Auf diesem Blog geht es um Trauma, Traumafolgestörungen und unser Leben damit.
Bitte achtet auf eure Grenzen beim Lesen der Texte.

Sonntag, 2. Mai 2021

#51: Vielesein ist positiv

Viele sein ist nichts schlimmes. Da, ich hab's gesagt. Das sagen wir auch allgemein. Von Anfang an (nach der Diagnose) haben wir gesagt, dass das Vielesein für uns eher positiv ist als negativ. Ja, sogar, dass wir dankbar sind dafür, kam ein paar Monate später hinzu. Wo gibt's denn so was?
Ich kann nicht zählen, wie viele negative Reaktionen wir deswegen bekommen haben, und noch viel weniger kann ich zählen, wie oft unser Erleben in Texten von anderen Systemen kleingemacht wurde, in denen es aber nicht spezifisch um uns ging, sondern allgemein um diese "definitiv gelogenen Systeme", die meinen, es wäre ja eigentlich echt nice ein System zu sein. Das könnte man gar nicht so empfinden, wenn man wirklich eine DIS hat.

Mittlerweile habe ich, zumindest glaube ich das, herausgefunden, was das Problem ist.
Manchmal haben Menschen monatelang Schmerzen, rennen von Arzt zu Arzt zu Arzt ohne Erklärung und dann bekommen sie endlich Krebs diagnostiziert und dann weinen sie erstmal und hassen ihr Leben, weil sie jetzt Krebs haben und das ist ziemlich schrecklich. Das ist eine ziemlich normale Reaktion.
Bei uns ist das nur komplett anders. Wir würden eher den Arzt anlächeln und sagen: "Ja, wunderbar, dann können wir jetzt ja endlich was dagegen machen!" Denn den Krebs hatte man ja vorher schon. Nur gibt es endlich eine Therapiemöglichkeit, weil eine Diagnose existiert.
Nun ist eine DIS kein Krebs und auch generell keine Krankheit, aber ich hoffe, der Ausgangspunkt meines Gedankengangs ist klar geworden.

Viele sein ist nichts schlimmes. Es ist nicht besser oder schlechter als Einzeln sein. Wenn man das Trauma, das zur Entstehung geführt hat, rausnimmt (denn das ist aus Gründen eine komplett separate Diagnose), dann ist es erstmal nur ein anderer Seinszustand.
Viele Systeme kommen am Anfang nicht mit ihrer Diagnose klar, soweit ich das beurteilen kann. Zumindest der Host und/oder das Alltagsteam. Das liegt aber, wie uns das erklärt wurde, hauptsächlich daran, dass eine DIS-Diagnose gleichbedeutend ist mit der Aussage: "Du hast in deiner Kindheit sehr viel Trauma erlitten." Woran sich aber gar nicht erinnert wird.
Das ist die Stelle mit dem Krebs-Beispiel. Für viele Menschen ist es extrem schlimm zu erfahren, dass sie Trauma erlebt haben.
Für uns war es das nicht. Das Trauma war ja schon da. Der Gedankengang war eher: "Ach, deswegen geht es mir so schlecht. Jetzt, wo ich das weiß, kann ich endlich was dagegen machen!"

Wir empfangen "neue" (unbekannte) Systemmitglieder grundsätzlich mit offenen Armen. Von Anfang an. Neulich haben wir gelesen, dass das gar nicht geht, weil mehr Systemmitglieder ja zwangsläufig auch mehr Trauma heißt und das kann man ja nicht positiv finden.
Und ja. Trauma kann man nicht positiv finden. Deshalb ist es auch vollkommen verständlich, wenn die erste Reaktion ist, Systemmitglieder abzulehnen. Man will nicht traumatisiert sein. Wirklich nicht. Niemand will das.
Nur ist das nicht unsere Lebensrealität. Das Trauma ist ja nicht da, weil man jetzt dieses Systemmitglied kennengelernt hat. Es war schon viel früher da. Deshalb existiert dieses Systemmitglied ja überhaupt. Und das fühlen wir eben, so in uns drinnen. Andere Menschen fühlen es eben nicht, weil es (noch) wichtiger für sie ist, möglichst weit weg von ihrem eigenen Trauma zu sein.
Und ja. Auch wir fühlen und denken manchmal Sachen wie: "Ich bin gar nicht wirklich traumatisiert. Und die DIS bilde ich mir auch nur ein. Genau wie das gesamte Trauma." Aber gleichzeitig ist seit Jahren der größte Punkt, an dem wir arbeiten, unsere Trauma-Akzeptanz. Andere Menschen haben andere Prioritäten. Das hier war unsere.

Wir sind nicht unser Trauma. Wir sind durch Trauma entstanden, aber dass wir jetzt da sind, zeigt nicht mehr Trauma auf, das eigentlich nicht schon vorhanden war. Es ist alles schon passiert. Wir können genauso gut mit den Folgen leben.
Und ja. Vielleicht ist das für andere Menschen schwieriger und das ist vollkommen okay. Das möchte ich immer wieder betonen. Ich möchte nicht erreichen, dass Menschen sich schlecht fühlen, weil sie (noch) viel mit Akzeptanz zu kämpfen haben. Ich möchte erreichen, dass Systeme aufhören, sich gegenseitig ihre Existenz abzusprechen, nur weil ein System anders ist als sie.

Ja. Wir haben weniger Amnesie.
Ja. Wir lieben uns gegenseitig. So gut wie man relativ fremde Menschen eben lieben kann.
Ja. Vielleicht entspricht unser Erleben nicht der Norm.
Aber wir haben trotzdem eine DIS und wir stigmatisieren nichts oder romantisieren Trauma, nur weil das für uns in Ordnung ist.

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.

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