kann (und natürlich Rücksprache halte), dann kann ich vielleicht Entscheidungen treffen, die annährend das sind, was diese Innenperson wollen würde.

Meine Angst habe ich auch abgelegt: alle unsere Charaktere sind Personen, die ich gerne in meinem Leben hätte. Wenn etwas erneut traumatisches geschieht, dann entsteht ohnehin höchstwahrscheinlich eine neue Innenperson. Ob diese dann einem der Charaktere nachempfunden ist oder nicht, spielt da im Endeffekt dann keine Rolle. Die einzige Rolle, die es spielt, ist, dass es auf Außenpersonen dann vielleicht noch mehr so wirken würde, als wäre die DIS im Prinzip nur ein zu groß geratenes Roleplaying-Hobby. Aber Menschen denken ohnehin, was sie denken wollen. Vermutlich werden sie das auch denken, einfach, weil ich DnD als Hobby angeben würde.

Und ich habe etwas gelernt: Dissoziation ist kein ausschließlich einschränkender Mechanismus. Dass ich von mir selber dissoziieren kann, erlaubt mir, meine Charaktere zu fühlen, als wären sie ich. Einfach so. Ich muss mir keine Mühe geben. Es ist das normalste der Welt, in ihren Gedanken zu sein. Das macht mich zu keiner besseren Roleplayerin - ich erlange nicht plötzlich Fähigkeiten, die ich nicht habe. Aber es erlaubt mir, in einem von mir distanzierten Umfeld Gefühle zuzulassen, die ich normalerweise, für mich, nicht zulassen kann. Ich glaube, das ist unglaublich wichtig. Ich glaube tatsächlich, dass das unglaublich hilfreich sein kann.
Ich merke zum Beispiel, dass Wut auch wichtig sein kann. Um Menschen zu beschützen. Um seine Grenzen wahrzunehmen und einzufordern. Es ist kein Gefühl mehr, dass mir fremd ist, weil ich mich grauenvoll fühle, solange ich es länger als eine Sekunde spüre und deshalb um jeden Preis versuche, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich fühle mich danach zwar trotzdem körperlich total erschöpft, aber eben nicht traumatisiert: ich dissoziiere nicht. Es ist nicht überfordernd. Es ist einfach da und wenn ich will, kann ich die Session beenden und dann hört es direkt wieder auf. Oder man springt drei Tage weiter und denkt sich 'hey, mein Charakter wäre jetzt nicht mehr wütend' und puff, ist es weg.

Ich habe die Theorie, dass das mit Trauma-Aufarbeitung genauso funktionieren könnte, auch wenn ich es nicht ausprobiert habe. Dass man sein Trauma nimmt und weit genug von sich entfernt in einem anderen Charakter ansiedelt, sodass es dasselbe Thema behandelt, aber ohne die Erinnerungen, ohne die Zusammenhänge, ohne, dass man es ansieht und sofort an alles denken muss.
Und dann tut es immer noch weh. Dann tut es weh, dass Mae [unsere Druidin] sehr wichtige Menschen verloren hat, aber es tut eben in diesem Universum weh und nicht in unserem und es hat nichts damit zu tun, dass wir wichtige Menschen verloren haben, der Schmerz ist nur derselbe. Vielleicht, ganz vielleicht, kann es einfacher werden, sich damit zu beschäftigen, wenn man in einem fiktiven Szenario gelernt hat, dass man auch lernen kann, damit umzugehen. Das ist momentan nur meine Therorie.
Ich fand es trotzdem wichtig, es zu erwähnen.