Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Dienstag, 27. Juli 2021

#69: Was ist rituelle Gewalt?

Nachdem wir nun einen ganzen Post über rituelle Gewalt verfasst haben, fühlt es sich nur richtig an, zu erklären, was das eigentlich genau ist. Wir wussten es nämlich, als wir unsere Diagnose bekommen haben und zum ersten mal so wirklich mit diesem Begriff konfrontiert wurden, nicht. Und dann war lange Zeit unser Verständnis davon falsch, weil es einfach gefühlt tausende Definitionen gibt, die im Prinzip etwas ähnliches meinen, aber das teils so missverständlich ausdrücken, dass es wie etwas ganz anderes klingt. Eine wirklich einheitliche Definition gibt es aber auch nicht, also ist das hier im Prinzip wieder nur unser jetziges Verständnis.

Rituelle Gewalt findet in organisierten Gewaltstrukturen statt und bezeichnet den systematischen Missbrauch von Menschen mit dem Ziel, diese für die bestehende Struktur gefügig zu machen und auszunutzen. Häufig geschieht dies unter dem Deckmantel irgendeiner Ideologie.
Betroffene sind in der Regel von Geburt an massiver psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. In der Regel sind die Eltern selbst involviert, da es ansonsten nur schwer möglich ist, ein Kind so durchgängig und viel zu missbrauchen. Oft findet rituelle Gewalt generationenübergreifend innerhalb von Familien statt.
Durch verschiedenste Manipulationstechniken werden Betroffene an die Gruppe gebunden. Ihnen werden Schweigegebote auferlegt (sie werden durch Folter dazu konditioniert nicht über das Geschehene zu reden) und die Erlebnisse werden so für sie dargestellt, dass es schwierig bis unmöglich für sie wird, überhaupt darüber zu sprechen. Eine Vergewaltigung ist dann eben keine Vergewaltigung sondern eine feierliche Zeremonie und Missbrauch ist nicht Missbrauch sondern Liebe. Ihnen wird schlichtweg keine Möglichkeit gegeben, Wörter zu erlernen, durch die sie das Geschehen richtig einordnen könnten.
Es werden Techniken verwendet, die unter dem Begriff „Mind Control“ zusammengefasst werden. Insgesamt geht es dabei darum, den Betroffenen durch massive Konditionierung beizubringen, dass ihre Wahrnehmung grundsätzlich falsch ist, niemand ihnen glaubt, sie für jedes Fehlverhalten (zum Beispiel darüber reden) bestraft werden und sie niemandem außerhalb der Gruppe vertrauen können.
Damit der Außenwelt nichts von dem Missbrauch auffällt, wird häufig weiße Folter angewandt. Weiße Folter ist ein Oberbegriff für Foltertechniken, die kaum bis keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Ich werde an dieser Stelle keine Beispiele dafür aufzählen, aber im Wikipedia-Artikel zu weißer Folter finden sich einige davon.
Häufig (nicht immer!) entwickeln Betroffene eine dissoziative Identitätsstörung. Hierbei kann es sich um eine reaktive oder eine programmierte DIS handeln.

Während eine reaktive DIS eine DIS bezeichnet, die jemand „einfach so“ (ohne äußeren Einfluss) als Reaktion auf Missbrauch entwickelt, wird eine programmierte DIS von Tätern systematisch bei Betroffenen erzeugt (daher auch der Name).
Da man für die Entwicklung einer DIS eine gewisse Neigung zu Dissoziation braucht, werden die Kinder in solchen Strukturen nach der Geburt auf ihre Dissoziationsfähigkeit geprüft. Danach werden dann durch gezielten Missbrauch bestimmte Innenpersonen erschaffen, bestimmte Hierarchien innerhalb des Systems (DIS-Systems), die innere Welt wird in der Regel von den Tätern gestaltet und es werden gezielt Innenpersonen abgespalten, deren einzige Aufgabe es ist, das System zu überwachen, für bestimmtes Verhalten zu bestrafen oder an bestimmten Tagen zu bestimmten Orten zu gehen, sodass das System der Gruppe nie (nur sehr schwierig) entfliehen kann, da es eben viele Innenpersonen gibt, die immer wieder zurücklaufen. Solche Systeme sind häufig polyfragmentiert - das heißt, sie haben über 100 Innenpersonen.

Das ist alles, was mir momentan zusammenhängend zu diesem Thema einfällt. Ich verlinke an dieser Stelle einmal die Definition von ritueller Gewalt des Vielfalt e.V., sowie eine Reportage über ein betroffenes System von ritueller Gewalt.

Freitag, 23. Juli 2021

#68: Missbrauch und Leugnen

Content Note: Leugnung von ritueller Gewalt.

Rituelle Gewalt existiert nicht. Das wurde mir neulich gesagt. Zum Glück stellte sich schon nach einer Minute heraus, dass es ein Missverständnis war und die Person eigentlich etwas anderes gemeint hatte. Trotzdem kräuselte sich, in dieser einen Minute, alles bei mir.
Wir sind nicht von ritueller Gewalt betroffen, aber kennen natürlich viele Systeme, die es sind. Da die meisten Systeme nicht so direkt über ihre Traumata reden, wissen wir es bei denen, die wir persönlich kennen, nicht, aber es gibt natürlich zahlreiche Systeme auf Instagram und Youtube, die betroffen sind und davon berichten.
Ich weiß, dass rituelle Gewalt existiert. Ich weiß es, weil ich weiß, wie grauenvoll Menschen sind und sein können. Ich weiß es so sehr, dass ich nie auf die Idee käme, einen Funken davon anzuzweifeln. Und dann gibt es Menschen, die einfach so nicht daran glauben. Auch wenn es hier nur ein Missverständnis war, wurde es mir dadurch zum ersten mal so richtig, richtig bewusst.

Ich weiß nicht, was ich fühle. Wut, Trauer, ich habe keine Ahnung. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe nicht, wie schön die Welt von jemandem sein muss, dass er sich nicht vorstellen kann will, dass etwas so grauenvolles existiert.
Und dann denke ich mir aber auch, ich kann es der Person ja nicht beweisen. Wenn ich sage, ich weiß das, dann klingt das vollkommen an den Haaren herbeigezogen. Ich hab ja nicht mal etwas erlebt. Vermutlich fühlt es sich an wie die eine Person, die ich vor Jahren getroffen habe, die mir weismachen wollte, dass unser Gendefekt heilbar ist. Die „wusste“ das bestimmt auch.
Das macht mich verzweifelt.
Für mein Leben spielt es keine Rolle. Ich bin nicht betroffen. Niemand bestreitet meine Lebensrealität. Aber das ekelhafte Gefühl davon, wenn man etwas erlebt hat und niemand glaubt es, das kenne ich. Und ich will nicht, dass irgendjemand das erleben muss.

Ich hab irgendwann einen Entschluss gefasst. Wenn ich denke, dass Menschen über Ereignisse lügen, dann spreche ich es nicht an, wenn ich nicht mit 100% Genauigkeit beweisen kann, dass sie es tun. Wenn die Ungewissheit zu schlimm für mich ist, gehe ich aus ihrem Leben. Aber ich werde nie, nie, nie, niemals jemanden einer Lüge bezichtigen, die ich nicht beweisen kann. Weil die Chance besteht, dass es die Wahrheit ist. Weil es, wenn es wirklich die Wahrheit ist, viel zu schlimm wäre.
Andere Menschen handhaben das nicht so. Sie reden einfach. Es ist ja nur eine Meinung. Das kann man ja ansprechen, wenn es berechtigte Zweifel gibt.
Aber es ist keine Meinung. Es ist das Absprechen einer Existenz, es ist ein metaphorisches Messer in die Seele oder ins Herz oder meinetwegen ins limbische System der betroffenen Person.
Man hat keinen Nachteil davon, einfach nichts zu sagen. Keinen einzigen. Ich werde nie verstehen, warum man dann jemandem ins Gesicht sagt, dass er lügt.
Würde man sich nur eine Sekunde vorstellen, man erzählt jemandem sein Leben und derjenige sagt 'Nein'.
Einfach so.
Hört man auf zu existieren.

Blyth hat uns gesagt, wir hätten uns alles nur eingebildet. Den Missbrauch. Das nennt man Gaslighting. Dass man jemanden dazu bringt, an seinen eigenen Erinnerungen zu zweifeln. An seiner eigenen Wahrnehmung. An seinem eigenen Leben.
Jemandem zu sagen, das, was er erlebt hat, würde nicht existieren, ist nichts anderes. Es ist derselbe Missbrauch. Es ist dieselbe Gewalt.

Gewalt ist keine Meinung.

Dienstag, 20. Juli 2021

#67: empathielos

Die Welt um mich herum existiert nicht. Sie besteht aus nicht lebendigen Dingen, Pappmenschen und Kunstbäumen, meinen Babyenten und mir. Und uns.
Ich verstehe niemanden mehr. Ich kann es nicht nachvollziehen. Ich weiß nicht mehr, was Verständnis ist, außer ein gelogenes „oh nein, das klingt extrem unflauschig, hoffentlich geht es dir bald besser, wenn ich irgendetwas für dich tun kann, sag Bescheid“, weil ich nicht die Person sein will, die von jedem Problem, das Menschen haben, genervt ist. Nicht der Mensch sein will, der ich bin.
Mit Corona kam es, dass ich mich vollkommen distanziert fühlte von anderen Menschen. Es hat mich einfach nicht mehr interessiert. Ich glaube, Menschen könnten einfach verschwinden und ich würde es nicht registrieren. Sie sind mir so dermaßen egal.
Aber meine Freunde waren mir noch wichtig. Ich wollte wirklich, dass die Welt flauschig ist, für sie. Mittlerweile ist mir auch das egal. Menschen sind Pappscheiben. Nicht real, nicht real, nicht real. Die gesamte Welt ist nicht real und eine Lüge.

Ich hasse mich. Ich hab das Gefühl, das muss ich hier reinschreiben. Ich will diese Person nicht sein, die andere Menschen nicht interessieren, die von jedem ihrer Probleme genervt ist, die absolut kein Verständnis für irgendetwas hat. Deshalb verhalte ich mich natürlich auch nicht so und lüge Menschen an, es würde mich interessieren, versuche, zu helfen, weil, was zur Hölle soll ich überhaupt bitte sonst tun. Es ist trotzdem widerlich. Ich will auch nicht lügen. Es erscheint mir nur als die beste Lösung, die ich momentan haben kann.
Ich fühle mich so verdammt alleine. Ich könnte den ganzen Tag mit Menschen verbringen und es würde nichts ändern. Davon abgesehen, dass das nicht geht. Davon abgesehen, dass Corona.

Ich hasse die Maskenpflicht. Sie macht mein Leben absolut unlebenswert und der einzige Grund, warum ich mich nicht umbringe, ist, dass sie irgendwann vorbei ist und ich keine Depressionen habe, die mir sagen, dass es alles niemals besser wird. Ich hab keine Lust mehr, um Aussagen herumzutänzeln, weil andere Menschen nicht verstehen, dass man etwas hassen und gleichzeitig sinnvoll finden kann.
Ich hasse die Maskenpflicht, weil ich Menschen nicht mehr sehe. Weil sie genauso gut Pappscheiben sein könnten und inzwischen auch sind. Weil sie keine Gefühle mehr haben. Ich hasse sie, weil ich es psychisch nicht abkann, eine Maske zu tragen, aber ich mich, wenn ich es nicht tue, fühle, als hätte ich gerade jemanden ermordet, obwohl ich seit einem Jahr eine Befreiung habe. Jeder Schritt vor die Haustür ist nur eine Entscheidung, auf welche Art ich mich heute scheiße fühlen möchte.

Ich bin nicht mehr empathiefähig und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. In meinem Kopf passen andere Menschen und Gefühle nicht mehr zusammen. Andere Menschen existieren überhaupt nicht mehr. Ich bin ganz alleine in dieser komplett leeren Welt.

Mittwoch, 14. Juli 2021

#66: anfangen aufzugeben

Ich fühle mich, als würde ich feststecken. Jeden Tag denke ich: wenn wir wieder laufen können. Wenn wir wieder laufen können, werde ich. * (Anmerkung: wir können laufen, auch ganz normal die meiste Zeit über, es tut aber weh.)
Es geht nicht. Ich habe das ein halbes Jahr lang gedacht und dann ging es wieder, jetzt stecken wir seit vier Monaten fest. Ich weigere mich, Hilfsmittel zu kaufen, weil wir das alles irgendwann wieder können werden. In Schlangen stehen und lange Spaziergänge machen und Rennen, mit wenig genug Schmerzen, dass man sie in Kauf nehmen kann. Seit einem Jahr tun wir nichts mehr als auf ein Leben warten, dass wir irgendwann, vielleicht, hoffentlich haben werden.
Und wenn wir uns einen Rollator kaufe oder Stützen (nicht Krücken, hab ich inzwischen gelernt) oder eine Erhöhung der Schwerbehinderung beantragen, dann sagen wir an irgendeiner Stelle auch, dass die Möglichkeit besteht, dass es nicht besser wird. Dass wir nie wieder Rennen können werden, nie wieder lange Spaziergänge machen können werden, nie wieder dieselben Coping-Strategien werden haben können, zumindest nicht ohne Hilfsmittel und das ist eben einfach nicht dasselbe. Und egal, wie sehr ich weiß, dass unser Leben so viel besser wäre, wenn wir einfach anfangen würden, damit zu leben, anstatt dagegen, anstatt auf das Ende zu warten, das nie kommt, es geht nicht. Ich fühle mich schuldig. Obwohl ich nicht mal weiß warum, obwohl es nicht mal irgendetwas gibt, von dem ich mir einreden könnte, dass ich es anders oder besser hätte machen können; ich bin mir vollkommen bewusst, dass es absolut nichts mit mir zu tun hat.

Ab irgendeinem Punkt muss man anfangen, aufzugeben. Weil man sonst nur darauf wartet, dass man irgendein Leben wiederhaben kann, das man irgendwann mal hatte, obwohl das nicht mehr geht. Weil man erst an dem Punkt, wo man sich eingesteht, dass die Möglichkeit besteht, dass alles für immer anders sein wird, anfangen kann, sein Leben so umzugestalten, dass es eben anders ist, um sich an die neuen Begebenheiten anzupassen, aber vielleicht nicht unbedingt schlechter.
Wir haben uns schon mal am Knie verletzt. Seitdem können wir keine engen Hosen mehr tragen, das Knie nicht mehr länger als ein paar Minuten anwinkeln und wir konnten jahrelang keinen Kraftsport machen oder Joggen. Wir mussten Sachen ändern. Wir mussten andere Arten finden, Sport zu machen und unseren halben Kleiderschrank ändern und es war irgendwann okay (und irgendwann konnten wir auch wieder Kraftsport machen und Joggen gehen). Und immer noch schränkt es uns an manchen Stellen ein, aber es ist inzwischen normal. Es ist auch normal geworden, dass unser rechtes Knie die gesamte Zeit wehtut. Es war nicht mehr wichtig. Es war einfach da. Es hat nicht mehr gestört.
Und klar, es ist schlimmer, dass wir jetzt nicht mehr laufen können, ohne Schmerzen zu haben. Dass wir nicht mal mehr Spazierengehen, nicht mal mehr vernünftig Kochen können oder Einkaufen oder, oder, oder, weil Stehen noch mehr wehtut. Aber es ist nicht so, als wäre das nichts, mit dem man lernen könnte, zu leben.

Aber wie findet man einen Abschluss? Es gibt immer neue Möglichkeiten. Gerade steht zur Diskussion, ob wir Rheuma haben und wenn ja, dann könnte es daran liegen, dass die Verletzung nicht vernünftig heilt und wenn wir dann Cortison nehmen, vielleicht heilt es dann doch. So geht es seit elf Monaten: in ein paar Wochen werden wir das und das ausprobiert haben und dann wird es besser. Oder dann. Oder dann. Oder dann. Vielleicht, hoffentlich, irgendwann.
Die Sache ist aber, nur, weil man sich eingesteht, dass etwas vielleicht nicht besser wird, heißt das ja nicht, dass es tatsächlich nicht besser werden kann. Als wir uns damals verletzt hatten, hat es auch zwei Jahre gedauert bis wir annährend wieder das Leben haben konnten, das wir vorher hatten. Man muss nur einen Punkt finden, an dem man aufhört, darauf zu warten und anfängt, Anpassungen zu machen. Erst dann kann sich irgendetwas ändern.

Montag, 12. Juli 2021

#65: Gehirnmatsch & Co-Bewusstsein

Neuronal gesehen sind die verschiedenen Innenpersonen bei einer DIS nur verschiedene Gehirnaktivitätsmuster mit einem dazugehörigen Identitätsgefühl. Mit diesem Hintergrund ist es nicht vermutlich nicht schwierig, sich vorzustellen, wie mehrere Innenpersonen gleichzeitig da sein können oder wie man ein Gefühl von „Matsch“, wie wir es immer nennen, haben kann, bei dem man nicht genau weiß, wer eigentlich da ist.
Wir hatten lange Zeit ein ziemlich gutes Gefühl dafür, wer da ist, die meiste Zeit über jedenfalls. Gerade, wenn wir müde sind, wissen wir es eigentlich konstant nicht, aber meistens sind wir zum Glück nicht müde.
Dann ist der Unfall passiert.
Wir dachten lange Zeit, wir wechseln weniger, wenn wir körperliche Probleme haben. Das würde auch Sinn machen. Erstens haben wir das schon von anderen Systemen teilweise gehört, zweitens macht es vermutlich gerade bei einer chronischen Erkrankung, die schon in der Kindheit da war, Sinn, dass es eine Innenperson gibt, die spezifisch dafür da ist, sich in solchen Situationen um den Körper zu kümmern. Es würde Sinn machen, wenn diese Person gleichzeitig der Host ist. Jedenfalls für unser Leben.
Neulich waren wir bei unserer Therapeutin (Therapiebeginn vermutlich Mitte August, wenn die Krankenkasse bis dahin bewilligt) und erzählten ihr dies. Sie fand es komisch, da die Schmerzen, die wir haben, ja eigentlich eine konstante Stressquelle sind und Stress eigentlich mehr Wechsel bedeuten sollte und nicht weniger.
Wir beobachteten dann auch, dass wir sehr spezifische Probleme öfter hatten, die wir zuletzt vor der Diagnose gehabt hatten, aufgrund des Gefühls, irgendeine Melanie-Rolle erfüllen zu müssen. Deshalb horchten wir in uns hinein und kamen zu dem Schluss, dass wir gerade eigentlich die meiste Zeit über keine Ahnung haben, wer da ist. Es gibt kein Identitätsgefühl. Es ist mehr ein "keine Ahnung, interessiert mich auch nicht". Ich glaube, es ist ein "es gibt gerade wichtigere Probleme". Auch bei der Therapie meinten wir schon, dass sich eine DIS-Therapie gerade sehr witzlos anfühlt, weil wir wichtigere Probleme haben. (Nur dass es an den Problemen ohnehin auch nichts ändern würde, wenn wir keine Traumatherapie hätten. Deshalb machen wir trotzdem eine.)
Das ist übrigens auch der Grund, warum seit ein paar Wochen unter den Posts nicht mehr steht, von wem sie geschrieben wurden. (Auch wenn man das ohnehin nur am Computer sehen kann, warum auch immer.) Wir wissen es eigentlich durchgehend nicht. Das Klarste, was wir in letzter Zeit so hatten, war ein "Skye, mit irgendeinem Kind oder Lana". Was auch nicht wirklich sehr präzise ist.
Für uns ist das nicht schlimm. Es ist einfach Normalität.
Es ist nur wichtig zu wissen, dass es existiert.

Donnerstag, 8. Juli 2021

#64: Zeitreise II

Als ich neulich ein paar Texte rausgesucht hab und dafür relativ viel von allem gelesen habe, was wir früher so geschrieben haben, fielen mir einige Dinge auf, die im Kontext der DIS-Diagnose sehr interessant sind. Man braucht dafür vielleicht etwas Hintergrundinfo: mittlerweile schreiben wir meistens sehr geordnete Texte. Es gibt irgendein Thema, wir machen uns darüber Gedanken, wir schreiben es auf, der Text wird mehrmals bearbeitet, meistens auch deutlich zeitversetzt zu seiner Entstehung veröffentlicht. Das liegt daran, dass es sonst momentan nicht viel gibt, über das wir schreiben wollen würden. Unser Leben ist ziemlich leer.
Früher haben wir sehr frei Texte geschrieben, nur Rechtschreibung korrigiert und dadurch entstand sehr viel, das wir teils selbst nicht verstanden haben, wenn wir uns nicht gerade fünf Stunden mit dem Text hingesetzt haben, um die Metaphern (oder was auch immer) zu verstehen. Und so gibt es auch sehr viele Anspielungen auf DIS-Dinge (pun not intended).
Hier einige Auszüge:

"Ich kann dir nicht sagen, was ich meine, ich werde niemals reden können, diese gesamte Zeit wird immer ein totgeschwiegener Anfang sein, den ich nicht ausspreche. [...] Es gibt keine Worte, es wird niemals welche geben, weil ich alles so tief in mir verschlossen habe, dass ich die Wahrheit selbst nicht mehr kenne." - 20. März 2014.
Hintergrund: Dieser Text war ein Brief an unseren Ex darüber, dass wir unsere Beziehungsproblematiken nicht erklären konnten, die vom Missbrauch stammten. (Von dem wir nichts wussten.)

"Es gibt Wörter, die so hässlich sind, dass du sie nicht aussprechen kannst und es gab mal eine Sprache, die sich nach Heimat anfühlte, aber gestorben ist. In deinem Kopf sprichst du anders. Aber das ist nicht deine Heimat und so läufst du in Sackgassen, während du versuchst Zuhause zu finden, aber das existiert nicht mehr. Du existierst nicht mehr. Jedenfalls nicht so, jedenfalls nicht voller Worte, [...] bis zu dem Punkt, an dem du verstehst, warum Menschen sich andere Namen geben." - 02. März 2015
Kurz nach dem Hostwechsel; der erste Satz bezieht sich auf (unbekannten) Missbrauch, das 'Du' ist Direktanrede für uns und Melanie hatte das Gefühl, sie müsste ihren Namen [vom Ausweisnamen] ändern, weil "sie plötzlich so anders war".
Den Text haben wir tatsächlich auch unserem Psychologen gezeigt, als es um die Diagnosestellung ging. Wir haben generell relativ oft uns selbst mit 'Du' angesprochen oder ganze Gespräche aufgeschrieben, die in unserem Kopf stattgefunden haben. Aber das war natürlich alles nur ein Stilmittel. /ironie

"Kann ich bitte meine Erinnerungen wiederhaben?
Ich habe Angst, dass dort nur Leere ist; ich habe Angst, irgendetwas zu finden."
- 26. Dezember 2015.
Ein kleiner Text an unseren Exfreund (Blyth).

"Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Vielleicht habe ich nie irgendetwas gesagt. Vielleicht ist das alles auch einfach gar nicht passiert und ich bilde es mir nur ein. [...] Wusstest du, dass ich jede Erinnerung an dich aus meinem Gedächtnis streiche? Es dauert in etwa sechs Monate. Aber dann sehen wir uns wieder. Du sagst 'ich weiß noch als' und ich denke: nein. Das ist nicht passiert. Jedenfalls nicht in meinem Leben." - 19. Januar 2017.
Gaslighting gepaart mit Amnesie und dem Zeitraum, den es dauert, Erinnerungen abzuspalten, die nicht einfach weggehen könnten, ohne auffällig zu sein, weshalb es erst nach ein paar Monaten passiert. Irgendwann ist mir das aufgefallen: dass ich Schlimmes erleben konnte und nach einem halben Jahr war es relativ zuverlässig weg. (Und weg heißt natürlich, dass jemand anders die Erinnerungen und vor allem die dazugehörigen Gefühle bekommen hat.)

Es gibt noch einen Text, in dem wir darüber geredet haben, dass es sich anfühlt, als wäre "ich" verschiedene Personen. Ich erinnere mich daran, dass ich den Text dem Psychologen gezeigt habe, aber ich kann ihn nicht finden. Er ist nicht auf unserem Zusammenfassungsblog - ich hab eine Notiz gefunden, dass er von 2015 ist, aber leider habe ich keine Ahnung, was das tagebuchmäßig heißt, welches Tagebuch wir da gerade hatten. Deshalb kann ich den leider nicht zeigen, was mich selbst traurig macht, ich hätte den gerne zitiert.
Nichtsdestotrotz fand ich das alles sehr interessant zu lesen!
Ich hab auch ein tolles Beispiel für ein Gespräch gefunden, das aufgeschrieben wurde, aber der Inhalt ist leider nichts, was wir auf dem Blog haben wollen würden, also taucht es an dieser Stelle nicht auf.

Montag, 5. Juli 2021

#63: Erste Person Plural III

Ich möchte dich anschreien. Wie du immer noch beschließt, unsere Lebensrealität für dich umzudefinieren. Wie wir nichts wert sind, was ich spüren kann, in jedem einzelnen Satz von dir. Als hätte ich jemals etwas anderes erwarten können.
Es fühlt sich so ekelhaft an, das eigene Sein erklärt zu bekommen, in die Normalität reindefiniert zu werden, in der andere Menschen so gerne leben würden, als wäre dort jemals Platz für uns gewesen. "Ich definiere Personen nicht nach einer Persönlichkeit", sagst du, "jeder Mensch hat Persönlichkeitsanteile, die sich mal mehr mal weniger voneinander unterscheiden, mal mehr mal weniger verträglich miteinander sind", als wüsstest du nicht genau, was eine DIS ist. "Ich akzeptiere das Wir in dir als Lebensvorstellung, aber sehe dich als Person dann doch in einem Körper.
Insofern darfst du dich nicht wundern, wenn ich dich als ein 'Du' betrachte und auch so benenne."
Insofern darfst du dich nicht wundern, wenn ich dein Sein komplett ignoriere und es in irgendeine Schublade stecke, die für mich besser passt.

Es kotzt mich so sehr an. Rein biologisch gesehen sind wir eine Person, die neuronal aufgeteilt ist, die Identitätsgefühle sind nur ein Stück Zuordnung. Damit arbeiten wir. Nach außen hin benutzen wir verschiedene Namen und Pluralpronomen, weil es sich richtiger anfühlt, uns getrennt zu betrachten in einem sozialen Kontext mit anderen Menschen, weil uns das hilft, weil es ein Stück Therapie gegen eine fehlerhafte Vorstellung von Sein ist, ein Stück Sichtbarkeit für alles, was wir erlebt haben. Niemand sonst hat das Recht, für sich selbst festzustellen, wie man uns behandeln sollte. Niemand sonst hat das Recht, für sich selbst zu definieren, was es bedeutet, wie wir sind. Es gibt Systeme, die sich als eine Person mit gespaltenen Persönlichkeitsanteilen wahrnehmen. Das sind nicht Wir.

Dass diese Aussagen von Blyth kamen, steht mit Absicht erst an dieser Stelle im Text, weil sich gerne alle angesprochen fühlen dürfen, die genau dasselbe zu uns gesagt haben. Viel Spaß mit der Erkenntnis, dass ihr uns genauso missachtet habt wie jemand, dem wir offensichtlich komplett gleichgültig sind. Wir haben klar definiert, wie wir uns den Umgang von anderen Menschen mit unserer DIS wünschen und an Stellen, an denen es unklar ist, sind wir immer offen für Fragen. Unser Sein in einen anderen Kontext zu setzen und uns darauf basierend (falsch) zu behandeln, ist übergriffig.

Irgendjemand wird sich vielleicht daran erinnern, dass wir in diesem Post im April angeschnitten hatten, dass jemand von uns Blyth angeschrieben hat. Zum Glück fiel uns auf, dass man Nachrichten zurückziehen kann (jedenfalls dort, wo die Nachricht geschrieben wurde) und das haben wir dann gemacht, bevor er überhaupt merken konnte, dass wir ihm geschrieben haben.
Vor ein paar Tagen ist dasselbe nochmal passiert. Ich hab das zwar wahrgenommen, aber nicht richtig, es war irgendwie weit weg. Mittlerweile haben wir den Account gelöscht, von dem ihm geschrieben wurde. Nur nicht ohne vorher zu lesen, was da für Nachrichten ausgetauscht wurden.
Natürlich ist es nicht weiter verwunderlich, dass ein Täter übergriffig handelt, dass er ignoriert, was man sagt und es vollkommen ohne Rücksicht irgendwie in seinem Leben einordnet, dass es ihm schlichtweg egal ist. Wütend hat es mich trotzdem gemacht, vor allem, weil er bei Weitem nicht die einzige Person ist, die bezüglich unserer DIS solche Aussagen trifft. Wir hatten dieselbe Aussage erst vor ein paar Wochen von jemand anderem - und die Person war kein Täter.

Sonntag, 4. Juli 2021

#62: Zeitreise

Ich hab gesagt, wir machen eine kleine Zeitreise, weil ich persönlich das interessant fand, weil wir einfach sehr viel unterschiedliches in unserem Leben schon geschrieben haben. Außerdem habe ich einige Texte gefunden, die gerade im Kontext der DIS extrem interessant sind. Um die geht es heute allerdings nicht! Heute gibt es ein paar Gedichts- und allgemeine Prosaauschnitte:

Atlantik

Die Ferne verliert sich in unendlichen Tagen,
drei Monate, drei Jahre, drei Blicke entfernt.
Der Wind weht her die leisen Klagen,
während er durch tosende Wellen des Ozeans fährt.

Die Worte, so einsam, an Flügel gebunden -
schlagend, entfliehend, der einsamen Nacht;
im Licht des Dunkeln für immer verschwunden
und Schwärze ward in Träumen durchwacht.

- 04. Juni 2012

aufgefangen

und die Worte, die du schreibst
sind die Sterne am Himmel,
die ich nicht sehen kann,
die Hoffnung, die
versinkt, versinkt, versinkt.
und deine Worte
sind der Regen
der Welt, der
so sanft,
so leis
in Kälte
fällt.

- 27. September 2012

lightgown

And I thought I would be safe here
if my words brought so much light
that if you looked between the lines, you
couldn't find what they denied,

so I wrote to bring you moments,
hoping you would stay right here,
but you went and tore my pages,
breaking all I once held dear.

Wondering what my veil held hidden,
woven from the words I wrote,
so you never stopped to question
if my light should be my own,

since all you could see was this brightness
and you never really knew
that it only seemed this radiant
due to the darkness it shone trough,

that far beneath my world of beauty
there was no light to exist,
for every word that once held truth dies
until lies are all there is.

So when you left to see more light since
for you my world was just too dark,
you never cared to turn around to
the blazing fire that you sparked.

- 11. August 2014

Ich finde kein Notizbuch, das meine Gefühle beschreibt. Ich kann nicht schreiben. Die Worte sind in irgendeinem Gefühlsnebel verschwunden und gerade habe ich ein paar wiedergefunden, irgendwo im November, der kein Monat ist, aber sie werden alle wieder verschwinden, während die Dinge verschwinden, aus denen meine Welt besteht. Vielleicht verschwindet meine Welt ja auch, vielleicht finde ich deshalb keine Notizbücher, vielleicht gibt es gar keine; vielleicht ist es ja egal, ob sie Linien haben oder Kästchen oder Punkte oder einfach nichts, ob sie einen Einband, einen doppelten Einband oder Ringe haben, oder ob sie nur von ein paar Fäden zusammengehalten werden. Vielleicht ist das ja mein Leben, von ein paar Fäden zusammengehalten, aber Pink ist keine Farbe, die man mit Nebel verbinden würde, genauso wenig wie Hellblau. Oder Gelb. Vielleicht werden sie nie wieder passen, genauso wenig wie sich Dinge richtig anfühlen. Vielleicht aber auch doch. Vielleicht ist ein schönes Wort, es ist so voller Hoffnung, anders als ich. Ich ist kein schönes Wort; ich bin kein schönes Wort. Oder ein Buchstabe oder ein Satz.
- 13. November 2014

embracing shadows

If I can hate you but still love you, why can't I hate myself without falling apart?
It was never a real question; I saw the end right from the start.
Now I'm crumbling in the shadows, a piece of paper, clean white sheet;
thought you'd bring words onto my blankness, your hope was all I'd ever need.

If I can love you and yet hate you, why can't I love myself to stay right by your side?
I know I cannot find an answer. I guess my world's not made for light.
There is this feeling, is this knowledge: I can't replace what I have lost,
for even without your presence hurting, my light is gone, my hope has stopped.

- 05. August 2018

Donnerstag, 1. Juli 2021

#61: get out while you can

In einer anderen Welt habe ich Ja gesagt, als du gefragt hast, ob du vorbeikommen kannst und vielleicht wären wir dann immer noch befreundet. Das ist ein Gedanke, der meinen Kopf nicht verlässt. Ich lebe immer noch in einer Welt, in der du fehlst, obwohl du doch gar nicht weit weg bist.
Die Antwort ist vermutlich Nein. Du warst immer weg, noch bevor du überhaupt gegangen bist. Dass ich Teil deiner realen Welt geworden wäre, hätte nichts daran geändert.
Weißt du, es hat eigentlich auch gar nicht so viel mit dir zu tun. Mein Gehirn hängt sich nur an jeden Fetzen Verlassen als wäre es das Wichtigste, was jemals passiert ist. Ich kann Menschen jedes Jahr Nachrichten schreiben, weil ich mir Sorgen mache, dass sie tot sein könnten und wenn sie mir nach sechs Jahren antworten, bin ich trotzdem enttäuscht, dass ich die Freundschaft nicht wiederhaben kann.

Ich hätte nicht mehr viel darüber nachgedacht, dass du irgendwie hier bist, aber eben irgendwie auch nicht, wenn ich nicht geträumt hätte, dass du mir geschrieben hast. So etwas träume ich oft. Manchmal vergesse ich aber auch Sachen und denke, ich habe sie geträumt, aber später merke ich, dass sie real passiert sind und ich einfach nur Amnesie habe. Deshalb hab ich gesucht und gesucht. Es war ein Traum, dessen bin ich mir inzwischen sicher. Auch wenn ich es erst nicht komplett ausgeschlossen hatte, dass es tatsächlich passiert ist, weil es definitiv Beschützer hier gibt, die dich nicht in unserem Leben haben wollen würden. Als wärst du die einzige Person, die wegrennt.
Du bist nur unbeständig genug, um wiederzukommen. Wenn wir rennen, dann ist das nie nur vorübergehend. Dass ich dasselbe Gefühl in anderen Menschen auslöse wie du in mir, das ist mir trotzdem in all den neun Jahren nie aufgefallen. Wie absolut grausam, nicht war? Ich kann Herzen zerstückeln ohne es überhaupt wahrzunehmen.
Du könntest jederzeit zurückkommen und ich denke, das ist gut so. Ich glaube, ich könnte nie zurückkehren. Ich habe mir selbst schlichtweg keine Möglichkeit gelassen.
Manchmal zerbreche ich mein eigenes Herz.

Aber die Wahrheit ist auch, dass es nichts an meiner chronischen Einsamkeit geändert hätte, wäre 2014 anders verlaufen und ich hätte niemanden verloren. Ich konnte ohnehin nie irgendetwas halten. Wenn Menschen stattdessen mich verlassen, fühlt es sich nur eben unfertig an. Und ich frage mich oft, ob sie dasselbe Gefühl haben von Zurückgehen wollen und wir haben unsere Telefonnummer geändert und unseren gesamten Namen und niemand wird uns jemals wiederfinden können. Selbst wenn irgendjemand hier wäre - niemand von uns ist mehr Melanie und erst Recht nicht [Ausweisname], unser Blog heißt 'Cirrus Floccus' und nichts hier spricht wirklich darüber, dass es irgendwann mal anders war. Wir können nicht zurückgehen und niemand wird jemals zu uns zurückkehren können. Manchmal macht mich das unendlich traurig.
Als ich diesen Text hier angefangen habe, habe ich versucht, eine Liste zu schreiben mit Blognamen, die wir im Laufe der Zeit hatten. Das ist witzlos, wenn man Amnesie hat, habe ich festgestellt. Ich habe keine Ahnung. Es würde auch nicht besser machen, dass ich einfach nur erklären will, was ich 2014 nicht erklären konnte, wofür ich mir selbst jede Möglichkeit genommen habe. Ich fand es nur interessant, rede ich mir selbst ein. Weil das besser macht, dass ich vor meinem Leben davongerannt bin.

Vielleicht machen wir eine kleine Zeitreise.