Ich darf auf dieser Welt nicht existieren. Immer wieder merke ich das.
„Meinst du echt, man kann Medikamente nehmen lernen? Ich hab immer das Gefühl, manche Leute können das einfach und andere nicht.“
„Man kann es ziemlich sicher lernen, ich kann das auch erst, seitdem ich zehn bin oder so.“
„Aber wie lernt man das?“
„Mit... ganz viel Übung.“
Vor allem mit Gewalt.
Wir konnten nie Tabletten nehmen.
Irgendwann, als wir zehn waren oder so, haben wir es mal wieder versucht und nicht geschafft.
Und unser Vater hatte genug davon. Also hat er die Tabletten genommen, sie in unseren Mund gestopft und Wasser hinterhergekippt bis wir das Gefühl hatten zu ertrinken.
Als wir sie danach trotzdem ausgespuckt haben, hat er uns geschlagen.
Seitdem können wir Tabletten nehmen.
Aber das kann ich nicht sagen, „jedenfalls kann man es lernen, wenn man sonst geschlagen wird“ ist zu viel, vor allem, wenn ein neunjähriges Kind daneben sitzt.
Kinder sind zu klein, um von Gewalt zu erfahren.
Und erst recht nicht von mir, sondern nur von ihren Eltern, zu einem geeigneten Zeitpunkt, wenn sie reif genug sind.
Wenn sie davor von ihrem Vater geschlagen werden, haben sie eben keine Worte dafür.
rurus Schwester hat unseren Plüschoktupus genommen, als wir weg waren.
Ich verstehe das. Sie ist neun und hat ein Plüschtier gesehen und wollte es haben.
Als wir wieder da waren, meinte rurus Mutter: „Wir konnten dich leider nicht fragen.“
Im Endeffekt ist es nur ein Objekt. Das kann man einfach so nehmen, wenn um Erlaubnis fragen aufwendiger wäre, als dass man es in drei Sekunden erledigen könnte.
Mir hat nie irgendetwas gehört.
Wenn ich etwas bestimmtes essen wollte, musste ich es in meinem Zimmer verstecken. Manchmal habe ich mir abends Essen gekocht, weil ich den nächsten Tag lange Schule hatte und am nächsten Morgen war es weg, weil ich es logischerweise im Kühlschrank lagern musste.
Unsere Plüschtiere wurden regelmäßig gegen Wände geschmissen oder auf den Boden.
Yumis (Edel)Steinsammlung ist verschwunden, als wir bei unserem Vater ausgezogen sind.
Als wir uns einen Laptop gekauft haben, mussten wir ihn mit unserer Schwester teilen, vollkommen unabhängig davon, dass wir ihn komplett selbst gekauft und mehrere Jahre darauf gespart hatten.
Es klingt jedes mal übertrieben, wenn ich es sage, aber ich hasse es, wenn Leute unsere Plüschtiere anfassen, ohne nach Erlaubnis zu fragen. Unser Exfreund hat mal unsere Plüschspinne mitgenommen und es fühlte sich an, als hätte er eine Geisel genommen, damit wir nicht Schluss machen können.
Wir haben nämlich nichts.
Wir hatten lange Zeit gar keine Freunde und selbst, als wir welche hatten, sind sie fast alle spätestens nach einem halben Jahr wieder gegangen. Und selbst jetzt, wo wir es schaffen, langjährige Freundschaften zu haben, sind wir trotzdem oft alleine. Weil wir zu viel sind. Grundsätzlich. Selbst ruru geht oft, weil es ihn überfordert und dann haben wir außer unsere Plüschtiere gar nichts mehr.
Und dann hat rurus Schwester sie einfach genommen.
Wir kennen seine Schwester nicht gut, also ist alles, was wir wissen, dass sie regelmäßig Leute schlägt, um zu bekommen, was sie will. Also genau wie unsere Schwester.
Ich hab Angst, dass sie unseren Oktopus auch geschlagen hat.
„Übergriffe dürfen nur in einem sanften Tonfall, mit ausführlicher Erklärung der Grenzverletzung und einem bereitgestellten Raum, in dem die Verletzung wieder gutgemacht werden kann, angesprochen werden“, habe ich irgendwann geschrieben. Ansonsten nimmt einen niemand ernst, man wird nur gehasst - wer emotional reagiert hat keine Rechtfertigung für seine Gefühle.
Und was ist, wenn die Erklärung Gewalt ist und die Person, mit der man redet, ist neun Jahre alt und man hat nicht die Berechtigung, sie damit zu konfrontieren? Dann sagt man eben nichts. Und dann existieren wir eben nicht. Und die Kinder, die Gewalt erleben, ebenfalls nicht und dann denken sie eben, sie sind ganz alleine und erfahren nie, dass es ein Ende geben kann, weil, über Gewalt redet man nicht.
Vor allem nicht vor Kindern.