Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
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Donnerstag, 11. März 2021

#43: Dungeons, Dragons & Dissoziation

Heute mal ein ganz anderes Thema: vor etwa einem Jahr haben wir angefangen, uns für Dungeons & Dragons/Roleplay allgemein zu interessieren. Allerdings hatten wir zu dem Zeitpunkt schon mehrfach gehört, dass andere Systeme teilweise ihre DnD-Charaktere introjected hatten.
Eine kurze Erklärung zu Introjects: Introjects sind Innenpersonen, die quasi ein Abbild einer fiktiven oder realen Person sind. Darüber gibt es, soweit wir wissen, nicht sehr viel Literatur, aber in unserem Verständnis entsteht das dadurch, dass das Gehirn sich in einer bestimmten traumatischen Situation etwas sehr bestimmtes wünscht, manchmal eben auch einen sehr bestimmten Menschen. Und dann entsteht eben eine Innenperson, die dem ähnlich ist.

Wir hatten das also schon öfter gehört und hatten Angst, dass das bei uns auch passieren würde. Natürlich braucht es für die Entstehung einer neuen Innenperson immer noch eine traumatische oder zumindest extrem stressige Situation, allerdings kann so etwas ja immer passieren. Es ist natürlich nicht sonderlich wahrscheinlich, wenn man, wie wir, in äußerer Sicherheit lebt, aber möglich ist eben alles.
Als wir uns wegen Corona aber immer einsamer fühlten, beschlossen wir, es doch mal auszuprobieren und ich gab mir sehr viel Mühe einen Charakter zu schreiben, der verschiedene Persönlichkeitsmerkmale, die wir im System schon breitflächig haben, abdeckte, weil ich mir sicher war, dass unser Gehirn so jemanden gar nicht brauchen würde: wir hatten solche Innenpersonen ja schon. Das ist jetzt über ein halbes Jahr her und in dieser Zeit kam auch keine einzige Situation vor, in der wir überhaupt eine neue Innenperson gebraucht hätten.

Gerade schreiben wir zum ersten mal einen Charakter, der tatsächlich absolut nicht wie irgendjemand von uns ist. Klar: bestimmten Innenpersonen ist er ähnlicher als anderen, viele Eigenschaften teilt er sich auch mit einigen Innenpersonen. Das ist wohl etwas, das man nicht vermeiden kann, wenn man eine DIS hat. Aber trotzdem hat er ganz fundamental andere Ansichten und eine fundamental andere Lebensrealität. Aber ich habe überhaupt keine Angst mehr. Tatsächlich sehe ich das ganze mittlerweile als große Chance:

wenn man übt, andere Menschen zu spielen, übt man zwangsläufig auch, wie andere Menschen zu denken. Ich glaube, das ist etwas, was für eine DIS unglaublich nützlich sein kann. Sich in andere Menschen reinversetzen, ihre Gedankengänge wirklich nachzufühlen, ihr Verhalten zu verstehen. Ich habe als Therapieziel unter anderem gesetzt, alle anderen so gut kennenzulernen, dass ich immer Entscheidungen treffen kann, mit denen die Mehrheit zufrieden ist. Wir treffen zwar Entscheidungen, wenn möglich, demokratisch, allerdings ist es oft schlichtweg dadurch nicht möglich, dass man wenig Zeit für Entscheidungen hat. Da kann man manchmal von niemandem Rückmeldung erhalten oder nur von einigen wenigen Innenpersonen - zumindest bei unserer eher schlechten inneren Kommunikation.
Dadurch, dass ich sehr wenig Amnesie habe, kenne ich aber viele Innenpersonen: zumindest ihr Verhalten. Ihre Gedanken natürlich nicht. Aber wenn ich mich da reindenken kann (und natürlich Rücksprache halte), dann kann ich vielleicht Entscheidungen treffen, die annährend das sind, was diese Innenperson wollen würde.

Meine Angst habe ich auch abgelegt: alle unsere Charaktere sind Personen, die ich gerne in meinem Leben hätte. Wenn etwas erneut traumatisches geschieht, dann entsteht ohnehin höchstwahrscheinlich eine neue Innenperson. Ob diese dann einem der Charaktere nachempfunden ist oder nicht, spielt da im Endeffekt dann keine Rolle. Die einzige Rolle, die es spielt, ist, dass es auf Außenpersonen dann vielleicht noch mehr so wirken würde, als wäre die DIS im Prinzip nur ein zu groß geratenes Roleplaying-Hobby. Aber Menschen denken ohnehin, was sie denken wollen. Vermutlich werden sie das auch denken, einfach, weil ich DnD als Hobby angeben würde.

Und ich habe etwas gelernt: Dissoziation ist kein ausschließlich einschränkender Mechanismus. Dass ich von mir selber dissoziieren kann, erlaubt mir, meine Charaktere zu fühlen, als wären sie ich. Einfach so. Ich muss mir keine Mühe geben. Es ist das normalste der Welt, in ihren Gedanken zu sein. Das macht mich zu keiner besseren Roleplayerin - ich erlange nicht plötzlich Fähigkeiten, die ich nicht habe. Aber es erlaubt mir, in einem von mir distanzierten Umfeld Gefühle zuzulassen, die ich normalerweise, für mich, nicht zulassen kann. Ich glaube, das ist unglaublich wichtig. Ich glaube tatsächlich, dass das unglaublich hilfreich sein kann.
Ich merke zum Beispiel, dass Wut auch wichtig sein kann. Um Menschen zu beschützen. Um seine Grenzen wahrzunehmen und einzufordern. Es ist kein Gefühl mehr, dass mir fremd ist, weil ich mich grauenvoll fühle, solange ich es länger als eine Sekunde spüre und deshalb um jeden Preis versuche, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich fühle mich danach zwar trotzdem körperlich total erschöpft, aber eben nicht traumatisiert: ich dissoziiere nicht. Es ist nicht überfordernd. Es ist einfach da und wenn ich will, kann ich die Session beenden und dann hört es direkt wieder auf. Oder man springt drei Tage weiter und denkt sich 'hey, mein Charakter wäre jetzt nicht mehr wütend' und puff, ist es weg.

Ich habe die Theorie, dass das mit Trauma-Aufarbeitung genauso funktionieren könnte, auch wenn ich es nicht ausprobiert habe. Dass man sein Trauma nimmt und weit genug von sich entfernt in einem anderen Charakter ansiedelt, sodass es dasselbe Thema behandelt, aber ohne die Erinnerungen, ohne die Zusammenhänge, ohne, dass man es ansieht und sofort an alles denken muss.
Und dann tut es immer noch weh. Dann tut es weh, dass Mae [unsere Druidin] sehr wichtige Menschen verloren hat, aber es tut eben in diesem Universum weh und nicht in unserem und es hat nichts damit zu tun, dass wir wichtige Menschen verloren haben, der Schmerz ist nur derselbe. Vielleicht, ganz vielleicht, kann es einfacher werden, sich damit zu beschäftigen, wenn man in einem fiktiven Szenario gelernt hat, dass man auch lernen kann, damit umzugehen. Das ist momentan nur meine Therorie.
Ich fand es trotzdem wichtig, es zu erwähnen.

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