Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
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Freitag, 6. August 2021

#70: Selbstdiagnostik

Gerade im nordamerikanischen Raum scheint es viele Systeme zu geben, die sich die DIS selbst diagnostiziert haben, aber auch im deutschsprachigen Raum haben wir inzwischen davon gehört. In der Community wird diesbezüglich oft angesprochen, dass man bei solch komplexen Diagnosen nichts selbst diagnostizieren sollte, da es einfach viele andere Störungen gibt, die ähnliche oder ähnlich klingende Symptome haben, mit denen man sein eigenes Empfinden verwechseln könnte.
Viele davon sind der DIS sehr ähnlich und haben nur eine etwas andere Symptomausprägung. Dies ist beispielsweise bei der partiellen DIS so und so können DIS-spezifische Hilfsangebote vermutlich trotzdem helfen. Es gibt jedoch auch ähnliche Störungen, die einen gänzlich anderen Therapie-Ansatz verfolgen. Dadurch ist es natürlich enorm wichtig zu wissen, was man genau hat.
Auch grundsätzlich ist es wichtig, sämtliche Vermutungen, die man über Diagnosen hat, mit einer Fachperson abzusprechen - immerhin gibt es einen Grund, warum man so etwas studieren muss und warum nicht jeder Mensch auf der Welt, der ein paar Psychologiebücher gelesen hat, Diagnosen stellen darf. Bei medizinischen Problemen ist es ja genauso.

Über uns selbst als System zu denken, hat uns zwar auch vor der Diagnose sehr geholfen (der Verdacht, dass wir eine DIS haben könnten, kam von uns, nachdem wir zufälligerweise einige Videos darüber gesehen hatten), allerdings wollten wir es unbedingt abklären lassen, weil es ja hätte sein können, dass wir alles komplett falsch interpretieren und eigentlich etwas ganz anderes haben. Deshalb haben wir in den drei Monaten zwischen der Vermutung und der Diagnose auch niemandem - mit Ausnahme von ruru - von unserem Verdacht erzählt. Es war uns einfach zu unsicher.
Jedoch hatten wir auch extremes Glück, dass unser Extherapeut sich zufälligerweise mit der DIS auskannte und wir innerhalb von einem Monat einen Termin bekommen konnten. Hätten wir erstmal eigenständig Fachpersonal suchen müssen, um uns auf eine Warteliste setzen zu lassen, hätten wir vermutlich Monate bis Jahre auf die Diagnostik warten müssen.

Genau deshalb kommt an dieser Stelle ein großes Aber: wir wissen, wie sehr es uns geholfen hat, uns als System zu sehen und auch so zu bezeichnen, auch vor der Diagnose, selbst wenn es nur bei ruru und in unserem Tagebuch war. Es erklärte jede Kleinigkeit unserer Problematik, die wir nie verstanden hatten. Jedes seltsame Gefühl, das wir gehabt hatten, von dem wir nie irgendjemandem erzählt hatten. Natürlich. Wir hatten eine DIS. Das war zu dem Zeitpunkt ja nicht anders, nur weil wir noch nicht diagnostiziert worden waren.
Da Systeme aus den USA oft sagen, sie müssen sich selbst diagnostizieren, weil sie sich keine Therapie leisten können, wird hier oft gesagt, in Deutschland (und vermutlich auch in Österreich, der Schweiz und Liechtenstein; von diesen Ländern haben wir allerdings wenig Ahnung) gibt es kostenlose Therapie, also kann man in jedem Fall eine Fachperson aufsuchen, die man wegen der DIS fragen kann, es dauert vielleicht ein wenig, aber aus diesem Grund sei eine Selbstdiagnostizierung absolut abzulehnen.
Dieses Mindset finde ich allerdings extrem kurzgedacht.

Beispiel: wir haben einen Freund, der Schizophrenie hat. Er lebt in einem kleinen Dorf inmitten anderer kleiner Dörfer, mitten auf dem Land, die nächste größere Stadt ist 1.5 Stunden Autofahrt entfernt. Als wir ihn kennengelernt haben, ging er seit Monaten zum einzigen Kassenpsychologen in seiner Umgebung. Der Psychologe hatte keine Diagnose gestellt, sondern meinte, sein Problem wäre einfach, dass er zu wenig Freunde hatte. Dementsprechend ging es ihm eigentlich nur schlechter wegen diesem Psychologen. Er brach dann die Therapie auch ab, jedoch hatte er ja weiterhin psychische Probleme, auch wenn niemand so richtig wusste, was eigentlich genau los ist.
Er hatte dann glücklicherweise die Möglichkeit für eine Diagnostik zu einer privaten Psychologin zu gehen, welche dann die Diagnose stellte. Jedoch war dies ein einzelnes Gespräch - mehr wäre finanziell auch gar nicht gegangen. Die DIS-Diagnostik erstreckt sich in der Regel über mehrere Sitzungen, bei denen erst ein extrem langer Fragebogen ausgefüllt wird (das alleine dauerte bei uns schon drei Sitzungen) und danach hat man noch einige Gespräche mit dem Therapeuten, um auch wirklich sicher zu gehen.

Und nein, es gibt nicht in jedem Land ein Kostenübernahme-Modell wie in Deutschland. Und selbst hier ist es einfach teilweise extrem schwierig zu beantragen (wir haben mal unserer Krankenkasse Fragen dazu gestellt und sie haben sich schlichtweg geweigert, diese zu beantworten, mit der Begründung, wir könnten ja einfach mehr Kassenpsychologen anrufen, in Hannover gäbe es ja genug). Und manche Menschen wissen vielleicht auch schlichtweg nicht, dass es überhaupt existiert. Die diesbezügliche Bildung muss man erstmal haben. Hilfsangebote werden oft extrem stark versteckt.

„Kein Problem, man kann ja immer noch in eine Klinik gehen“, werden manche jetzt denken. Da hat man zwar auch lange Wartezeiten, aber immerhin muss die nicht in der Nähe sein und da gibt es auf jeden Fall Fachpersonal.
Diese Aussage kann, meiner Meinung nach, nur aus einer unglaublich privilegierten Position heraus getroffen werden. In eine Klinik zu gehen heißt oft, der gesamten Familie und eventuell Freunden, Klassenkameraden, etc., offenlegen zu müssen, dass man psychische Probleme hat. Schließlich ist man ja mehrere Wochen weg. Klar, bei Klassenkameraden kann man vielleicht noch sagen, dass man einfach doll krank war, aber die Familie bekommt natürlich mit, wo man hingeht, zumindest insofern man noch Zuhause wohnt. Natürlich ist es nichts schlimmes, psychisch krank zu sein - aber in manchen Umgebungen ist, das offenzulegen, auch einfach nicht sicher. Oder man traut sich eben einfach nicht, es ist einem zu privat, die Familie soll nichts davon erfahren, weil sie einen eh schon die ganze Zeit grauenvoll behandeln. In vielen Fällen, in denen noch aktiv Missbrauch stattfindet, wird man ja auch dafür bestraft, wenn man sich Hilfe sucht. In so einem Fall müsste man erstmal ausziehen, bevor man in eine Klinik gehen kann. Dazwischen liegen mitunter Jahre. Wenn man arbeitsunfähig ist, darf man oft erst mit 25 ausziehen, weil man vorher keine Sozialleistungen erhält - davon abgesehen, dass es als Sozialhilfe-Empfänger extrem schwierig ist, eine Wohnung zu finden.

Viele traumatisierte Menschen haben zudem in ihrem Leben medizinischen oder therapeutischen Missbrauch erfahren (oder beides). Es ist so verdammt schwierig, in so einem Fall zu einem Therapeuten zu gehen. Ich weiß nicht, wie gut man sich das vorstellen kann, wenn man selbst nicht betroffen ist, aber jedes mal, wenn wir öfter als 1-2 mal zu einem männlichen Therapeuten gehen, bekommen wir Angst, dass er uns vergewaltigt. Diese Angst steigert sich immer mehr, bis es uns schlichtweg nicht mehr möglich ist, ohne Begleitung überhaupt zu erscheinen. Bei weiblichen Therapeuten haben wir diese spezifische Angst zwar nicht, aber jedes mal, wenn uns widersprochen wird bei irgendetwas, bei dem wir uns sicher sind, müssen wir uns erstmal tage- bis wochenlang damit hinsetzen und ganz gründlich überprüfen, ob es einen Manipulationsversuch gab, ob die Therapeutin das Machtverhältnis ausgenutzt hat, um uns zu irgendwas zu überreden, was wir eigentlich nicht wollten, müssen mit ganz vielen Freunden darüber sprechen, weil deren Einschätzung diesbezüglich einfach wertfreier ist und müssen es dann in der Therapie ansprechen, wo regelmäßig dann das halbe System Angst hat, dass wir nun tatsächlich missbraucht werden.
„Einfach zu Fachpersonal gehen, um mehrere Sitzungen lang über Dinge zu reden, über die man vielleicht noch nie mit irgendjemandem geredet hat“, ist nicht einfach. Es ist manchmal schlichtweg nicht möglich. Nach Blyth haben wir über vier Jahre lang nicht mehr wirklich mit Therapeuten geredet. Wir haben ein paar mal Therapie angefangen, waren aber nie mehr als zehn Sitzungen da und die Therapie hat auch schlichtweg nicht funktioniert, weil wir zu viel nicht sagen konnten und vor allem auch nicht in der Lage waren, irgendetwas bei den Therapeuten anzusprechen, das mit ihnen zu tun hatte. Also, zum Beispiel, wenn sie uns verletzt haben oder so. Was für die Therapie ja eigentlich wichtig ist.

Hätten wir 2015 dieselben Videos über die DIS gesehen, hätten wir dieselbe Erleuchtung wie jetzt 2019 gehabt. Und wir wären damit zu Blyth gegangen, der uns gesagt hätte, dass das definitiv nicht stimmt. Und wir hätten jahrelang keinen anderen Therapeuten sehen können, obwohl wir in einer Großstadt wohnten, in der es mit Sicherheit Therapeuten gegeben hätte, die sich mit der DIS auskennen.
Des Weiteren wissen wir alle, wie viel Systeme falschdiagnostiziert werden. Wie viele Therapeuten auch einfach die Existenz der DIS absprechen oder Dinge sagen wie „das kannst du nicht haben, das ist extrem selten und außerdem bist du ja gar nicht traumatisiert (hast keine Erinnerungen)“. Wie oft einem selbst aufgrund eines Symptoms der DIS gesagt wird, dass man diese ja gar nicht haben kann.

An dieser Stelle kehren wir zum Anfang des Textes zurück:
Die Erkenntnis, dass wir ein System sind, dass wir eine DIS (o.Ä.) haben, hat uns schon vor der Diagnose extrem geholfen. Wir konnten plötzlich unser Leben verstehen, erklären. Wir konnten unser Sein verstehen. Die Welt ist so unglaublich viel besser geworden.
Wir wurden innerhalb von 3.5 Monaten diagnostiziert.
Wir mussten nicht jahrelang auf einen Therapieplatz, einen Klinikplatz, eine Diagnostik warten.

Andere Menschen haben nicht so viel Glück.
Andere Menschen haben für Monate oder vielleicht sogar Jahre nur sich selbst.
Wenn sie wirklich eine DIS haben, wie viel können sie dann in diesen Monaten oder Jahren bis zur Therapie vielleicht selbst schon erreichen?
Wenn sie keine DIS haben, aber aus welchen Gründen auch immer klingt die Diagnose für sie passend und hilft ihnen, ist es dann hilfreich, ihnen das abzusprechen? Vielleicht sind sie einfach traumatisiert. Vielleicht ist das, warum es passend klingt. Wenn es ihr Leben besser macht, warum ist es dann so verdammt wichtig, dass es falsch sein könnte? Wenn man sich jahrelang verbietet, mit den zu sein/arbeiten, was sich passend anfühlt, weil man sich irren könnte, dann klingt das ebenfalls nicht sinnvoll.
Klar. Wenn man sich irrt, dann gibt es höchstwahrscheinlich etwas, das einfach viel besser helfen könnte. Vielleicht lernt man sogar ein paar falsche Sachen, die man wieder verlernen muss, wenn man dann irgendwann die richtige Diagnose erhalten hat. Natürlich ist es besser, das sofort zu klären. Aber wenn sofort eben nicht geht, dann ist die eigene Vermutung die beste Arbeitsgrundlage, die man zu dem Zeitpunkt zur Verfügung hat.

Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten, wenn wir 2019 keine Diagnostik zur Verfügung gehabt hätten. Wie wir damit umgegangen wären. Was wir mit dem Begriff, der sich für uns so richtig anfühlte, umgegangen wären. Aber was ich weiß ist, dass es hilfreich gewesen wäre, damit zu arbeiten, selbst wenn wir zu diesem Zeitpunkt keine Diagnostik hätten erhalten können. Dass ich weiß, wie viel Systemarbeit wir in diesen 1.5 Jahren schon gemacht haben, die unser Leben unglaublich viel besser gemacht hat. Selbst ohne Therapeut:in kann man Dinge erreichen.
Ich weiß, hätten wir das alles ganz weit von uns weggeschoben, weil wir uns hätten irren können, dann wären wir jetzt vermutlich an demselben Punkt, an dem wir damals waren. Wir hätten immer noch nichts verstanden. Es wäre immer noch nichts besser geworden. Jetzt, wo die Therapie anfängt, würden wir ganz am Anfang stehen.