Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
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Mittwoch, 14. Oktober 2020

#21: Erste Person Plural

In letzter Zeit überlegen wir vermehrt, wie man Menschen so wirklich begreiflich machen kann, was eine DIS zu haben bedeutet. Nicht das Trauma - das versteht in unserem Freundeskreis beinahe jeder nur allzu gut. Sondern das Viele-sein.
Dass wir uns vor allen unseren Freunden und Bekannten "geoutet" haben, ist mittlerweile zehn Monate her. Wir alle sind immer wieder sehr begeistert von einer Freundin (hi!), die ganz natürlich dazu übergegangen ist, Pluralpronomen zu benutzen, wenn sie uns erwähnt und uns den Namen "Flauschis" gegeben hat, um uns irgendwie kollektiv bezeichnen zu können ("Flauschi" war vor der Diagnose unser Spitzname, also wohl am ehesten Melanies und jetzt eben Lanas). Oder von einem Freund (ebenfalls hi!), der oft, wenn er uns anschreibt in unseren Wechsellog schaut (wo wir eine Übersicht darüber führen, wer wann ungefähr draußen ist oder war) und dann die Person namentlich anspricht, die gerade draußen ist. Mit ihm haben wir uns sogar dadurch angefreundet, dass er so viele Fragen über die DIS gestellt hat! Und natürlich von ruru, der für uns alle so viel ist - Beziehungspartner, großer Bruder, bester Freund. Er hat zu jeder Innenperson (die er kennt) ein eigenes Verhältnis.

Natürlich gibt es Unfluffs, die die DIS komplett ignorieren und uns alle mit Lana ansprechen und jede Innenperson, die nicht Lana ist, komplett ignorieren, aber mit denen haben wir gar nicht erst viel zu tun. Stattdessen soll es heute um die Menschen geben, die die DIS einfach nicht richtig verstanden zu haben scheinen, aus welchem Grund auch immer. Die sich viel Mühe geben, aber trotzdem immer wieder dieselben Fehler machen, wie beispielsweise eine Innenperson mit 'Lana' anzusprechen, selbst wenn diese gerade gesagt hat, dass sie nicht Lana ist, oder bei Innenkindern Themen anzusprechen, die definitiv nicht für Kinder geeignet sind. Denen es wirklich leidtut, wenn sie diese Fehler machen, es aber dadurch nicht ändern können, dass die Fehler eben nicht aus Ignoranz entstehen, sondern aus einem grundsätzlichen Nicht-Verstehen der DIS.
"Die Welt ist nicht barrierefrei", hat ruru neulich dazu gesagt: Etwas an einem wird zwar akzeptiert, aber es wird gleichzeitig absolut nicht mitgedacht.

Also versuchen wir an dieser Stelle eine verständlichere Erklärung zu geben, die die DIS eher veranschaulicht als irgendetwas zu erklären. Weil das oft mehr bringt (diese Erklärung richtet sich explizit an Nicht-Systeme):

Stell dir vor, du bist in einer Arbeitsgruppe. So etwas hatte hoffentlich jeder schon, mindestens in der Schule.
Manche Arbeitsgruppen arbeiten gut zusammen, andere überhaupt nicht. Manchmal machen alle ihr eigenes Ding, weil sie die anderen für unfähig halten. Manchmal interessieren sich Teile der Arbeitsgruppe gar nicht für die Arbeit. Manchmal funktioniert auch alles prima, die Arbeit ist gleichmäßig aufgeteilt, alle haben eine Aufgabe.
Alle Arbeitsgruppen haben aber zwei Gemeinsamkeiten: sie haben eine definierte Aufgabe und sie bestehen aus verschiedenen Menschen, mit verschiedenen Ansichten und Meinungen, Persönlichkeiten und Vorlieben, Erinnerungen und Erfahrungen, die alle in die Erfüllung der Aufgabe mit einfließen. Das ist gleichzeitig gut und schlecht, denn jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Wenn ihr es schafft, die Aufgaben optimal aufzuteilen und jeder seine Stärken verwenden kann, dann könnt ihr eure Aufgabe vermutlich sehr gut und ohne Probleme bewältigen. Wenn nicht, dann ist das Ergebnis vermutlich nicht so gut.

Eure Arbeitsgruppe hat ein Problem: zu jeder gegebenen Zeit kann ausschließlich eine(r) von euch an eurem Projekt arbeiten. Andere Personen können maximal Ratschläge geben - allerdings dürft ihr euch nicht in demselben Raum aufhalten. Deshalb habt ihr zum Kommunizieren ein kaputtes Telefon bekommen, welches ihr erst reparieren müsst. Niemand in eurer Gruppe weiß, wie man Telefone repariert und generell wissen das nur sehr wenige Menschen auf der Welt, bei denen man dann lange Wartezeiten hat, um das Telefon zu reparieren. Zudem fällt das Telefonsignal in eurer Stadt regelmäßig aus. Ansonsten könnt ihr über Notizzettel kommunizieren, diese kann jemand anders aber erst dann lesen, wenn er sich selbst im Projekt-Raum befindet.
Leider dürft ihr auch nicht entscheiden, wer gerade an dem Projekt arbeiten darf. Dies wird per Zufall ausgewählt. Zwar ist die Chance, dass eine geeignete Person ausgewählt wird, über 50%, aber ihr könnt euch eben nie sicher sein. Wenn ihr Pech habt, arbeitet eine Person an dem Projekt, die überhaupt nicht gut für den Teil, den ihr gerade machen wolltet oder müsst, geeignet ist.
Das macht natürlich eure abgesprochene Aufgabenverteilung zunichte. Jetzt muss immer derjenige, der gerade da ist, an der Aufgabe arbeiten, egal, ob er die Sachen gut kann oder nicht. Viele Sachen bleiben auch liegen, wenn jemand sie einfach überhaupt nicht kann; die muss dann jemand anders nachholen.

Um das Ganze zu erleichtern, dürft ihr Freunde fragen, ob sie euch helfen. Aber dadurch, dass ihr ja nicht wisst, zu welcher Zeit ihr euch gerade um das Projekt kümmern könnt, muss manchmal einer eurer Arbeitspartner mit euren Freunden reden. Leider sieht dieser für sie aber immer aus wie ihr. Und weil das so seltsam ist, verstehen eure Freunde manchmal nicht, dass ihr das nicht seid.
Auf der anderen Seite seht ihr, immer wenn ihr mit den Freunden eurer Arbeitspartner redet, stattdessen aus wie diese. Also nennen euch manche die ganze Zeit Paul, weil eurer Arbeitspartner so heißt. Dabei heißt ihr gar nicht Paul. Das sagt ihr ihnen auch, aber beim nächsten Treffen haben sie es scheinbar schon wieder vergessen. Und dann behandeln sie euch außerdem, als wärt ihr seit Jahren die besten Freunde - dabei habt ihr euch gerade erst vor fünf Minuten kennengelernt. Und alles nur, weil ihr ausseht wie ihr Freund Paul. Das ist echt frustrierend.
Manche verstehen es aber auch und am Ende freundet ihr euch sogar miteinander an und dadurch ist es dann irgendwie egal, wer gerade da ist, weil ihr euch ja ohnehin alle super versteht.

Die Hälfte eurer Arbeitsgruppe ist übrigens schwer traumatisiert, die andere Hälfte hat andere psychische Krankheiten und mindestens ein Drittel ist unter 10 Jahren alt.
Viel Spaß.
Euer Projekt heißt Leben.

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